Wer sich zu welcher Zeit an was erinnert und in welchem Umfang diese Erinnerung re-aktualisiert wird, kann maßgeblich für das nationale Selbstverständnis sein. Allerdings ist die Wechselwirkung zwischen nationaler Erinnerung und nationaler Identität nie statisch und kann von der jeweiligen Regierungspolitik auch kurzfristig stark beeinflusst werden. Vor diesem Hintergrund schreibt Alexander Motyl, ukrainisch-amerikanischer Historiker und Politikwissenschaftler, über Janukowytschs „Angriff auf die ukrainische Identität“ und das nationale Geschichtsbild.
Bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2010 löste Wiktor Janukowytsch (
Mit diesem geschichtspolitischen Schwenk sei, so Motyl, der Holodomor zu einem Lackmustest für politische Loyalität geworden: Wer sich für das Gedenken an den Holodomor einsetzte, widersetzte sich der pro-russischen Linie Janukowytschs.
Motyl geht von der Voraussetzung aus, dass der Holodomor von der stalinistischen Sowjet-Führung (1927-1953) bewusst in Kauf genommen wurde und mit einer anti-ukrainischen Gesinnung und einer aktiven Vernichtungsabsicht einherging
Bis heute ist das Zusammenspiel von Holodomor-Gedenken und Außenpolitik ein zentraler Bestandteil ukrainischer Tagespolitik: Je strapazierter das Verhältnis zu Russland war, desto mehr engagierte sich der ukrainische Staat für die Anerkennung der Hungersnot als Genozid. So präsentierte das Kiewer Holodomor-Museum etwa im Juni 2022 in London Elemente seiner Ausstellung unter dem Titel „the not condemned genocide of Ukrainians repeats“ und widmete sich anlässlich des Unabhängigkeitstages 2022 den Themen Getreide-Diebstahl und Hunger im Kontext der durch den Krieg ausgelösten Agrarkrise.
Die politische Priorisierung des Holodomor bringt als Nebeneffekt eine Vernachlässigung der Erinnerung an den Holocaust in der Ukraine mit sich: Während in der Ukraine in vielen Städten und Dörfern Zeichen der Erinnerung an den Holodomor zu finden sind - seien es staatlich geförderte oder zivilgesellschaftlich errichtete - bleibt die Erinnerung an den Holocaust und den deutschen Vernichtungskrieg im Osten des Landes eine Randerscheinung. Es ist der Holodomor, der im geschichtspolitischen Selbstverständnis des Landes die Funktion der Abgrenzung vom ‚ewigen Aggressor‘ Russland erfüllen kann und so die Legitimation des Nationalstaats durch ethno-kulturelle Bezüge stärkt.