Kasachstans vergessene Hungersnot

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Robert Kindler2012

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Geschrieben von Hera Shokohi

Bei te.ma veröffentlicht 10.10.2022

te.ma DOI 10.57964/f58c-4w58

Geschrieben von Hera Shokohi
Bei te.ma veröffentlicht 10.10.2022
te.ma DOI 10.57964/f58c-4w58

In Kasachstan wird die Erinnerung an die Hungersnot der 1930er Jahre kollektiv beschwiegen und verdrängt. In der Ukraine hingegen wird darum offen und konfrontativ gekämpft: Die katastrophalen Folgen jener zwei Jahre für die Menschen und die Entwicklung beider Länder schwingen in der Tagespolitik beider Länder bis heute mit. Während in der Ukraine der Stand der Beziehungen zu Russland eine Schlüsselrolle spielt, verhält sich Kasachstan treu zur russischen Linie.

Die 2012 veröffentlichte Analyse1 des Berliner Historikers Robert Kindler zeigt, wie die postsowjetische Nationsbildung in der Ukraine und Kasachstan im Umgang mit Stalinismus und Sowjetisierung erfolgte: Dabei wird die Schuld für die Verbrechen des Stalinismus ausschließlich nach außen verwiesen. Die Bevölkerung wird aus der Verantwortung ausgeklammert, obwohl die Gewaltexzesse ohne ihre Mittäterschaft nicht hätten stattfinden können. Sowohl Kasachstan als auch die Ukraine haben nach 1989, so Kindler, im Kern eine opferzentrierte Erinnerungstradition gepflegt. Kindler spricht von “Opfern ohne Täter”. Neben dieser Gemeinsamkeit hat Kindler jedoch auch deutliche Unterschiede in den Strategien der Erinnerungspolitik beider Staaten ausgemacht.

Kindler arbeitet mit dem Ansatz des historischen Vergleichs, integriert in seine Analyse grundlegende erinnerungstheoretische Erkenntnisse2, und setzt diese mit der postsozialistischen Nationsbildung sowohl Kasachstans als auch der Ukraine in Beziehung. 

Kasachstan hat nach dem Zerfall der Sowjetunion das kommunistische Bild des Landes übernommen: Kasachstan als Laboratorium der Völkerfreundschaft. Die politische Führung preist die Multiethnizität des Landes, erkennt die Gewaltgeschichte dahinter aber nicht an. Die eigene Geschichte während der Sowjetunion sollte – aufgrund eines Verlustes von Überlieferung und Erinnerungsorten im Rahmen der Sowjetisierung – kontinuierlich und positiv gedeutet werden. Dazu passt, dass die Erinnerung an die Hungersnot für die Zivilgesellschaft nahezu gar keine Rolle spielt. Bis heute hält die Regierung ritualisierte jährliche Gedenkveranstaltungen ab und behält damit die Deutungshoheit.  

Die Ukraine hingegen hat die als Holodomor bezeichnete Hungersnot nach dem Ende der Sowjetunion als einen gezielten Gewaltakt mit Vernichtungsabsicht, und damit als eine Gewalt von Außen gedeutet, nicht zuletzt, um ihre nationalstaatliche Existenz zu legitimieren. Der Umgang der ukrainischen Regierung mit Russland in dieser Frage hat in der jüngeren Vergangenheit auch die Zivilgesellschaft bewegt: So waren es zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich für die Erinnerung an den Holodomor und die Aufarbeitung des Stalinismus einsetzten, als Wiktor Janukowytsch eine Kehrtwende in der Erinnerungspolitik 2010 einläuten wollte.

Robert Kindler ergänzt durch den historischen Vergleich die Beiträge von Alexander Motyl und Georgiy Kasianov, die beide die ukrainische Erinnerungskultur ganz direkt mit der Haltung zu Russland verknüpft sehen. Er erweitert so den Kontext der postsowjetischen Nationenbildung der beiden Länder und beschreibt, wie die jeweilige Erinnerung an den Holodomor in das erinnerungspolitische Narrativ beider Länder integriert wurde.


