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Wie Bilingualität das Gehirn trainiert

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Wie Bilingualität das Gehirn trainiert

»Bilingualism: consequences for mind and brain«

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Geschrieben von Dennis Yücel

Bei te.ma veröffentlicht 25.01.2024

te.ma DOI 10.57964/55gc-2y34

Geschrieben von Dennis Yücel
Bei te.ma veröffentlicht 25.01.2024
te.ma DOI 10.57964/55gc-2y34

Bilingualität ist eine komplizierte Angelegenheit: Zwei Sprachen im Kopf auseinanderzuhalten, beansprucht zusätzliche kognitive Ressourcen. Die Psycholog*innen Ellen Bialystok, Fergus Craik und Gigi Luk sagen: Das könnte zweisprachige Menschen langsamer machen – gleichzeitig aber das Gehirn stärken und vor Demenz schützen.

Intuitiv könnte man annehmen, dass Zweisprachigkeit die Sprachkompetenz stärkt. Wer zusätzlich zur Erstsprache eine weitere Sprache beherrscht, könnte man glauben, erweitert Wortschatz und Horizont, trainiert Sprachgefühl und semantisches Verständnis. Tatsächlich scheint aber das Gegenteil der Fall zu sein. Zahlreiche psycholinguistische Studien zeigen, dass bilinguale Menschen in ihren beiden Sprachen durchschnittlich schlechter abschneiden als Menschen, die nur eine Sprache beherrschen. In Tests zeigen bilinguale Kinder und Erwachsene etwa durchschnittlich einen kleineren Wortschatz als monolinguale Menschen. Sie reagieren durchschnittlich auch langsamer und weniger präzise, zum Beispiel wenn sie Gegenstände benennen müssen. Selbst alltägliche Wörter kommen zweisprachigen Menschen in diesen Studien durchschnittlich langsamer in den Sinn als einsprachigen Menschen – und das selbst, wenn sie nur in ihrer dominanten Sprache getestet werden.1

Gleichzeitig zeigen verschiedene Untersuchungen jedoch auch kognitive Stärken von bilingualen Menschen.2 Während sie in Sprachtests schlechter abschneiden, erzielen sie bei nicht-verbalen neuropsychologischen Tests in der Regel bessere Leistungen als monolinguale Menschen. Dies betrifft etwa Tests, die Konzentrationsfähigkeit, kognitive Flexibilität sowie die Fähigkeit untersuchen, zwischen verschiedenen Aufgaben zu wechseln (Task Switching). 

In der vorliegenden Studie haben sich die Psycholog*innen Ellen Bialystok, Fergus Craik und Gigi Luk zahlreiche dieser Studien angesehen. Ihre These: Beide Ergebnisse – sowohl das schlechtere Abschneiden von bilingualen Menschen bei Sprachtests als auch ihr Vorteil bei den exekutiven Funktionen – hängen zusammen. 

Die Forschung geht nach heutigem Stand nicht davon aus, dass in einem bilingualen Gehirn zwei voneinander getrennte Sprachsysteme vorliegen, die je nach Kontext separat aufgerufen werden können. Stattdessen stützen aktuelle Untersuchungen die These, dass sich beide Sprachsysteme in einer konstanten Interaktion befinden – und zwar selbst dann, wenn eine der Sprachen gerade gar nicht gebraucht wird.

Müssen zwei Sprachen im Kopf konstant auseinandergehalten werden, beansprucht dies zusätzliche kognitive Ressourcen. Dies könnte sowohl der Grund sein, warum bilinguale Menschen in der Regel langsamer Wörter finden als monolinguale Menschen (ihre Gehirne haben mehr zu tun und müssen aus zwei Sprachsystemen auswählen), als auch, warum bilinguale Menschen in anderen kognitiven Tests besser abschneiden. Bialystok, Craik und Luk entwickeln auf Grundlage diverser Studien die These, dass Zweisprachigkeit Anforderungen an das kognitive System stelle und Gehirnregionen beanspruche, die normalerweise nicht für die Sprachverarbeitung genutzt werden. Bilinguale Menschen trainierten diese Systeme somit konstant. 

