Die vielen Schichten des Krieges

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Gwendolyn Sasse2022

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 19.12.2022

te.ma DOI 10.57964/vhqc-z253

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 19.12.2022
te.ma DOI 10.57964/vhqc-z253

Jenseits paradigmatischer Grabenkämpfe zwischen Realisten und Liberalen beginnt sich die Kriegsursachenforschung differenziert mit Russlands Invasion der Ukraine seit Februar 2022 auseinanderzusetzen. Gwendolyn Sasse stellt den russischen Angriff in den Kontext eines Krieges, der bereits im Jahr 2014 begann. Eindimensionale Erklärungen seien jedoch wenig hilfreich. Vielmehr müssen innerstaatliche, regionale und internationale Faktoren zusammengedacht werden.

In ihrem Buch rekonstruiert Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin, das „Geflecht von miteinander verbundenen Entwicklungen”, das den Krieg zwischen Russland und der Ukraine seit Februar 2022 ermöglicht habe. Ihre Erklärung des Krieges ist dabei deutlich vielschichtiger als die medial breit diskutierten Deutungsangebote, die ihren Ursprung in den realistischen oder liberalen Großtheorien der Internationalen Beziehungen (IB) haben. Monokausale Erklärungen, die den Krieg vor allem aus der Großmachtkonkurrenz zwischen Russland und westlichen Staaten oder aus der inhärenten Aggressivität des russischen Autoritarismus erklären, bleiben Sasse zufolge unvollständig.1

Die Leistung ihrer Studie besteht hingegen in der Entflechtung der verschiedenen Ursachenkomplexe, die zum Krieg führten. Hierzu gehöre einerseits Russland selbst, dessen politisches Regime spätestens seit Wladimir Putins dritter Amtszeit als Präsident (2012-2018) immer autokratischer wurde und offen neo-imperiale Ambitionen verfolgte. Gleichzeitig müsse jedoch auch die russische Gesellschaft in die Analyse der Kriegsursachen einbezogen werden. Diese sei, so Sasse, mit staatlicher Geschichtspolitik und Propaganda durchdrungen worden. Dies könne zumindest teilweise erklären, warum eine Mehrheit hinter Putin und dem von ihm als „militärische Spezialoperation” verharmlosten Krieg gegen die Ukraine stehe.2 

Inwiefern die Forschung durch Meinungsumfragen derzeit überhaupt Zugriff auf gesellschaftliche Stimmungen in Russland hat, ist aktuell eine intensiv diskutierte Frage in der Forschung.3 Russlands verhärteter Autoritarismus und die nach Februar 2022 de facto eingeführte Kriegszensur haben die Erhebung von Daten für Forscher*innen immens erschwert. Nichtsdestotrotz greift Sasse mit der Einbeziehung der gesellschaftlichen Vorbedingungen des Krieges einen wichtigen Aspekt der jüngeren Russlandforschung auf, die von der „Ko-Konstruktion” der russischen Politik durch Staat und Gesellschaft spricht.4

Die Formierung der russischen Außenpolitik im Vorlauf des Krieges müsse dabei allerdings relational zu zwei weiteren Ursachenkomplexen gedacht werden. Zum einen habe sich die Ukraine – im Gegensatz zu Russland – durch einen seit 1991 bestehenden Zyklus mehrerer aufeinanderfolgender Massenproteste demokratisiert. Dieser Prozess sei nicht linear verlaufen, habe aber für die ukrainische Gesellschaft und Politik einen Aufbruch in Richtung Demokratie markiert.5 Damit sei spätestens seit 2004 die Stärkung einer, wie Sasse es bezeichnet, „staatszentrierten ukrainischen Identität” sowie letztendlich eine Westorientierung der Ukraine einhergegangen.6

Zum anderen habe sich die russische Kriegspolitik in Auseinandersetzung mit der Außenpolitik westlicher Staaten herausgebildet.7 Das Ergebnis sei eine zunehmende Diskrepanz zwischen westlichen und russischen Sicherheitswahrnehmungen gewesen. Hierzu beigetragen habe auch eine widersprüchliche Russlandpolitik westlicher Staaten. Zwar wurden bereits 2014 als Reaktion auf Russlands Annexion der Krim Sanktionen  verhängt. Allerdings hätten eine vor allem unter Donald Trump erratische Politik der USA und ein Festhalten europäischer Staaten an Energie-Großprojekten mit Russland eine eindeutige Zurückweisung des russischen Neo-Imperialismus unterlaufen.8 Diese Ambivalenzen sowie eine allgemeine Schwäche westlicher internationaler Organisationen hätten in der russischen Elite das Gefühl umfangreicher außenpolitischer Spielräume reifen lassen.9

Zu diesen langfristigen und „ermöglichenden” Faktoren kommen „produktive” und kurzfristiger wirkende hinzu.10 So habe die sukzessive Ausweitung des Krieges seit 2014 selbst zur Invasion Russlands im Februar 2022 beigetragen. Krieg habe zu mehr Krieg geführt. Auch Putins finale Kriegsentscheidung, die nicht eher als im Frühjahr 2021 gefallen sein dürfte, zähle zu den kurzfristigen Katalysatoren des Krieges.

