Im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine müsse man einen kritischeren Blick auf die Gründungsnarrative der EU werfen, so Catherine De Vries. Denn der Krieg stelle diese infrage: Nicht nur sei die Hoffnung auf ein friedliches Nachkriegseuropa erschüttert worden. Auch die Vorstellung, die europäisch-russischen Wirtschaftsverflechtungen und ein Netz diplomatischer Abkommen würden militärische Wege der Konfliktaustragung verunmöglichen, habe sich nicht bewahrheitet. Schließlich sei zudem unklar, ob die Krise in der Ukraine auch zu neuen Fortschritten bei der europäischen Integration beitrage oder nicht gar
Dass Staaten, Organisationen oder allgemein Gruppen Gründungsnarrative und Meistererzählungen haben, ist dabei nichts EU-spezifisches, sondern ein globales Phänomen.
Die vier von De Vries identifizierten Meistererzählungen hätten jedoch blinde Flecken, die den Blick auf die notwendigen Reformen in der EU verstellen würden. Das Friedensnarrativ etwa sieht die EU als Lerneffekt aus den Schrecken des Weltkriegs. Dabei werde jedoch ausgeblendet, dass europäische Staaten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts koloniale Herrschaftspraktiken verteidigten, etwa Frankreich in Algerien oder Portugal in Angola. Zum anderen würden mit diesem Narrativ die verschiedenen Perspektiven auf die EU in den Mitgliedstaaten ignoriert, die sich nicht auf ein Friedensprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg reduzieren ließen.
Auch das Krisennarrativ, das die institutionelle Stärkung der Union durch die Bewältigung von Krisen betont, verkenne, dass Integrationsfortschritte in der Folge keineswegs zwangsläufig sind. Und sollten sie tatsächlich eintreten, können sie hochgradig ungleich ausfallen. In der EU-Forschung wird dies als Differenzierung statt vertiefte Integration bzw. Gleichzeitigkeit von Integration und Desintegration bezeichnet.
Damit verbunden ist auch die Erschütterung des Verflechtungsnarrativs, also die Hoffnung, dass insbesondere durch vertiefte Handelsbeziehungen Frieden und eine gewisse Angleichung der politischen Kulturen in Europa erreicht würden. Wie die Beziehungen zwischen den Nord- und Südländern der Eurozone oder die EU-Russland-Beziehungen verdeutlichen, habe wirtschaftliche Verflechtung jedoch weder intern noch extern zu einer nachhaltigen politischen Befriedung geführt.
Schlussendlich, so de Vries, führe auch das Verrechtlichungsnarrativ, also die Idee, das Recht ersetze politische Konflikte, in die Irre. Zwar stimme es, dass die EU aufgrund der Notwendigkeiten des ausgeprägten Binnenmarkts durch ein tief integriertes Justiz- und Institutionengefüge gekennzeichnet sei. Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Wirtschaftsraums habe tatsächlich ein starkes europäisches Rechtssystem entstehen lassen. Allerdings sei die Vorstellung, dass Verrechtlichung die Austragung harter Interessenkonflikte überflüssig mache, abwegig. De Vries weist darauf hin, dass auch die vermeintlich neutrale Regulierung der EU Gewinner und Verlierer produziere. Große Unternehmen etwa, die den europäischen Markt dominieren, würden versuchen, ihre Macht auch politisch zu nutzen, kleinere Unternehmen und marginalisierte Gruppen hingegen ihren Unmut vor allem in den nationalen Politikarenen kundtun. Die Lösung, schlägt der Politikwissenschaftler Simon Hix vor, liege nicht zwangsläufig in mehr Gesetzen, sondern einer Politisierung und Demokratisierung der EU.
Während oft über die institutionellen und geopolitischen Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine für die EU diskutiert wird, macht De Vries’ Intervention auf die diskursive Dimension der europäischen Einigung aufmerksam. Die vier Meistererzählungen der EU über sich selbst sind Teil der „normativen Macht“ Europa, wie sie von Politikern dargestellt und von Wissenschaftlern kritisiert worden ist.