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Sind Sanktionen friedlich?

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Nicholas Mulder2022
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Sind Sanktionen friedlich?

»Mulder: The Economic Weapon«

Inhalte

Intro

Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 11.10.2022

te.ma DOI 10.57964/qbek-tw83

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 11.10.2022
te.ma DOI 10.57964/qbek-tw83

Sanktionen entstanden als Teil der Kriegsführung liberaler Demokratien, behauptet Nicholas Mulder in seiner im Frühjahr 2022 fertiggestellten Monografie, die zeitlich kaum aktueller in die weltpolitische Lage hinein hätte erscheinen können. Erwachsen aus den Wirtschaftsblockaden des Ersten Weltkriegs, haben sich Sanktionen zunehmend von einem Instrument des Krieges zu einem völkerrechtlich anerkannten Mittel der Interessendurchsetzung in Friedenszeiten entwickelt - mit oft nicht minder schwerwiegenden Folgen für alle Beteiligten.

Die Verhängung von Wirtschaftssanktionen hat seit den 1990er Jahren rasant an Bedeutung zugenommen, ein Trend, der sich bereits nach dem Zweiten Weltkrieg abzeichnete.1 Auch als es um die Reaktionen auf Russlands Annexion der Krim 2014 und die Invasion der Ukraine im Jahr 2022 ging, sind sie das erste Mittel der Wahl westlicher Staaten gewesen. Wie konnten Sanktionen zu solcher Prominenz aufsteigen?

Nicholas Mulders Studie basiert auf der Annahme, dass die Kontroversen, die auch heute die Verhängung von Sanktionen begleiten, verständlicher werden, wenn man deren historische Ursprünge beleuchtet.2 Diese lägen im Ersten Weltkrieg, als die von Großbritannien und Frankreich angeführten Alliierten mit ihren Verbündeten einen Wirtschaftskrieg gegen das Deutsche und Osmanische Reich sowie Österreich-Ungarn führten. Nationale Blockadeministerien und internationale Komitees wurden geschaffen, um, wie Mulder akribisch rekonstruiert, Waren-, Energie-, Lebensmittel- und Informationsströme zu erfassen und zu unterbrechen.

Mulders These ist, dass sich die internationale Politik durch die Verbreitung und Normalisierung von Sanktionen verändert hat – und zwar nicht unbedingt zum Guten. So hätten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, als sie die Verhängung ökonomischer Strafaktionen in Artikel 16 des Völkerbundes aufnahmen, Wirtschaftssanktionen von einem Mittel der Kriegsführung in eine Institution für Friedenszeiten überführt.3 Anders ausgedrückt: Maßnahmen gegen als „Aggressoren“ bezeichnete Staaten, die vorher lediglich im Krieg denkbar waren, konnten nun bereits in Friedenszeiten zur Anwendung gebracht werden.

Ausgehend von diesem Blick auf den konzeptionellen Wandel macht Mulder besonders darauf aufmerksam, dass die Anwendung ökonomischer Sanktionen unbeabsichtigte Nebenwirkungen für jene hat, die sie verhängen.4 Diese gehen weit über den Verlust an Wohlstand oder das Steigen der Energiepreise hinaus. Zentrale Bestandteile der internationalen Ordnung selbst verlieren ihre Neutralität und somit auch ihre normative Allgemeingültigkeit. Mulder weist darauf hin, dass die Normalisierung von Sanktionen in den 1920er und 1930er Jahren andere Normen internationaler Politik untergrub: das Recht auf Neutralität sowie den Schutz der Zivilbevölkerung, des Privateigentums und der Nahrungsmittelversorgung wurden ausgehöhlt oder eingeschränkt. Auch heute steht die Debatte darüber, was die immer häufigere Verhängung von Sanktionen in den vergangenen 30 Jahren für das moderne Völkerrecht bedeutet, erst am Anfang.5

Mulders Werk formuliert zudem eine weitere fundamentale Kritik am liberalen Sanktionsinstrument, die auch im gegenwärtigen Kontext auf Resonanz stößt.6 Wie Russland, China und der Iran heute hätten auch in den 1930er Jahren zahlreiche Länder auf eine von Sanktionen geprägte Weltwirtschaft reagiert. Sie legten Importsubstitutions- und Autarkie-Programme auf und radikalisierten sich politisch. Noch schlimmer: Für das aufrüstende Deutschland und Japan der 1930er Jahre habe sich der Nutzen von territorialer Expansion durch die wirtschaftliche Isolierung noch erhöht. Direkte Kontrolle über Rohstoffvorkommen wurde unter der Bedingung versperrter Handelsmöglichkeiten umso wichtiger. Stoppen konnte man beide Länder bekanntlich nicht im heimischen Planungsbüro, sondern nur auf dem Schlachtfeld.

Blickt man aus dieser historischen Perspektive auf den gegenwärtigen Konflikt zwischen westlichen Staaten und einem kriegführenden Russland, dessen Präsident bereit zu sein scheint, bis zum Letzten zu gehen, lässt Mulders Fazit eine bedrohliche Zukunft erahnen: Die Sanktionsregime einer einst liberalen Weltordnung und das nationalistische Streben nach Autarkie und territorialer Kontrolle könnten in eine fatale, sich gegenseitig verstärkende Wechselwirkung geraten.

Fußnoten
6

Özgür Özdamar und Evgeniia Shahin: Consequences of Economic Sanctions. The State of the Art and Paths Forward. In: International Studies Review. Band 23, Nr. 4, 2021, S. 1646-71.

Siehe für eine umfassende Besprechung des Buches von Mulder: Christopher Schaefer (Hrsg.): Book Forum: The Economic Weapon: The Rise of Sanctions as a Tool of Modern War. Nicolas Mulder. New Haven, CT: Yale University Press, 2022. In: Tocqueville 21. 14. März 2022, abgerufen am 30. September 2022.

Die Blockade Leningrads durch die Alliierten gilt als wichtige Wegmarke der Kodifizierung von Wirtschaftssanktionen im modernen Völkerrecht. Siehe Friedrich Asschenfeldt und Max Trecker: Den Bolschewismus „in der Wiege erdrosseln“? Die Blockade Sowjetrusslands durch die Entente, 1918-1920. In: Osteuropa. Band 71, Nr. 10-12, 2021, S. 47-58.

Carl-Wendelin Neubert: Sanktionen und das Völkerrecht. Entwicklungslinien und aktuelle Problemlagen. In: Osteuropa. Nr. 71, 2021, S. 10-12, S. 35-46; Elena Chachko und J. Benton Heath: A Watershed Moment for Sanctions? Russia, Ukraine, and the Economic Battlefield. In: American Journal of International Law. Nr. 116, 2022, S. 135-39.

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