Ein Weimarer Russland?

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Steffen Kailitz, Andreas Umland2017

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 15.11.2022

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/f7py-by94

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 15.11.2022
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/f7py-by94

Kann man die Weimarer Republik und Putins Russland vergleichen? Und was sagt uns das über russischen Faschismus? Die historische Gegenüberstellung von Steffen Kailitz und Andreas Umland zeigt, wie gerade der russische Autoritarismus einen stärkeren Faschismus verhindert, während die junge Weimarer Demokratie faschistischen Kräften Raum zur Entfaltung bot.

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat der These eines entstehenden russischen Faschismus unter Wladimir Putin neue Prominenz beschert. Für Vertreter*innen dieser Position ist der Aufstieg des Faschismus eng verbunden mit der Intensivierung autokratischer Herrschaftsstrukturen. Der Faschismus erscheint als Metamorphose eines radikalisierten russischen Autoritarismus.1 

Die Politikwissenschaftler Kailitz und Umland widersprechen dieser Perspektive und präsentieren ein zunächst kontraintuitiv anmutendes Argument: Gerade weil es in Russland keinerlei demokratische Verfahren gebe, seien faschistischen Kräften die Wege in den Kreml versperrt. Weder gebe es ein funktionierendes russisches Parteiensystem, das faschistischen Akteuren ermöglichen würde, eine politische Gefolgschaft aufzubauen. Noch bestünde eine zivilgesellschaftliche Basis, die einen Nährboden für faschistische Ideen bieten würde. Hier liegt der Unterschied zwischen Russland und der Weimarer Republik in den 1920er und 1930er Jahren, wo sich der Faschismus sowohl in der Parteienlandschaft als auch in der Zivilgesellschaft politisch etablieren konnte. Parlamentarische Agitation und gesellschaftliche Mobilisierung waren Instrumente, die sich Faschist*innen in der jungen Weimarer Demokratie zunutze machten.2

Im Gegensatz zur medialen Fixierung auf Putin startet Kailitz’ und Umlands 2017 publizierte Analyse nicht „von oben“, also mit der herrschenden russischen Elite. Stattdessen schauen sich die Autoren den Einfluss faschistischer Akteure „von unten“ an. Letztere gebe es im post-sowjetischen Russland zwar tatsächlich – man denke nur an Alexander Dugin und seine Netzwerke im In- und Ausland.3 Allerdings sei Putin selbst alles andere als ein faschistischer Anführer. Vielmehr entspreche er dem Typus eines Diktators ohne Ideologie, wie man ihn auch in anderen autoritären Regimen findet.

Kailitz und Umland verstehen Faschismus vor allem als Ideologie und nicht, wie etwa Alexander Motyl, als eigenständigen Regimetyp.4 Ein solches Verständnis baut insbesondere auf den Arbeiten des britischen Zeithistorikers Roger Griffin auf, der Faschismus als „palingenetischen, populistischen Ultra-Nationalismus“ definiert.5 Im Mittelpunkt faschistischer Ideologie stehe die Neugeburt der Nation, die von schädlichen Elementen gereinigt werden müsse. Dazu sei eine sozialpolitische, kulturelle und anthropologische Revolution notwendig, an deren Ende die gezielte Schaffung eines „neuen faschistischen Menschen“ stehe. 

Eine solche, das politische System leitende Ideologie sehen Kailitz und Umland in Russland nicht gegeben.6 Ein auf das gesamte russische Regime bezogener Faschismus-Begriff wird von ihnen nicht zuletzt auch deshalb zurückgewiesen, weil eine solche Kategorisierung die tatsächliche Gefahr faschistischer russischer Akteure verharmlosen würde.7 

Russlands Krieg und die seitdem eingesetzten innenpolitischen Dynamiken – Z-Symbolik, Massenmobilisierung, genozidale Propaganda gegenüber der Ukraine – werfen die Frage auf, ob die Autoren ihre These im Hinblick auf die russische Politik modifizieren würden.8 Zwar konnten die intellektuellen und politischen Vertreter*innen des russischen Faschismus nach wie vor nicht auf die Gänge des Kreml vorrücken. Auch gibt es noch immer kein demokratisches Parlament oder eine dynamische Zivilgesellschaft. Allerdings sind im Zuge des Krieges zahlreiche Denkfiguren des Faschismus in der Elite um Putin angekommen. Somit hat möglicherweise der Krieg selbst die Grundlage dafür geschaffen, dass Bestandteile faschistischer Ideologie auch jenseits demokratischer Strukturen in den russischen Herrschaftsapparat einsickern können. 

