Geschlechterdifferenz, sagt Paula-Irene Villa, werde vom späten 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart zumeist als natürliche Tatsache verstanden. Dieser Vorstellung stünden jedoch seit den 1970er und 80er Jahren diverse Studien der Geschlechterforschung und ein feministischer politischer Diskurs entgegen.
Wie die Soziologin nachzeichnet, rekonstruierten damals empirische, überwiegend sozialwissenschaftliche Arbeiten die vermeintliche Natürlichkeit der Geschlechterdifferenz als Ergebnis sozialer Verhältnisse. Die Studien zeigen auf, dass es eine Geschichte hat, was unter „Natur“ verstanden und unter diesem Blick untersucht wird. Parallel entwickelt sich eine feministische Kritik gegen Diskurse, die soziale Ungleichheiten mit Verweisen auf vermeintlich biologische Gegebenheiten zu begründen und legitimieren versuchen. So wächst zunehmend ein soziales Verständnis von Geschlechtlichkeit und Geschlechterrollen.
Sowohl in der Forschung als auch im politischen Diskurs, betont Villa, sei das Ziel nicht gewesen, die Realität der Biologie oder biologische Einflüsse auf Geschlechterdifferenzen grundsätzlich zu negieren. Vielmehr habe die Kritik darauf abgezielt, eine „deterministische Kausalität“ zwischen Biologie und Geschlechterrolle infrage zu stellen – eine biologisch begründete, unverrückbare Seinsbestimmung dessen, was es heißt, „Mann“ oder „Frau“ zu sein.
Villa führt hier etwa Ann Oakleys Sex, Gender, and Society aus dem Jahr 1972
Doch wie Villa zeigt, reicht die Geschichte des Begriffspaares tiefer. Als entscheidende Einflüsse nennt sie zwei Forschungsstränge der 1950er und 60er Jahre. Zum einen die Sexualwissenschaft, zum anderen die sogenannte Ethnomethodologie in der Soziologie.
Auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft nennt Villa insbesondere John Money (1921-2006). Der auf Inter- und Transsexualität spezialisierte US-amerikanische Psychiater gilt als Urheber der Begriffe „Gender Role“ und Geschlechtsidentität. Er habe als einer der ersten Wissenschaftler darauf hingewiesen, dass biologisches und soziales Geschlecht nicht immer deckungsgleich sein müssen, und ein Modell entwickelt, das nicht nur zwischen Sex und Gender, sondern zwischen insgesamt sieben Dimensionen von Geschlechtlichkeit unterscheidet. Die Arbeit des Psychiaters war in vielen Bereichen richtungsweisend, ist jedoch heute – darauf weist Villa explizit hin – weitestgehend diskreditiert. Der Selbstmord eines seiner Patienten wirft ein dunkles Licht auf Moneys Arbeit.
Villa unterstreicht, dass auch in der Soziologie in den 1960er Jahren die Erkenntnis gewachsen sei, dass Geschlechtszugehörigkeit nicht allein ein Faktor von anatomischen oder hormonellen Aspekten ist, sondern als soziale Tatsache maßgeblich davon abhängt, was „getan, gesagt, gewusst, gezeigt“ wird. Als bahnbrechend nennt Villa die von Harold Garfinkel (1917-2011) begründete
Garfinkel zeigt dabei, dass im Alltag von der sozialen Rolle auf das biologische Geschlecht geschlossen wird – nicht umgekehrt. Wer sich in der Öffentlichkeit erfolgreich in einer Geschlechterrolle zeigt, dem wird auf Grundlage dessen der „passende“ Körper unterstellt. Diese These, unterstreicht Villa, hat auch Stefan Hirschauer aufgegriffen, der sich im deutschsprachigen Raum maßgeblich mit den Arbeiten Garfinkels auseinandergesetzt hat. Hirschauer weist darauf hin, dass der Körper nicht die Basis sozialer Prozesse sei, sondern deren Effekt. Gender geht Sex im Verständnis der Ethnomethodologie also gewissermaßen voraus.
Vor dem Hintergrund dieses Gedankens, der sich in ähnlicher Form auch bei der prominenten Soziologin Judith Butler findet („Sex ist immer schon Gender gewesen“), entstand in den 1980er und 90er Jahren schließlich eine Fülle von Studien im Grenzbereich zwischen Sozial- und Naturwissenschaft. Sie rekonstruieren, fasst Villa zusammen, wie auch in den Naturwissenschaften, etwa in der Anatomie, Genetik oder Neurologie, das vermeintlich rein biologische „Rohmaterial“ immer im Rahmen eines wissenschaftlichen Paradigmas in den Blick genommen wird, das durch bestimmte soziale Vorstellungen von Geschlechtlichkeit — sprich Gender — geprägt ist. Sex, zeigen diese Arbeiten, wird also auch in den Wissenschaften von einem „gegenderten“ Blick untersucht.
Dies bedeute nicht, sagt Villa, dass diese wissenschaftlichen Konstrukte deswegen verzichtbar, beliebig oder gar Hirngespinste seien oder Geschlechtlichkeit keine biologische Dimension habe. Es führe aber in eine Komplexität, in der sich nicht mehr eindeutig zwischen beiden Kategorien unterscheiden lasse. Sex sei immer auch Gender, Gender immer auch Sex.
Geschlecht ist heute weder rein biologisch noch rein sozial zu verstehen. Während die Unterscheidung zwischen Sex und Gender im 20. Jahrhundert enorm produktiv gewesen sei, weiche in der heutigen Forschungslandschaft die einfache Gegenüberstellung immer mehr der Anerkennung einer wechselseitigen Verklammerung. Sex und Gender, sagt Villa, sind ko-konstitutiv – das eine gibt es nicht ohne das andere.
Weiterführend lässt sich zeigen, dass dieses Paradigma auch in der Biologie zunehmend aufgegriffen wird. Etwa in der von Sari van Anders etablierten Sozialen Neuroendokrinologie. Dort wird Geschlecht stets im Verbund Gender/Sex in den Blick genommen.