Klaus Schlichte interveniert in einer Debatte, in deren Mittelpunkt die Notwendigkeit einer Wiederbelebung realistischer Theorien der Internationalen Beziehungen (IB) steht.
Der im Artikel unterbreitete Vorschlag greift auf einen von der
Im Mittelpunkt einer Analyse des russischen Krieges gegen die Ukraine müsse die Rekonstruktion des erstmals von Max Weber so bezeichneten „subjektiv gemeinten Sinns” stehen.
Schlichte liefert in seinem Essay keine detaillierte empirische Analyse des Krieges, sondern beschränkt sich auf den Entwurf eines politisch-soziologischen Rahmens. Eine differenzierte Beschäftigung mit den Kriegsursachen müsse zunächst zwischen strukturell ermöglichenden und kurzfristig dynamisierenden Faktoren unterscheiden.
die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Politische und gesellschaftliche Dynamiken in der Ukraine, Russland und auch in westlichen Gesellschaften folgen unterschiedlichen Zeitlichkeiten. Schlichte bemüht hier einen Satz Ernst Blochs: „Nicht alle sind im selben Jetzt da”.
der postimperiale Habitus: Bereits seit dem Zarenreich sind Gewalt, multiple Grenzverschiebungen sowie Phasen der De- und Re-Imperialisierung Teil der russischen Geschichte. Entsprechende Bewertungen haben sich tief in das Denken der russischen Elite und der Gesellschaft eingeschrieben – nicht zuletzt aufgrund eines Mangels an anderen Vorstellungen von Gesellschaft, die sich aufgrund einer dreißigjährigen sozioökonomischen Krise nach dem Zerfall der Sowjetunion nie entwickeln konnten.
die asymmetrische Figuration der innen- und außenpolitischen Beziehungen der Kriegsparteien: Zur Vorgeschichte des Krieges gehören auch aufeinander bezogene Wahrnehmungsmuster von globalen Hierarchieverhältnissen. Bestehen diese mit den dazugehörigen Konflikten über einen langen Zeitraum, so wirken sie identitätsstiftend und schreiben sich tief in die politische Kultur ein. Dies betrifft etwa das Bestreben Russlands, von den USA als Großmacht anerkannt zu werden.
die strukturierte Zeit des Konflikthandelns selbst: Seit dem Untergang der Sowjetunion können im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen unterschiedliche Konfliktphasen beobachtet werden. Ihre Linien verliefen „zeitlich punktuiert”
6 und haben sich, vermittelt durch kontingente Ereignisse und getrieben von intendierten und nicht-intendierten Konsequenzen,7 teils verselbstständigt.
Die politische Soziologie Schlichtes teilt mit jüngeren Veröffentlichungen das Anliegen, die IB-theoretischen Grundsatzdebatten um die Kriegsursachen zu überwinden, die Russlands Invasion wiederbelebt hat.