Als Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine zeichnen sich zwei grundlegende sicherheits- und geopolitische Umbrüche ab. Zum einen erleben wir eine zunehmende Verlagerung der Sicherheitspolitik in Europa hin zu mehr Abschreckung und territorialer Verteidigung. Das geht mit einem Wiedererstarken der Nato einher: Schweden und Finnland haben im Mai 2022 mit dem Nato-Beitrittsprozess begonnen, am 4. April 2023 trat Finnland der Militärallianz bei. Deutschland kündigte eine „Zeitenwende“ an, die eine Neuausrichtung seiner bisherigen Militär-, Sicherheits- und Energiepolitik bedeutet. Zum anderen erleben wir geopolitisch ein Auseinanderdriften des Westens und des sogenannten Globalen Südens. Während sich der Westen weitgehend hinter die Ukraine stellt, ihr mit Waffenlieferungen hilft und Sanktionen gegen Russland verhängt hat, wird die richtige Antwort auf die russische Invasion in vielen Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika, aber auch in den arabischen Ländern, anders gesehen. Die Vereinigten Arabischen Emirate begründeten ihre neutrale Position etwa damit, dass eine Parteinahme die Gewalt fördern würde, statt eine politische Lösung zu unterstützen. Diese Position stößt auch in anderen Ländern des Globalen Südens auf Resonanz.
In der aktuell fluktuierenden Geopolitik entwickelt sich der Globale Süden Stephan Klingebiel zufolge zu einem „hart umkämpften strategischen Partner“. Das gilt sowohl für China und Russland auf der einen als auch für die westlichen Staaten auf der anderen Seite.
Die Abstimmung in der UN-Vollversammlung am 12. Oktober 2022, die die illegale Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland mit großer Mehrheit verurteilte, wurde in den westlichen Medien als „Zeichen einer internationalen Allianz gegen Putin“ bezeichnet, die eine „klare internationale Isolation Russlands“ bedeute. Am 23. Februar 2023 stimmte erneut eine klare Mehrheit der UN für eine Resolution, die Russland zum Rückzug seiner Truppen forderte. Der ukrainische Präsident Selenskyj bewertete dies als ein „starkes Zeugnis der Solidarität der Weltgemeinschaft“.
Doch nicht alle sehen das UN-Abstimmungsergebnis als ein Zeichen der globalen Geschlossenheit.
In Deutschland sorgte Ende Januar 2023 beispielsweise die Position des brasilianischen Präsidenten Lula zum Ukraine-Krieg für Enttäuschung und Unmut. Bei der UN-Abstimmung gehörte Brasilien noch der Mehrheit an, die Russland verurteilte. In der Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz deutete Lula jedoch an, dass die Ukraine für den Krieg mitverantwortlich sei, denn: „Wenn einer nicht will, streiten zwei nicht“. Dem deutschen Wunsch nach Munition für die Gepard-Panzer erteilte der brasilianische Staatschef eine Absage und betonte, dass sein Land sich weder direkt noch indirekt an dem Krieg beteiligen werde. Dem brasilianischen Politikwissenschaftler Giorgio Roman Schutte zufolge hat der Krieg in der Ukraine deutlich gezeigt, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs die Wahrnehmungen und Bestrebungen des Globalen Südens überhaupt nicht verstehen. Dazu gehört, dass die Nato-Staaten und ihre Verbündeten in anderen Teilen der Welt vom Globalen Süden nicht unbedingt als die Stimme einer Weltgemeinschaft, die die regelbasierte internationale Ordnung respektiert, wahrgenommen werden.
Die Welt bewegt sich auf eine multipolare Konstellation zu, deren Konturen bislang allerdings nur ansatzweise erkennbar sind: China und Russland fordern die Dominanz des Westens offen heraus, während große regionale Player wie Indien, Brasilien, Indonesien oder Südafrika versuchen, in dieser neuen Konfrontation ihre Autonomie zu bewahren.
