Statistische Erfassungen über den Sprachgebrauch der Bevölkerung gibt es im deutschsprachigen Raum erst seit dem 19. Jahrhundert. Um herauszufinden, welche Menschen davor welche Sprachen gesprochen und geschrieben haben, sind Nachforschungen in historischen Quellen wie Urkunden, Briefen und Inschriften erforderlich. Jana-Katharina Mende hat einige Dokumente gesichtet und verfolgt in ihrem Beitrag für das Handbuch Mehrsprachigkeit die Multilingualität in Deutschland vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Eine zentrale Erkenntnis, die aus dem historischen Blickwinkel hervorgeht und auch in der Gegenwart Bestätigung erfährt: Wie Mehrsprachigkeit in einer Gesellschaft gelebt wird und wer warum welche Sprachen spricht, ist eng mit den vorherrschenden Machtstrukturen verwoben.
Terminologisch unterscheidet Mende deshalb in ihrem Beitrag zwischen vertikaler und horizontaler Mehrsprachigkeit: Erstere beschreibt eine Hierarchie und den Einfluss von Macht durch gewisse Sprachen (z.B. Amtssprachen), während letztere auf einen (ausgewogenen) Bi- oder Multilingualismus einer Region oder einer Person referiert. Darüber hinaus spielt auch immer wieder die Unterscheidung von elitärer und nicht-elitärer Mehrsprachigkeit eine Rolle: sogenannte Bildungssprachen mit hohem Prestige sind oftmals nicht die Sprache der gesamten Gesellschaft, sondern werden nur von einem Teil der Bevölkerung verwendet, der sich als Elite versteht.
Die Zeitreise durch das mehrsprachige Deutschland und seine Sprachgemeinschaften beginnt im Mittelalter mit Latein als Sprache der Eliten, darunter dem Klerus und den Gelehrten: Wer im Mittelalter schreiben konnte, schrieb auf Latein. An Universitäten im deutschsprachigen Raum war Latein bis ins 19. Jahrhundert Unterrichtssprache und blieb auch im Anschluss als Wissenschaftssprache von Bedeutung. Als Volks- und Regionalsprachen waren seit dem Mittelalter niederdeutsche und hochdeutsche Dialekte sowie Friesisch, Sorbisch, Jiddisch und Romanes in den jeweiligen Gemeinschaften und Gebieten vertreten. Die Autorin beschreibt, dass es sich zunächst um eine horizontale Mehrsprachigkeit handelte –
Ein weiterer Grund für Mehrsprachigkeit jenseits von den heimischen Sprachgemeinschaften waren Reisen. Vor allem Handwerksgesellen, Kaufleute und Pilger erlernten auf ihren Reisen verschiedene Sprachen wie Italienisch, Spanisch und Französisch, berichtet Mende. Auch die Themen Migration und Flucht sind schon im 16. und 17. Jahrhundert Anlass für Mehrsprachigkeit. So flohen etwa Calvinistinnen und Calvinisten aus Frankreich vor der Gegenreformation in den niederdeutschen Sprachraum.
Französisch war im 18. Jahrhundert die wichtigste Fremdsprache des deutschen Sprachraums und genoss sehr hohes Prestige. Besonders einflussreich hierfür waren die höfische Kultur sowie französischsprachiges Theater und Literatur. Zudem war Französisch die Sprache der Aufklärung.
Während im Humanismus eine altsprachliche Mehrsprachigkeit mit Latein, Griechisch und Hebräischkenntnissen als erstrebenswert galt (die jedoch nur für eine Minderheit zugänglich war), trat bereits im 17. Jahrhundert deutliche Kritik am Konzept der Mehrsprachigkeit auf: „In der Barockzeit überwiegt dann die Kritik an Mehrsprachigkeit, die sich am deutlichsten als Widerstand gegen das Französische, Forderung nach Sprachreinheit und Arbeit der Sprachgesellschaften an der Etablierung eines deutschen Standards greifen lässt.“ Diese Tendenzen verstärken sich laut Mende im 18. und 19. Jahrhundert: „Eine einheitliche Sprache soll dann im Sinne der Aufklärung Zugang zu Kunst und Wissenschaft auf Deutsch ermöglichen […]. Die aufgeklärte, rationalisierte Annahme, dass jeder Mensch über eine Sprache (und nicht mehr) verfügt, begründet das moderne Einsprachigkeitsparadigma, das sich schon in der Barockzeit zeigt, aber besonders im 19. Jahrhundert immer stärker zur nationalen Identitätskonstruktion eingesetzt wird.“
Das Ziel der Sprachpolitik des 19. Jahrhunderts war eine einheitliche deutsche Nationalsprache. Darunter litten besonders Sprecher*innen von Dialekten und Minderheitensprachen. Die einsprachige Ideologie erreichte einen Höhepunkt, als die Nationalsozialisten die Rechte von Sprachminderheiten einschränkten und Sprachverbote, darunter z.B. ein Verbot des Sorbischen, verhängten. Gleichzeitig waren Konzentrationslager „Orte erzwungener Mehrsprachigkeit“, in denen sich laut dem Schriftsteller Tadeusz Borowski ein sogenanntes „Krematoriumsesperanto“ als Lagersprache entwickelte.
Seit der Nachkriegszeit kam es aufgrund der Migration von sog. Aussiedler*innen und Gastarbeiter*innen u.a. zu
Mit ihrem Handbuchkapitel präsentiert Jana-Katharina Mende einen umfassenden Einblick sowohl in die historischen Gegebenheiten als auch in aktuelle Themen, die Mehrsprachigkeit in Deutschland betreffen. Sie kommt zum Schluss, dass Deutschland immer mehrsprachig war – welche Sprachen gesprochen werden und unter welchen gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen dies geschieht, unterliegt jedoch einem konstanten Wandel. Dass eine Sprache der Eliten wie Latein oder später Französisch viele Menschen exkludiert, wird zwar erwähnt, aber nicht weiter problematisiert. Es bleibt offen, welche Konflikte sich zwischen den unterschiedlichen Gemeinschaften durch Sprachbarrieren entfacht haben mögen und welche Auswirkungen diese auf die Gesellschaft als Ganzes hatten. Der Blick in die Vergangenheit lohnt sich trotzdem, vor allem im Kontext des vorherrschenden monolingualen Habitus: Mehrsprachigkeit wird an vielen Stellen als Besonderheit und Herausforderung angesehen, und die Mehrsprachigkeit mancher Bevölkerungsgruppen wird primär als Problem dargestellt. Hier ist es hilfreich, sich die Tradition der Mehrsprachigkeit zu vergegenwärtigen. Durch die Übersicht der sprachlichen Vielfalt im deutschsprachigen Raum wird deutlich, warum viele Linguist*innen die Idee eines einsprachigen Deutschlands als Mythos