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Wie hältst du’s mit dem Holodomor?

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Alexander J. Motyl2010
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Wie hältst du’s mit dem Holodomor?

»Deleting the Holodomor: Ukraine Unmakes Itself«

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Geschrieben von Hera Shokohi

Bei te.ma veröffentlicht 10.10.2022

te.ma DOI 10.57964/fb8f-cn75

Geschrieben von Hera Shokohi
Bei te.ma veröffentlicht 10.10.2022
te.ma DOI 10.57964/fb8f-cn75

Im Jahr 2010 wurde der kremltreue Wiktor Janukowytsch zum Präsidenten der Ukraine gewählt. Alexander J. Motyl analysiert in einem kurz nach der Wahl erschienenen Artikel, wie die Erinnerung an die Hungersnot der Jahre 1932/33 (Holodomor) zu einem politischen Statement wurde. Der Umgang mit dem Holodomor wirkt seitdem in der Ukraine als Lackmustest für politische Loyalitäten.

Wer sich zu welcher Zeit an was erinnert und in welchem Umfang diese Erinnerung re-aktualisiert wird, kann maßgeblich für das nationale Selbstverständnis sein. Allerdings ist die Wechselwirkung zwischen nationaler Erinnerung und nationaler Identität nie statisch und kann von der jeweiligen Regierungspolitik auch kurzfristig stark beeinflusst werden. Vor diesem Hintergrund schreibt Alexander Motyl, ukrainisch-amerikanischer Historiker und Politikwissenschaftler, über Janukowytschs „Angriff auf die ukrainische Identität“ und das nationale Geschichtsbild.

Bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2010 löste Wiktor Janukowytsch (Partei der Regionen) seinen Vorgänger Wiktor Juschtschenko (Unsere Ukraine) ab. Juschtschenko hatte sich in seiner Amtszeit von 2005 bis 2010 intensiv dafür eingesetzt, dass der Holodomor, die Hungersnot in den 1930er Jahren, als Genozid anerkannt werden soll. Der Höhepunkt von Juschtschenkos Erinnerungs-Engagement war ein Gesetzeserlass aus dem Jahr 2006, in dem festgelegt wurde, dass der Holodomor als ein Genozid am ukrainischen Volk aufzufassen sei1. Ziel des neuen Präsidenten Janukowytsch sei es dagegen gewesen, die Ukraine wieder enger an Russland zu binden und die Beziehungen zu Moskau zu verbessern. Dazu wurde das vorher etablierte und staatlich geförderte Gedenken an den Holodomor nahezu eingestellt. Die pro-russische Regierung und ihre Anhänger sahen den Holodomor als Teil einer größeren pan-sowjetischen Katastrophe an, die auch Russland, Belarus und Kasachstan traf.

Mit diesem geschichtspolitischen Schwenk sei, so Motyl, der Holodomor zu einem Lackmustest für politische Loyalität geworden: Wer sich für das Gedenken an den Holodomor einsetzte, widersetzte sich der pro-russischen Linie Janukowytschs. 

Motyl geht von der Voraussetzung aus, dass der Holodomor von der stalinistischen Sowjet-Führung (1927-1953) bewusst in Kauf genommen wurde und mit einer anti-ukrainischen Gesinnung und einer aktiven Vernichtungsabsicht einherging2. Dieser Deutung folgen auch Autor:innen wie Anne Applebaum, die die Hungersnot und das darauffolgende Ende der Korenizacija als anti-ukrainisch motivierte Gewalt ansieht3. Andere Historiker:innen, wie etwa Robert Kindler, ordnen den Holodomor in einen breiteren Kontext der durch die Sowjetisierung ausgelösten Hungersnöte in den Jahren 1930-33 ein, die etwa in Kasachstan zur kompletten Auslöschung der indigenen nomadischen Gesellschaftsstruktur geführt habe.4

Bis heute ist das Zusammenspiel von Holodomor-Gedenken und Außenpolitik ein zentraler Bestandteil ukrainischer Tagespolitik: Je strapazierter das Verhältnis zu Russland war, desto mehr engagierte sich der ukrainische Staat für die Anerkennung der Hungersnot als Genozid. So präsentierte das Kiewer Holodomor-Museum etwa im Juni 2022 in London Elemente seiner Ausstellung unter dem Titel „the not condemned genocide of Ukrainians repeats“ und widmete sich anlässlich des Unabhängigkeitstages 2022 den Themen Getreide-Diebstahl und Hunger im Kontext der durch den Krieg ausgelösten Agrarkrise.

Die politische Priorisierung des Holodomor bringt als Nebeneffekt eine Vernachlässigung der Erinnerung an den Holocaust in der Ukraine mit sich: Während in der Ukraine in vielen Städten und Dörfern Zeichen der Erinnerung an den Holodomor zu finden sind - seien es staatlich geförderte oder zivilgesellschaftlich errichtete - bleibt die Erinnerung an den Holocaust und den deutschen Vernichtungskrieg im Osten des Landes eine Randerscheinung. Es ist der Holodomor, der im geschichtspolitischen Selbstverständnis des Landes die Funktion der Abgrenzung vom ‚ewigen Aggressor‘ Russland erfüllen kann und so die Legitimation des Nationalstaats durch ethno-kulturelle Bezüge stärkt.

Fußnoten
4

Verkhovna Rada of Ukraine: On the Holodomor of 1932-33 in Ukraine. 28. November 2006, abgerufen am 30. September 2022.

link zu Das ist eine ethnisch-nationale Interpretationsweise des Holodomors, wie Wilfried Jilge in seinem Aufsatz über Holodomor und Geschichtspolitik skizziert. Vgl. Wilfried Jilge: Holodomor und Nation. Der Hunger im ukrainischen Geschichtsbild. In: Osteuropa. Nr. 12, 2004, S. 146-163.

Anne Applebaum: Red Famine. Stalin’s War on Ukraine. London 2018

oder hier den Link zu Kindler? Robert Kindler: Opfer ohne Täter. Kasachische und ukrainische Erinnerung an den Hunger 1932/33. In: Osteuropa. Nr. 3, 2012, S. 105-120; Robert Kindler: Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan. Hamburg 2014.

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