Wie viele Menschen in Deutschland Türkisch sprechen, ist schwer zu beziffern. Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes lebten im Jahr 2022 rund 23,8 Millionen Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund in Deutschland. Davon hatte der größte Teil, rund 2,83 Millionen, familiäre Bezüge zur Türkei. Doch anhand dieser Zahlen lässt sich nicht ableiten, wer von diesen Menschen tatsächlich Türkisch spricht – ob überhaupt, und wenn ja, wie oft, wie gut, wie gern.
Noch im Jahr 2015, dem Publikationsjahr des vorliegenden Papers, fehlte den Autor*innen eine verlässliche Datengrundlage über die Verbreitung des Türkischen in Deutschland. Sie führten deshalb Studien über den Sprachgebrauch an Grundschulen an, etwa das Projekt SPREEG der Universität Duisburg-Essen, die Studie Mehrsprachigkeit in Hamburg oder die FreiSprachen-Studie aus Freiburg. Unter den befragten mehrsprachigen Kindern gaben dort zwischen sieben (Freiburg) und 32 Prozent (Hamburg) an, neben Deutsch auch Türkisch zu sprechen.
Inzwischen gibt es neuere Zahlen. Seit 2017 fragt das Statistische Bundesamt im jährlichen Mikrozensus ab, welche Sprache Menschen in Deutschland zuhause sprechen – gefragt wird allerdings nach einer Sprache im Singular. Forscher*innen kritisieren, dass die Umfrage den mehrsprachigen Realitäten in deutschen Haushalten nicht gerecht werde und keine repräsentativen Daten liefere.
Als verlässlicher gilt die „Deutschland-Erhebung 2017/2018“, die das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) durchgeführt hat. Dort gaben 88 Prozent der Befragten Deutsch als ihre Muttersprache an. Türkisch wurde nach Russisch mit 16 Prozent als zweithäufigste andere Sprache genannt.
In jedem Fall kann davon ausgegangen werden, dass Türkisch unter den weitaus größten Minderheitensprachen Deutschlands rangiert. Küppers, Șimșek und Schroeder zeigen in Hinblick auf eine Vielzahl an Studien aus den letzten zwanzig Jahren auf, dass der Erwerb und Gebrauch der Sprache in Deutschland dabei einigen Besonderheiten unterliegt.
Das Türkische in Deutschland, zeigt sich ihnen, ist vor allem durch einen mündlichen und informellen Erwerb gekennzeichnet. Da der Schulunterricht auf Deutsch stattfindet und Türkisch für viele Menschen in Deutschland vor allem Sprache des familiären, freundschaftlichen und nachbarschaftlichen Umgangs ist, bleibt der Kontakt zur formellen Sprache oft zunächst begrenzt. Gleichzeitig sind Türkischsprecher*innen in Deutschland spätestens ab dem Kindergarten – oft auch schon im Elternhaus – mit einem deutschsprachigen Einfluss konfrontiert.
Beide Faktoren können, wie die Literatur zeigt, zu sprachlichen Unterschieden zwischen monolingualen Türkischsprecher*innen in der Türkei und bilingualen Sprecher*innen in Deutschland führen. Zum einen sind das Fälle von Sprachmischung, also etwa
Dabei nehmen Küppers, Șimșek und Schroeder vor allem eine Entwicklung in den Blick, die auch im Deutschen zu beobachten ist: das zunehmende Verschwinden des Genitivs. Diese und weitere Entwicklungen werden dabei, schreiben die Autor*innen, begleitet durch „die einzigartige Beziehung zwischen
Im Detail wird hierzu ein Beispiel besprochen, das aus dem Korpus einer Studie von Cindark und Aslan stammt. Verglichen wird ein in Deutschland gesprochener Satz (1a) mit der türkischen Standardversion (1b):
1a: „Parktaki kadınlar ↑ dedikoduları ne üzerine ↑ “
1b: „Parktaki kadınların dedikoduları ne üzerine?“
Übersetzen würde man den Satz vermutlich als: „Worüber tratschen die Frauen im Park?“
Im Türkischen verwendet man allerdings eine im Deutschen nicht so übliche Substantivkonstruktion. Wörtlich übersetzt lautet die Frage in etwa: „Worüber geht der Tratsch der Frauen im Park?“
Der Unterschied zwischen 1a und 1b besteht zum einen in der Silbe -ın am Ende des zweiten Wortes. Sie markiert den Genitiv – ähnlich wie im Deutschen die Endung -es den Genitiv bei maskulinen Nomen markiert, zum Beispiel „das Haus des Mannes“. Die Endung -ın fällt in Version 1a weg. Der Satz ist damit eigentlich grammatikalisch falsch, als würde man sagen: „das Haus des Mann“. Allerdings wird die Prosodie verändert – in der Mitte des Satzes, dort wo die Endung -ın fehlt, geht die Stimme hoch, angezeigt durch den kleinen Pfeil ↑. Durch dieses kleine Manöver entsteht eine Satzpause. Dadurch wird der Satz leicht verändert, sodass er trotz fehlenden Genitivs richtig bleibt.
Wie das funktioniert, ist nicht 1:1 ins Deutsche zu übersetzen. Man kann sich in einer Übersetzung aber annähern. Der Genitiv drückt hier die Zugehörigkeit einer Sache (in diesem Fall Tratsch, türkisch dedikodular) zu einer oder mehreren Personen (in diesem Fall Frauen, türkisch kadınlar) aus. Dies geschieht ebenso im Deutschen, wo der Genitiv bei weiblichen Nomen durch eine Transformation des Artikels von „die“ zu „der“ angezeigt wird: Aus „die Frauen“ wird im Deutschen „der Tratsch der Frauen“. Wenn im Türkischen nun an dieser Stelle der Genitiv weggelassen wird, aber gleichzeitig mit der Stimme eine Satzpause angezeigt wird, wird der Satz gewissermaßen umgedreht. Gesagt wird nicht: „Worüber geht der Tratsch der Frauen im Park?“ Aber auch nicht das fehlerhafte: „Worüber geht der Tratsch die Frauen im Park?“
Sondern so etwas wie: „Die Frauen im Park…↑ Worüber geht ihr Tratsch?“. So bleibt der Sinn der Aussage gewahrt und der Satz ist grammatikalisch korrekt. Die*der Sprecher*in aus Deutschland spricht in dem Beispiel also anders, als ein türkischer Standardsatz lauten würde – trotz fehlenden Genitivs aber nicht falsch.
Insgesamt seien strukturelle Unterschiede zwischen dem in der Türkei und dem in Deutschland gesprochenen Türkisch offensichtlich, schließen die Autor*innen. Der Grad der Systematik und Stabilität des in Deutschland gesprochenen Türkisch sei allerdings noch zu erforschen.