Fußnoten
8

Timothy Snyder: The Road to Unfreedom. Russia, Europe, America. Tim Duggan Books, New York 2018, ISBN 9780525574460; Alexander J. Motyl: Putin's Russia as a fascist political system. In: Communist and Post-Communist Studies. Band 49, Nr. 1, 2016, S. 25-36. 

Der Vergleich Russlands mit der Weimarer Republik wird auch von Grigori Judin gezogen. Siehe Grigori Judin: Russland wird aufs Schrecklichste verlieren. In: Dekoder. 22. April 2022, abgerufen am 10. November 2022. 

Alan Ingram: Alexander Dugin. Geopolitics and neo-fascism in post-Soviet Russia. In: Political Geography. Band 20, Nr. 8, 2001, S. 1029-1051. 

Roger Griffin: The Nature of Fascism. Taylor and Francis, Hoboken 2013, ISBN 9780415096614.

 Eine Kritik des Faschismus-Begriffes mit Bezug auf Russland liefert auch Marlène Laruelle: Is Russia Fascist? Unraveling Propaganda East and West. Cornell University Press, Ithaca/London 2021, ISBN 9781501754135; Marlene Laruelle: So, Is Russia Fascist Now? Labels and Policy Implications. In: The Washington Quarterly. Band 45, Nr. 2, 2022, S. 149-168. 

Um diesen Punkt drehte sich unter anderem eine Debatte in der Zeitschrift Osteuropa aus dem Jahr 2009. Siehe hierzu Alexander J. Motyl: Russland: Volk, Staat und Führer. Elemente eines faschistischen Systems. In: Osteuropa. Band 59, Nr. 1, 2009, S. 109-124; Leonid Luks: Irreführende Parallelen. Das autoritäre Russland ist nicht faschistisch. In: Osteuropa. Band 59, Nr. 4, 2009, S. 119-128; Aleksej Sindeev: Mythenbildung ohne Ende. Eine Replik auf Alexander J. Motyl. In: Osteuropa. Band 59, Nr. 5, 2009, S. 111-115. 

Umland selbst erkennt an, dass man mittlerweile von einem sog. compartmentalized fascism in Russland reden kann. Siehe hierzu die von der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission organisierte Debatte vom 23.06.2022: https://www.youtube.com/watch?v=fXUZB6RfUpo&feature=youtu.be

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(übernommen von Ulrich Schmid für Dekoder, https://www.dekoder.org/de/gnose/alexander-dugin): Alexander Dugin (geb. 1962) gehört zu den bekanntesten und schillerndsten geostrategischen Intellektuellen in Russland. Nach einem kurzen Flirt mit Eduard Limonows Nationalbolschewismus etablierte sich Dugin zu Beginn der 2000er Jahre als Vordenker eines russisch dominierten Neo-Eurasismus. Obwohl Dugin immer wieder seine Nähe zum Kreml unterstreicht und wiederholt als Berater von Parlamentariern tätig war, ist das Ausmaß seines politischen Einflusses umstritten. Dugin ist aber mit einer Vielzahl von Websites, Büchern, Broschüren und Zeitschriftenartikeln im öffentlichen Diskurs Russlands präsent.

Palingenese ist ein Begriff, der in zahlreichen Faschismustheorien zur Erklärung eines zentralen Bestandteils faschistischer Ideologie benutzt wird: der Wiedergeburt (griech. palin: Neugeburt) der nationalen Gemeinschaft durch Revolution. Für Roger Griffin setzt sich Palingenese aus einem radikalen Kulturpessimismus und Ultra-Nationalismus zusammen. Die nationale, als organisch vorgestellte Gemeinschaft könne nur durch Gewalt von der Degenerierung ihrer kulturellen Wurzeln „geheilt“ werden. Durch die Figur der Wiedergeburt ist der Begriff der Palingenese stark biologistisch aufgeladen.

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