Fußnoten
2

Das Entstehungsjahr der Analyse wurde durch einen redaktionelles Versehen zunächst nicht im Text erwähnt. Es wurde am 11.10.2022, 15:30 nachgetragen. /te.ma-Redaktion/

Reinhart Koselleck: Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses, in: (Hrsg.) Volkard  Knigge/Norbert Frei: Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005, S. 20-32.

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Total 4

Die Gegenüberstellung Ukraine-Kasachstan in diesem Zusammenhang ist m.E. nicht differenziert genug. Auch wenn die These des Autors stimmen mag, dass die Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit und des “Holodomor” in Kasachstan staatlich gelenkt sei, ist nicht von der Hand zu weisen, dass in Kasachstan Gedenkstätten für die Opfer der Gulags eingerichtet und gepflegt werden, z.B. in Karaganda (Karlag) oder das Frauenlage “Alzhir”. 2014 ist in Astana an prominenter Stelle ( in einem Wohn-und Geschäftsviertel) ein Denkmal für die Opfer des “Holodomor” errichtet worden. Ich war dabei.

Sorry, die Darstellung in diesem Artikel ist schlicht ärgerlich.

Total 8

Liebe Jeannette,

vielen Dank für Ihren Kommentar! Sie sprechen sehr wichtige Sachen an und ich möchte gerne auf einige Ihrer Punkte eingehen. Vorab möchte ich anmerken, dass Kindlers Text aus dem Jahr 2012 ist - und somit schon zehn Jahre alt - und dass dieser Verweis in der Intro fehlt. Das war ein Fehler seitens der Redaktion und das Team hat das bereits nachgetragen, wie ich sehe.

Seit 2012 ist natürlich eine Menge passiert: Es wurden einige Denkmäler errichtet und es wurde auch eine staatlich geförderte Kommission zur Rehabilitierung der Opfer der Hungersnot gegründet.

Ich finde auch, dass die Geschichte des Gulag in dem Aufsatz Kindlers zu kurz kommt, aber dieser Fokus auf die Hungersnot wurde vom Autor bewusst gewählt. Der Text stellt nicht den Anspruch, den Stalinismus als Gewaltsystem und seine Aufarbeitung darzustellen und das nehme ich zur Kenntnis. Das gesamt-gesellschaftliche Ausmaß der stalinistischen Gewalt thematisiert Kindler in seinem 2014 erschienen Buch “Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan”, was ich sehr empfehlen kann!

Als Erinnerungsforscherin frage ich mich oft, ob das Aufstellen von Denkmälern und das Erbauen von Gedenkstätten schon ausreicht, um zu sagen, dass etwas ‘aufgearbeitet’ ist. Gerade wenn, wie im Falle Kasachstans, die Gedenkstätten staatlich finanziert sind. Ich habe oft Zweifel daran, etwas als ‘gelungene Aufarbeitung’ zu bezeichnen nur anhand der Tatsache, dass Denkmäler und Gedenkstätten vom Staat errichtet werden. Ob Erinnerung lebendig ist und von der Zivilgesellschaft wahrgenommen wird, lässt sich m.E. nicht anhand der Anzahl von Denkmälern und Gedenkstätten im öffentlichen Raum festmachen.

Wie sehen Sie das? Und möchten Sie vielleicht von Ihren Eindrücken bei der Denkmal-Errichtung in Astana 2014 berichten? Ich fände das sehr spannend und freue mich auf Ihre Antwort!

Total 4

Hallo!

Ich finde aus Ihrer Antwort folgenden Satz toll: “Als Erinnerungsforscherin frage ich mich oft, ob das Aufstellen von Denkmälern und das Erbauen von Gedenkstätten schon ausreicht, um zu sagen, dass etwas ‘aufgearbeitet’ ist.”

Wenn sie eine Forderungsliste an Staaten zur - soweit möglich - vollständigen Aufarbeitung von vergangenen Schandtaten formulieren wollen würden, was würden Sie fordern?

Gedänkstätten, Unterstützung von Vereinen/Verbänden zur Aufarbeitung, Inklusion in den Schulunterricht würden mir spontan einfallen.

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