Es war ein wichtiges und notwendiges Zeichen der Solidarität im Angesicht der imperialistischen Aggression Russlands, als die Europäische Union im Juni 2022 der Ukraine und der Republik Moldau den Status als EU-Beitrittskandidaten zusprach und selbiges für Georgien in Aussicht stellte. Die drei Länder hatten als „assoziiertes Trio“ aus ihren Mitgliedsaspirationen gegenüber der EU seit Jahren keinen Hehl gemacht. Die
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Geopolitisierung der östlichen Nachbarschaftsländer haben zur Folge, dass die EU sich nun wieder aktiver mit Erweiterungsszenarien auseinandersetzen muss. Dieser Umstand birgt einige Dilemmata und Widersprüche für die EU, die nun die Wahl zwischen zwei Optionen hat: Im ersten Szenario bleiben die Länder, ähnlich denen des Westbalkans, auf unbestimmte Zeit in der Warteschleife des Beitritts hängen. Die EU würde damit eine zweite Grauzone herstellen, die symbolische Aktivität mit materieller und militärischer Inaktivität verbindet. Im zweiten Szenario schreiten die Länder realistisch auf einen EU-Beitritt zu, was mit einer Vertiefung und Differenzierung der EU-Architektur einhergehen müsste. Beide Möglichkeiten hätten geopolitische wie interne Auswirkungen – sowohl für die EU als Ganzes als auch die ENP im Speziellen. Zwingend notwendig für die weitere Aufnahme von Ländern sind jedoch ein interner Reformwille sowie eine Strategie der EU, die an die neuen Realitäten angepasst ist.
Neue Grauzonen? Die Bedeutung eines Nicht-Beitritts
Die Gründung der ENP im Jahr 2004 sollte ursprünglich dazu dienen, einen „Ring stabiler, befreundeter Staaten“ an den Außengrenzen der EU zu etablieren. Ziel war eine verstärkte Zusammenarbeit mit den 16 Mitgliedstaaten in Osteuropa und der Mittelmeerregion in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Belangen.
Durch die Überschneidungen von ENP und bisheriger Erweiterungsstrategie trifft beide auch dieselbe Kritik. Mangelnde Flexibilität und Erweiterungsmüdigkeit vonseiten der EU nach der „Big-Bang“-Erweiterung 2004 haben in den Westbalkan-Ländern zu stagnierenden Integrationsprozessen beigetragen und im Umgang mit den Mitgliedstaaten der ENP kaum zu nachhaltiger Demokratisierung geführt.
Die EU sollte daher ihre Beitrittsprozesse grundlegend überarbeiten, ansonsten drohen die Ukraine und die Republik Moldau in dieselbe Grauzone zu rutschen, in der sich die Länder des Westbalkans bereits seit Jahren befinden. Es wird nicht ausreichen, im Herbst 2023 die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen für die Ukraine und Republik Moldau zu beschließen, wenn der Wille und die Kapazitäten fehlen, die 24 Kapitel des
Paradoxerweise manövriert die Entscheidung, die Ukraine und die Republik Moldau zu Beitrittskandidaten zu machen, auch die ENP in eine Grauzone. So ist beispielsweise unklar, ob die Beitrittsprozesse der Ukraine, der Republik Moldau und potenziell auch Georgiens parallel zu ihren Mitgliedschaften in der ÖP weiterlaufen werden. Denn von den interregionalen Programmen profitiert die Konnektivität zwischen allen ÖP-Ländern, nicht nur die Länder des assoziierten Trios. Beispielsweise sind fünf der sechs ÖP-Mitglieder Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres, was wirtschafts- und sicherheitspolitischen sowie ökologischen Spielraum für Kooperation birgt. Sollte die Kommission im November 2023 empfehlen, die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und der Republik Moldau aufzunehmen, wäre ein zusätzliches Format für die beiden Länder dennoch sinnvoll, um Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft bei den komplexen Prozessen zu unterstützen. Auch ohne das Primat des Nicht-EU-Beitritts kann die ENP daran arbeiten, durch interregionale Programme und Angebote
Geopolitische Konsequenzen
In dem Fall, dass die Integrationsprozesse der Ukraine, der Republik Moldau und Georgiens in den nächsten Jahren nicht deutlich voranschreiten, wären auch die geopolitischen Konsequenzen nicht zu unterschätzen. Der Verlust an Glaubwürdigkeit, den die EU-Erweiterungspolitik bereits im Westbalkan erlitten hat, würde sich zu einem geopolitischen Gesichtsverlust für die gesamte Union entwickeln. Dies hätte nicht zuletzt massive Sicherheitsrisiken für die EU und ihre Nachbarn zur Folge. Der Verdacht liegt nahe, dass ein entschlosseneres Auftreten von EU und NATO gegenüber Russland nach der Annexion der Krim 2014 dazu hätte beitragen können, die großangelegte Invasion im vergangenen Jahr zu verhindern. Eine mit den Jahren schwindende Solidarität mit der Ukraine und anderen postsowjetischen Staaten könnte den imperialistischen Bestrebungen Russlands und anderer Staaten daher zusätzliches Momentum geben. In Ermangelung eines genuin europäischen Verteidigungsbündnisses gilt dies insbesondere auch für die NATO.