Auch Russland hat seine Diplomatie in Asien, Afrika und Lateinamerika intensiviert. Die am 31. März 2023 veröffentlichte, aktualisierte Konzeption der Außenpolitik Russlands räumt dem Ausbau der Beziehungen zum Globalen Süden sowie regionalen Dialogplattformen im asiatisch-pazifischen Raum, dem Nahen Osten, Afrika und Lateinamerika Priorität ein. Bereits im ersten Jahr des Kriegs stattete der russische Außenminister Moskaus regionalen Verbündeten mehrere Besuche ab. Anhand dieser Reisen kann nachgezeichnet werden, wie Russland versucht, sich im Kontext der globalen Veränderungen, die durch den Krieg in der Ukraine beschleunigt wurden, neu zu positionieren.
Auf multilateraler Mission in Südostasien
Während die Welt am Abend des 2. August 2022 mit Spannung die Taiwan-Reise der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi verfolgte, brach der russische Außenminister zu einem offiziellen Besuch nach Myanmar auf.
Lawrow zufolge nimmt das Land eine „ausgewogene und verantwortungsbewusste Haltung“ zur Ukraine-Krise ein. Myanmar sei sich bewusst, dass die Ursachen für die derzeitige Situation in dem Wunsch des Westens liegen, „allen seinen Willen zu diktieren, indem er sich überall auf der Welt Freizügigkeit zunutze macht.“ Myanmar ist das einzige Mitgliedsland im Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN), das das Vorgehen Russlands in der Ukraine rhetorisch unterstützt hat. Am 25. Februar sagte der Militärsprecher General Zaw Min Tun, dass „Russland Maßnahmen ergreift, um, erstens, seine eigene Souveränität zu stärken und, zweitens, der Welt zu zeigen, dass es eine Weltmacht ist“. Dennoch stimmte der UN-Vertreter Myanmars für die Resolution vom 2. März 2022, die das Vorgehen Russlands in der Ukraine verurteilt.
Die Widersprüche in den Positionen des UN-Vertreters und des Militärsprechers lassen sich mit der Innenpolitik des Landes erklären. Myanmars Diplomat Kyaw Moe Tun wurde von der 2021 abgesetzten Regierung – der aktuell im Exil lebenden
Trotz bestehender Gewalt und innenpolitischer Instabilität ist Myanmar für Russland zum einen ein historischer Partner und zum anderen ein Verbündeter mit kompatiblen Interessen: Ähnlich wie Russland, ist Myanmar von der EU mit umfassenden Sanktionen belegt worden und kann die Unterstützung großer internationaler Akteure gut gebrauchen. Russland hilft militärisch und diplomatisch.
Aus Naypyidaw ging es für Lawrow nach Kambodscha, wo er an der Sitzung des Außenministerrats Russland-ASEAN, dem Außenministertreffen des
Die Absichten sind also ambitioniert, doch das sind sie schon seit Jahren.
Aus russischer Sicht ist das heute anders. Da die Perspektiven für eine westlich-russische Zusammenarbeit auf absehbare Zeit eher düster sind, ist damit zu rechnen, dass Russland viel entschiedener als zuvor um Präsenz in Asien buhlen wird. Es ist bezeichnend, dass die Reise Lawrows zeitgleich mit der Asien-Tournee (Japan, Südkorea, Malaysia, Singapur) von Nancy Pelosi stattfand, einschließlich des brisanten Taiwan-Besuchs.
Die Präsenz in Südostasien spielt aufgrund des wachsenden Potenzials dieser Region eine wichtige Rolle für Russlands Außendarstellung: Während es bei westlich geführten multilateralen Gesprächsformaten wie der OSZE oder der Münchner Sicherheitskonferenz kein willkommener Gast mehr ist und mit Boykotten rechnen muss, fehlt es in Südostasien bei keinem multilateralen Format.
Schulterschluss mit Afrika?
