Wie internationale Kooperation Territorialstreitigkeiten befrieden kann

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Wie internationale Kooperation Territorialstreitigkeiten befrieden kann

»A Diplomatic Option To Avoid Endless War In Ukraine«

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 11.01.2023

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 11.01.2023

Forderungen nach einer Verhandlungslösung im Krieg zwischen Russland und der Ukraine bleiben meist abstrakt. Auf der Suche nach gangbaren diplomatischen Formaten werden A. Dirk Moses und Jessie Barton-Hronešová in der Geschichte fündig. Sogenannte Internationale Territorialverwaltungen hätten schon oft als Blaupause für die Beilegung blutiger Territorialkonflikte gedient. Auch jetzt könnten sie unvereinbar erscheinenden Positionen einen Weg in den Frieden aufzeigen.

Hinter Internationalen Territorialverwaltungen (international territorial administrations, ITAs) steckt die Idee, Gebiete, auf die zwei oder mehr Staaten Souveränitätsansprüche erheben, unter internationale Verwaltung zu stellen.1 In Europa kamen ITAs in einigen Regionen des ehemaligen Jugoslawiens zum Einsatz, etwa in Kroatien oder im Kosovo. Aber auch in West-Guinea in den 1960er Jahren sowie später in Kambodscha und Osttimor übernahmen internationale Akteure zwischenzeitlich die Verwaltung umkämpfter Territorien. Die historischen Spuren heutiger ITAs reichen noch weiter zurück. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Freie Stadt Krakau gemeinsam von Österreich, Preußen und dem russischen Zarenreich regiert. Internationale Fremdverwaltung erfuhren später so unterschiedliche Gebiete wie Shanghai, Kreta und Tanger.

In zahlreichen Fällen führte die Einrichtung von ITAs durchaus zur Befriedung eines Konflikts und zu einem Ende der Gewalt. Moses und Barton-Hronešová weisen jedoch darauf hin, dass sich die Konfliktbeilegung durch ITAs wesentlich schwieriger gestaltet, wenn ein expansionistischer oder revisionistischer Staat involviert ist. Dies ist beim gegenwärtigen russisch-ukrainischen Krieg der Fall. Noch komplizierter: Bei Russland handelt es sich um eine Atommacht und ein Mitglied des UN-Sicherheitsrates, der laut Artikel 24 der UN-Charta für die Einrichtung von ITAs verantwortlich ist. Trotzdem steht für Moses und Barton-Hronešová fest: Der Versuch der Einrichtung von ITAs sei weniger risikoreich als die anvisierte militärische Niederlage einer nuklear bewaffneten Großmacht.

Im Moment sei es allerdings wenig wahrscheinlich, dass die zwischen Russland und der Ukraine umstrittenen Territorien entmilitarisiert und weder von Russland noch von der Ukraine, sondern von einem internationalen Ensemble aus Ländern und Organisationen kontrolliert werden. Die Voraussetzung für ein derartiges Übereinkommen wäre, dass beide Länder bereit wären, eine für sie beide derzeit hochgradig unattraktive Lösung zu akzeptieren.

Zudem hätte die Einrichtung von ITAs in der Ukraine nicht nur Vorteile. Erstens erforderten sie eine umfassende und tiefe Einbindung mehrerer großer Staaten und internationaler Organisationen. Nur so könne sichergestellt werden, dass zuvor getroffene  Vereinbarungen eingehalten werden. Statt also wie im bisherigen Verlauf des Krieges von außen zu moderieren und eine Seite militärisch zu unterstützen oder im Geheimen diplomatische Brücken zu bauen, müssten externe Akteure direkt und offen in die Souveränitätsansprüche von Staaten eingreifen, die sich zudem miteinander militärisch im Konflikt befinden. Zweitens weist die Forschung darauf hin, dass ITAs in einer Kontinuität zu kolonialen Instrumenten der Herrschaftsausübung stehen. Die vom 19. bis weit ins 20. Jahrhundert beobachtbare Praxis kolonialer Treuhandschaften, Protektorate und Mandatsgebiete führt direkt zum „modernen” diplomatischen Instrument der ITAs. Im Falle ihrer Anwendung würde die Weltgemeinschaft Stabilität und Frieden über nationale Souveränität und territoriale Integrität stellen.

Moses und Barton-Hronešová räumen ein, dass es sich derzeit (Stand: Dezember 2022) noch um einen radikal anmutenden Vorschlag mit geringer Aussicht auf Erfolg handele. Zahlreiche Fragen müssten verhandelt werden, die derzeit für beide Kriegsparteien Tabuthemen sind: Wäre eine entsprechende ITA nur transitorisch und würde von einer Volksabstimmung abgelöst werden? Stünde am Ende einer ITA eine autonome Region innerhalb der Ukraine? Oder besteht gar eine Chance auf einen Freistaat Krim als neuartiges Subjekt im Völkerrecht – mit einer Regierung, die sowohl von der Ukraine als auch Russland unabhängig wäre?

Auch wenn derlei Szenarien im Moment wenig realistisch erscheinen, bringt der Beitrag historisch erprobte diplomatische Instrumente zur Sprache, die bisher nicht in Erwägung gezogen werden. Gleichzeitig steht für Moses und Barton-Hronešová die zentrale und tragische Vorbedingung fest, unter der die Ukraine oder Russland überhaupt die Einrichtung von ITAs im Donbass oder auf der Krim in Erwägung ziehen würden: Russland müsste kurz vor einer absoluten Niederlage stehen und die menschlichen Kosten der Rückeroberung von Territorien müssten für die Ukraine ins Unerträgliche wachsen.

Fußnoten
1

Eine kommentierte Bibliographie der Forschungsliteratur zu ITAs bietet Ntina Tzouvala: International Territorial Administration. In: Anthony Carty (Hrsg.). International Law. Oxford Bibliographies. Oxford University Press, New York 2012, ISBN9780199796953. 10.1093/obo/9780199796953-0185

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