Krisen und Kriege dienten schon in der Vergangenheit als Treiber für die Entwicklung der ENP. Die Gründung der ÖP 2009 beispielsweise war maßgeblich von der russischen Invasion in Georgien und dem
Leider hat die EU die geopolitischen Konsequenzen der ENP bislang vernachlässigt. Davon zeugt der Umstand, dass massive externe Schocks wie oben beschrieben nötig waren, um einen Wandel in der Politik der EU herbeizuführen. Affekthandlungen dieser Art können ohne eine genaue Abwägung aller Risiken und Folgen aber auch schädlich für die EU und die jeweiligen Staaten sein. Es ist deshalb ebenso wichtig, dass es nicht zu einer überstürzten Aufnahme der Länder kommt. Die Entscheidung, Georgiens Beitrittsstatus von konkreten Reformanstößen abhängig zu machen, war in diesem Sinne sinnvoll.
Interne Reformen sind notwendig
Während die Länder des assoziierten Trios auf dem Weg zum EU-Beitritt zweifellos noch eine Reihe von Reformen umsetzen müssen, gilt selbiges auch für die Union selbst. Die internen Brandherde waren in den letzten Jahren vielfältig: Die Covid-19-Pandemie, Dissens in der Migrationspolitik und die Anforderungen des Klimawandels forderten und fordern die Mitgliedstaaten bei der Suche nach einer gemeinsamen europäischen Strategie. Das vorherrschende Problem in Bezug auf die Erweiterungspolitik ist aber die zunehmende Tendenz der „De-Europäisierung“ in Staaten wie Ungarn und Polen, die demokratische Werte der EU grundsätzlich infrage stellen und sich immer weiter desintegrieren.
Ein dominierender Reformvorschlag, der insbesondere auch die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik der EU betrifft, zielt auf die Ausweitung des Mehrheitsprinzips im Rat der Europäischen Union ab. Das aktuelle Einstimmigkeitsprinzip blockiert die Handlungsfähigkeit der EU, da einzelne Regierungen immer wieder individuelle Interessen durch die Androhung eines Vetos durchsetzen können. Auch die
Ein weiterer Vorschlag, um die internen Konflikte der EU zu lösen und sie nach außen hin für die Aufnahme neuer Mitglieder zu befähigen, ist der Ansatz der differenzierten Integration, also eine „sachliche, räumliche oder zeitliche Abstufung des Integrationsprozesses“.
Föderalisierung oder Fragmentierung?
Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und der damit einhergehenden Bedrohung für die EU ist diese von der Entwicklung zu einem föderalen Europa aktuell weit entfernt. Auch die mit dem Szenario einer differenzierten Integration einhergehende Gefahr einer weiteren Fragmentierung des ohnehin porösen Zusammenhalts ist nicht zu unterschätzen. Dennoch bietet die Idee verschiedener Klubs die Möglichkeit, die demokratischen Werte der EU zu wahren und gleichzeitig Partikularinteressen der Mitgliedstaaten zu respektieren. Den Ländern des assoziierten Trios und des Westbalkans würde so ein EU-Beitritt auf Augenhöhe und in differenzierten Schritten ermöglicht.
Es ist zum aktuellen Zeitpunkt schwer vorstellbar, dass die Ukraine und die Republik Moldau, ganz zu schweigen von Georgien, in den kommenden Jahren tatsächlich Mitglieder einer EU in ihrem jetzigen Zustand werden. Sollte die Perspektive einer Aufnahme ernst gemeint sein und tatsächlich umgesetzt werden, sind die ÖP-Länder nicht die einzigen, die sich auf dem Weg dahin reformieren müssten: Auch die EU muss sich ihren internen Problemen stellen und endlich systemische Reformen angehen, bevor ein Beitritt weiterer Länder infrage kommt. Diese könnten den Vorschlägen einer differenzierten Integration folgen und verschiedene Formen der EU-Mitgliedschaft etablieren. Langfristig ist es gleichwohl unwahrscheinlich, dass sich die Länder des assoziierten Trios mit einem anderen Szenario als der vollen EU-Mitgliedschaft zufriedengeben werden.