Obwohl Südostasien ganz oben bei den regionalen Prioritäten in der außenpolitischen Konzeption steht, hat Russland seit dem 24. Februar 2022 keiner Region so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie Afrika. Insgesamt elf Ländern
Dass der russische Außenminister seine zweite Afrika-Reise in Südafrika begann, ist nicht verwunderlich. Im Laufe des Kriegs hat Pretoria mehrfach seine Neutralität demonstriert und sich bei UN-Abstimmungen im Zusammenhang mit der Ukraine jedes Mal der Stimme enthalten. Außerdem haben Russland und Südafrika Gemeinsamkeiten in der Außenpolitik: Beide sind Mitglieder der BRICS, befürworten eine multipolare Welt und haben enge Beziehungen zu China. So eng, dass Südafrika nach einem Jahr Krieg in der Ukraine Ende Februar 2023 eine gemeinsame Militärübung mit Russland und China durchführte. Beim Treffen mit Lawrow kündigte die südafrikanische Außenministerin Naledi Pandor an, dass ihr Land „für eine baldige friedliche Lösung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine mit diplomatischen Mitteln eintritt“, da Konflikte in allen Teilen der Welt negative Auswirkungen auf alle Länder hätten und deren Wirtschaft und Gesellschaften schädigten. Der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa hat angeboten, zwischen den Parteien zu vermitteln.
Doch wie in Myanmar ist auch in Südafrika die politische Opposition anderer Meinung. Die größte Oppositionspartei, die Democratic Alliance, reagierte negativ auf den Besuch des russischen Ministers und kritisierte die bevorstehenden Militärübungen. Der Abgeordnete Darren Bergmann forderte den südafrikanischen Außenminister Naledi Pandor auf, sich nicht mit Lawrow zu treffen. Die Partei ist seit dem Ausbruch des Kriegs pro-ukrainisch eingestellt. Der Parteivorsitzende John Steenhuizen besuchte Kiew Anfang Mai und hat die Position Pretorias in der UNO kritisiert. Der Bürgermeister von Kapstadt, Jordin Hill-Lewis, ebenfalls von der Demokratischen Allianz, forderte im Oktober 2022 ein Verbot des Zugangs zum Yachthafen von Kapstadt für die Yacht des russischen Milliardärs Alexei Mordaschow.
Im Gegensatz zu Südafrika waren die Besuche Lawrows in der Republik Kongo und in Uganda ein Novum, keines der Länder hatte er je zuvor besucht. Die Wahl kann kaum zufällig gewesen sein und hat strategische Gründe. Uganda hat 2022 im Namen Afrikas den Vorsitz der
Mehrere Studien zeichnen nach, weshalb Teile afrikanischer Gesellschaften für die russische „Erinnerungsdiplomatie“
Positionsabstimmung in Lateinamerika
Russlands Beziehungen zu lateinamerikanischen Ländern erlebten eine schrittweise Aufwertung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre – ein Prozess, der sich seit 2000 intensiviert hat. Anstelle des vorwiegend ideologischen Ansatzes der Sowjetunion beim Engagement mit lateinamerikanischen Ländern, insbesondere mit Kuba und später Nicaragua als engsten Verbündeten, erweiterte Moskau die Zahl der Partner im 21. Jahrhundert erheblich und stellte die Beziehungen auf eine pragmatische, entideologisierte und sich an wirtschaftlichen Kriterien orientierende Grundlage um. Eine neue Etappe in den russisch-lateinamerikanischen Beziehungen wurde 2010 vom damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew angekündigt, als dieser sagte, dass Russland nach Lateinamerika „zurückgekehrt“ sei.