Sasses Studie bietet keine allumfassende Interpretation und Erklärung des Krieges. Allerdings öffnet sich durch die analytische Unterscheidung räumlich und zeitlich unterschiedlich gelagerter Entwicklungen die Möglichkeit, differenziert nach Lösungsansätzen für den Krieg zu fragen. Neben der Regression Russlands und der Demokratisierung der Ukraine scheint hier auch ein Blick auf die notwendige Korrektur westlicher Politik geboten, deren widersprüchliche Signale gegenüber Russland in den Jahren vor dem 24. Februar 2022 ebenfalls zum Ursachengeflecht des Krieges zählen.

Fußnoten
10

Hierfür steht exemplarisch die Debatte zwischen dem Realisten John Mearsheimer und dem liberalen Michael McFaul. John J. Mearsheimer: The Causes and Consequences of the Ukraine War. In: Horizons: Journal of International Relations and Sustainable Development. Nr. 21, 2022, S. 12–27. https://www.jstor.org/stable/48686693; Michael McFaul und Robert Person: ''What Putin Fears Most.'' In: Journal of Democracy. Band 33, Nr. 2, 2022, S. 18-27.https://doi.org/10.1353/jod.2022.0015.

Busygina, Irina: ‘Special’ arbitrariness. In: Riddle, 12.07.2022. https://ridl.io/special-arbitrariness/, zuletzt geprüft am 17.07.2022.

Bryn Rosenfeld: Survey research in Russia. In the shadow of war. In: Post-Soviet Affairs. 2022, S. 1–11. https://doi.org/10.1080/1060586X.2022.2151767; Alexander Libman: Credibility revolution and the future of Russian studies. In: Post-Soviet Affairs. 2022, S. 1–10. https://doi.org/10.1080/1060586X.2022.2148446; Zur Überwindung des fehlenden Zugangs zu Daten über Umfragen bzw. statistische Erhebungen empfehlen einige Forscher*innen ethnographische Methoden. Siehe etwa Jeremy Morris: Political ethnography and Russian studies in a time of conflict. In: Post-Soviet Affairs. 2022, S. 1–9. https://doi.org/10.1080/1060586X.2022.2151275.

Samuel A. Greene und Graeme B. Robertson: Putin v. the People. The Perilous Politics of a Divided Russia. Yale University Press, New Haven, London 2019, ISBN 0300238398.

Henry E. Hale: Regime Cycles. Democracy, Autocracy, and Revolution in Post-Soviet Eurasia. In: World Politics. Band 58, Nr. 1, 2005, S. 133–165. https://doi.org/10.1353/wp.2006.0019.

Der somit entstandene zivile Nationalismus in der Ukraine steht im Gegensatz zum Scheitern des gleichen Projekts in Russland. Siehe J. Paul Goode: Russia’s ministry of ambivalence. The failure of civic nation-building in post-Soviet Russia. In: Post-Soviet Affairs. Band 35, Nr. 2, 2019, S. 140–160. https://doi.org/10.1080/1060586X.2018.1547040.

William Hill: No Place for Russia. European Security Institutions Since 1989. Columbia University Press, New York, NY 2018, ISBN 9780231801423.

Andreas Heinemann-Grüder: Russland-Politik in der Ära Merkel. In: SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen. Band 6, Nr. 4, 2022, S. 359–372. https://doi.org/10.1515/sirius-2022-4002.

Stefan Auer: Carl Schmitt in the Kremlin. The Ukraine Crisis and the Return of Geopolitics. In: International Affairs. Band 91, Nr. 5, 2015, S. 953–968. https://doi.org/10.1111/1468-2346.12392.

Die Idee ermöglichender und produktiver Faktoren geht auf Hillel David Soifer zurück: The Causal Logic of Critical Junctures. In: Comparative Political Studies. Band 45, Nr. 12, 2012, S. 1572–1597. https://doi.org/10.1177/0010414012463902. Auf die Nützlichkeit dieser Perspektive für eine Erforschung des russischen Krieges gegen die Ukraine hat Klaus Schlichte hingewiesen: 3 x Ukraine. Zur Politischen Soziologie eines Angriffskriegs. In: Leviathan. Band 50, Nr. 3, 2022, S. 413–438. https://doi.org/10.5771/0340-0425-2022-3.

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