Vor diesem Hintergrund entwickeln die Autor*innen schließlich ihre These, dass Zweisprachigkeit auch das Auftreten von Demenzsymptomen hinauszögern könnte. Eine unter anderem von Bialystok und Craik durchgeführte Studie lieferte hier bereits erste Anhaltspunkte.3 Die Autor*innen hatten sich dafür Krankenakten von monolingualen und bilingualen Patient*innen mit Demenzerkrankungen angesehen. Im Durchschnitt, so stellten sie fest, wurden erste Symptome bei zweisprachigen Menschen drei bis vier Jahre später als bei einsprachigen Menschen festgestellt. Weitere Studien haben im Anschluss weitestgehend ähnliche Ergebnisse geliefert.4 Dies werten die Autor*innen als einen ersten Hinweis, dass die Vorteile durch Zweisprachigkeit auch im Alter Bestand haben und das Gehirn vor altersbedingtem kognitiven Abbau schützen könnten.

Bilingualität verbessert nach der in vorliegender Studie aufgeführten Datenlage also nicht unbedingt die Sprachfähigkeiten5 – sie könnte allerdings die Gehirnstrukturen auf eine solche Weise verändern, dass kognitive Fähigkeiten nachhaltig gestärkt und geschützt werden. 

Fußnoten
5

Von Bialystok und ihren Kolleg*innen werden insgesamt 15 Studien aus dem Zeitraum 2000 bis 2010 angeführt, darunter auch einige ihrer eigenen Arbeiten. Exemplarisch angeführt werden kann: Ellen Bialystok, Gigi Luk, Kathleen F. Peets, Sujin Yang: Receptive vocabulary differences in monolingual and bilingual adults. In: Bilingualism: Language and Cognition. Band 15, 2011, S. 397–401; Albert Costa, Mikel Santesteban: Lexical access in bilingual speech production: evidence from language switching in highly proficient bilinguals and L2 learners. In: Journal of Memory and Language. Band 50, 2004, Nr. 4, S. 491–511; Tamar H. Gollan, Christine Fennema-Notestine, Rosa I. Montoya, Terry L. Jernigan: The bilingual effect on Boston Naming Test performance. In: Journal of the International Neuropsychological Society. Band 13, Nr. 2, 2007, S. 197–208; Iva Ivanova, Albert Costa: Does bilingualism hamper lexical access in speech production? In: Acta Psychologica. Band 127, Nr. 2, 2008, S. 277–288.

 Ellen Bialystok, Fergus I.M. Craik, Gigi Luk: Lexical access in bilinguals: effects of vocabulary size and executive control. In: Journal of Neurolinguistics. Band 21, Nr. 6, 2008, S. 522–538; Ellen Bialystok, Fergus I.M. Craik, Raymond Klein, Mythili Viswanathan: Bilingualism, aging, and cognitive control: evidence from the Simon task. In: Psychology and Aging. Band 19, Nr. 2, 2004, S. 290–303; Judy Lee Salvatierra, Monica Rosselli: The effect of bilingualism and age on inhibitory control. In: International Journal of Bilingualism. Band 15, Nr. 1, 2010, S. 26–37.


Ellen Bialystok, Fergus I. M. Craik, Morris Freedman: Bilingualism as a protection against the onset of symptoms of dementia. In: Neuropsychologia. Band 45, 2007, S. 459–464.

Fergus I. M. Craik, Ellen Bialystok, Morris Freedman: Delaying the onset of Alzheimer’s disease: bilingualism as a form of cognitive reserve. In: Neurology. Band 75, 2010, S. 1726–1729; Howard Chertkow, Victor Whitehead, Natalie Phillips, Christina Wolfson, Julie Atherton, Howard Bergman: Multilingualism (but not always bilingualism) delays the onset of Alzheimer’s disease: evidence from a bilingual community. In: Alzheimer Disease and Associated Disorders. Band 24, 2010, S. 118–125; Gitit Kavé, Nitza Eyal, Aviva Shorek, Jiska Cohen-Mansfield: Multilingualism and cognitive state in the oldest old. In: Psychology and Aging. Band 23, 2008, S. 70–78; Tamar H. Gollan, David P. Salmon, Rosa I. Montoya, Douglas R. Galasko: Degree of bilingualism predicts age of diagnosis of Alzheimer’s disease in low-education but not in highly educated Hispanics. In: Neuropsychologia. Band, 49, 2001, S. 3826–3830.

Auch Bialystok geht jedoch davon aus, dass Zweisprachigkeit einen positiven Einfluss auf gewisse sogenannte metalinguistische Kapazitäten hat, also Fähigkeiten, linguistische Problemstellungen zu erfassen. Siehe hierzu etwa: Jakob Cromdal: Childhood bilingualism and metalinguistic skills: Analysis and control in young Swedish–English bilinguals. In: Applied Psycholinguistics, Band 20, Nr. 1, 1999, S. 1-20.

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