Aktuell unterhält Moskau diplomatische Kontakte mit allen 33 Staaten der Region, wobei die Beziehungen mit einigen dieser Staaten in den zehn letzten Jahren als strategische Partnerschaften eingestuft wurden. Die Verweise auf den strategischen Charakter der russisch-lateinamerikanischen Zusammenarbeit sind zum festen Bestandteil der gegenseitigen politischen Erklärungen russischer und lateinamerikanischer Amtsträger geworden. „Mit mehreren Ländern, wie zum Beispiel Argentinien, Brasilien, Venezuela, Kuba, Nicaragua, Ecuador erreichten oder erreichen die Beziehungen das Niveau einer strategischen Partnerschaft“, stellte 2015 der russische Außenminister fest. Zu verstehen ist darunter eine langfristige, multidimensionale und privilegierte Zusammenarbeit, die auf kompatiblen Interessen basiert.
Umso überraschender ist, dass in der neuen, 2023 veröffentlichten russischen Konzeption der Außenpolitik lediglich in Bezug auf vier Länder Lateinamerikas von „Freundschaft“ und „Partnerschaft“ die Rede ist – Brasilien, Venezuela, Kuba und Nicaragua. Die Beziehungen zu den restlichen Ländern der Region sollen unter „Berücksichtigung des Niveaus ihrer Selbstständigkeit und konstruktiven Kurses ihrer Politik gegenüber der Russischen Föderation“ gefestigt werden. Es scheint kein Zufall zu sein, dass Sergej Lawrows Reise nach Lateinamerika unmittelbar nach der Verabschiedung der neuen Version des russischen außenpolitischen Konzepts erfolgte und nur die in der Konzeption benannten vier Länder umfasste.
Bei Lawrows Gesprächen in Brasilien wurden bilaterale und multilaterale Themen angesprochen. Die beiden Außenminister erörterten den Stand der bilateralen Beziehungen und betonten, dass der Handelsumsatz zwischen Russland und Brasilien mit 9,8 Milliarden Dollar einen historischen Höchststand erreicht habe. Russland sei für Brasilien nun der dreizehntgrößte Handelspartner. Gleichzeitig sprachen beide Seiten über die Notwendigkeit, das Handelsvolumen weiter zu erhöhen und mehr Bereiche wie die friedliche Nutzung der Atomkraft zu entwickeln. Eines der Themen bei Lawrows Gesprächen in Brasilia war die Friedensinitiative, die der brasilianische Präsident zuerst während seines Treffens mit Bundeskanzler Olaf Scholz im Januar und später bei seinem China-Besuch im April wiederholt hatte. Lula zeigte sich besorgt über das Ungleichgewicht in der Weltwirtschaft und im System der internationalen Beziehungen, zu dem der russisch-ukrainische Konflikt und die Sanktionspolitik bereits geführt hätten, und kündigte seinen Wunsch an, einen „Club der Länder, die für den Frieden sind“, zu gründen. Während er russische Gebietszuwächse auf der Basis militärischer Gewalt ablehnte, mahnte er gleichzeitig, dass die Ukraine nicht alles haben könne, was ihn wiederum für Moskau zum akzeptablen Vermittler macht.
Auch in Nicaragua wurden gemeinsame Wirtschaftsprojekte diskutiert, u.a. die Nutzung der Atomenergie für friedliche Zwecke sowie eine gemeinsame Impfstoffproduktion in nicaraguanischen Werken. Insgesamt ist der ökonomische Nutzen für Russland in Nicaragua eher gering. Vielmehr spielen auf russischer und nicaraguanischer Seite geopolitische Erwägungen eine zentrale Rolle. Diese bestehen im Wesentlichen darin, „sich den Versuchen des Westens zu widersetzen, seine Hegemonie zu etablieren“. Beim anschließenden Treffen in Moskau machten die Außenminister beider Länder deutlich, dass ihre beiden Staaten vor gemeinsamen Herausforderungen stünden, nämlich „Sanktionen und anderen Methoden der hybriden Kriegsführung, die von den USA und ihren Verbündeten eingesetzt werden“.
Beide Länder stehen stark in der Kritik: Russland aufgrund seiner Aggression gegen die Ukraine und Nicaragua aufgrund der massenhaften Schließung von NGOs und des Entzugs der Staatsbürgerschaft von mehr als 300 Dissidenten. Die internationale Isolation von Nicaraguas Staatschef Daniel Ortega wurde durch das jüngste Urteil der UN-Expertengruppe verstärkt, die ihm Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorwirft, während gegen Putin ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vorliegt. Außerdem verbindet Moskau und Managua eine enge militärtechnische Zusammenarbeit. Im Januar 2022, als sich der Konflikt um die Ukraine rasant zuspitzte, drohte Moskau damit, im Falle eines Scheiterns der Gespräche über die von Russland geforderten Sicherheitsgarantien Militärstützpunkte in Kuba, Nicaragua und Venezuela einzurichten. Tatsächlich ist ein russischer Militärstützpunkt auf Kuba unwahrscheinlich: Havanna ist sehr auf seine Autonomie bedacht und erinnert sich an die enttäuschende Erfahrung mit Moskau 1962, als es die Kuba-Krise ohne Rücksprachen mit der kubanischen Regierung beendete. In Venezuela ist das Verbot der Eröffnung ausländischer Militärstützpunkte auf seinem Territorium im Artikel 13 der Verfassung verankert.
Der Besuch Lawrows in Venezuela erfolgte in einer Situation, in der sich die Beziehungen zwischen Caracas und Washington verändern und die USA das vor vier Jahren verhängte Wirtschaftsembargo gegen Venezuela lockern. Anfang Dezember 2022 unterzeichnete der US-amerikanische Ölkonzern Chevron Vereinbarungen mit dem venezolanischen staatlichen Ölunternehmen PDVSA über die Fortsetzung der Ölförderung in Venezuela. Im Januar schickte der US-Konzern die ersten Schiffe mit in Venezuela gefördertem Öl in die USA. Moskau kommt nicht umhin, diese Wende genau zu beobachten. Denn den USA geht es nicht nur um den Ersatz für die weggefallenen Ölimporte aus Russland, sondern auch darum, den russischen Einfluss in Venezuela zu verringern, indem sie auf Maduro zugehen. Für Venezuela wäre eine positivere Entwicklung der Beziehungen zu den USA durchaus wünschenswert, um seine wirtschaftliche Lage zu verbessern.
Die Bewegung im Verhältnis USA-Kuba ist Moskau wohl ebenso nicht verborgen geblieben und ist, ähnlich wie bei Venezuela, als eines der Motive für die Visite Lawrows zu vermuten.
Der Besuch des russischen Außenministers in Brasilien, Venezuela, Kuba und Nicaragua zeugt von einer Verschiebung von Moskaus Prioritäten in den Beziehungen zu Lateinamerika: Ähnlich wie im 20. Jahrhundert werden im Zuge der Konfrontation mit dem Westen wieder ideologisch-geopolitische Kriterien hervorgehoben und Länder priorisiert, die die russische Position entweder politisch klar unterstützen oder, wie Brasilien, ein langjähriger strategischer Partner sind, der eine demonstrativ neutrale und konstruktive Haltung einnimmt. Mit Ausnahme der Bahamas hat sich offiziell zwar kein lateinamerikanischer Staat den westlichen Sanktionen angeschlossen. Die meisten Länder der Region haben Russlands Aggression in der UN jedoch verurteilt. Die Ausnahmen sind Kuba, El Salvador, Bolivien und Nicaragua (Venezuela durfte nicht abstimmen). Ein Teil der Wirtschaft in Lateinamerika hält sich auf die eine oder andere Weise an die Sanktionsregelung: Der brasilianische Flugzeughersteller Embraer bestätigte im März 2022, dass er die Lieferung von Flugzeugen und Ersatzteilen an Russland aussetzen werde. Auch haben argentinische und chilenische Unternehmen im April 2022 ihre Lithium-Lieferungen an Russland eingestellt.
Möglicherweise spielen auch langjährige enge persönliche Kontakte zwischen den aktuellen Regierungen der vier besuchten Länder und Moskau im aktuellen politischen Kontext eine Rolle: Brasiliens Lula, Nicaraguas Daniel Ortega, Venezuelas Nicolás Maduro (Außenminister unter Hugo Chávez) und Kubas Kommunistische Partei (mit Raúl Castro als ihrem Vorsitzenden bis 2021) waren diejenigen, die die Aufwertung der Beziehungen ihrer Länder zu Moskau seit dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert angeführt oder begleitet haben. Damit gelten sie in Moskau als Vertrauenspartner.
Globaler Süden als eigenständiger Akteur
Auf den ersten Blick suggeriert die diplomatische Weltreise Lawrows, dass Russland weiterhin viele Partner in der Welt hat und Moskaus internationale Isolation, wie vom Westen angestrebt, nicht funktioniert hat. Das stimmt insofern, als Russland tatsächlich weiterhin Partnerschaften in Asien, Afrika und Lateinamerika pflegt. Bei näherem Hinsehen ergibt sich jedoch ein differenzierteres und ambivalenteres Bild: Erstens sind diese Partnerschaften zum Teil abhängig von der Innenpolitik der jeweiligen Länder. Die politischen Positionen gegenüber Russland unterscheiden sich je nach politischem Lager, in Myanmar und in Südafrika gibt es etwa eine klar pro-ukrainische Opposition. Zweitens ist das Partner-Spektrum Moskaus nach der Invasion auch im Globalen Süden kleiner geworden. Das lässt sich in Lateinamerika am deutlichsten beobachten. Mit Loyalität und Unterstützung kann Russland aktuell vor allem in Afrika rechnen, wovon die drei Reisen Lawrows und insgesamt elf Staatsbesuche zeugen. Nicht zufällig plant das ukrainische Außenministerium, im Rahmen seiner diplomatischen Offensive im Globalen Süden ausgerechnet auf dem afrikanischen Kontinent mit zehn neuen Botschaften seine diplomatische Präsenz zu erhöhen und Russland Konkurrenz zu machen. Für den Sommer 2023 haben sowohl Moskau als auch Kyjiw jeweils eine eigene Konferenz mit afrikanischen Staaten angekündigt.
Der sich intensivierende Wettbewerb um die Gunst der Länder des Globalen Südens sowie ihre aktivere Beteiligung bei der Suche nach einer Lösung für einen militärischen Konflikt im Herzen Europas führen eine wichtige Trendwende vor Augen: Großmächte sind heute kaum mehr in der Lage, ihre Interessen einseitig und gegen den Willen der Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika durchzusetzen. Vielmehr sind sie auf deren Zustimmung angewiesen. Aus der Corona-Pandemie hat der Globale Süden zudem gelernt, dass er sich auf die Industrienationen, die auf dem Höhepunkt der globalen Gesundheitskrise eigene Impfstoffversorgung vor globaler Solidarität stellte, nicht wirklich verlassen kann. In der Haltung des Globalen Südens zeigt sich allerdings auch die Diskrepanz zwischen einem anti-imperialen Reflex gegen den Westen bei gleichzeitig weniger kritischer Haltung gegenüber russischer imperialer Attitüde.
Insgesamt kann man jedoch sagen, dass in der aktuellen Neupositionierung auf globaler Ebene die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas eigenständige Akteure und nicht mehr Spielfiguren auf dem geopolitischen Schachbrett oder Schauplätze für Stellvertreterkriege zwischen rivalisierenden Blöcken sind. Das ist einer der zentralen Unterschiede zur Blockkonfrontation im 20. Jahrhundert, der die entstehende multipolare Weltordnung prägen wird. Das neue Privileg, zwischen mehreren großen Akteuren zu lavieren und die außenpolitischen Spielräume zum eigenen Vorteil zu nutzen, wird sich der Globale Süden nicht mehr nehmen lassen.