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SPECIAL INPUT: Ravna Marin Siever

„Welches Pronomen willst du heute benutzen?“ – Geschlechtsoffene Erziehung und Sprache

Ravna Siever ist Autorx des Ratgebers für geschlechtsoffene Erziehung Was wird es denn? Ein Kind!. Im te.ma-Interview spricht sier über das Aufbrechen starrer Rollen, den kindlichen Umgang mit wechselnden Pronomen und gesellschaftliche Perspektiven für geschlechtersensible Sprachneuerungen.

Gendergerechte Sprache?

Die Fragen stellten Deborah Arbes und Julian Andrej Rott aus der Fachkuration des Kanals „Gendergerechte Sprache?“.

DA: Ravna Siever, Sie haben einen Leitfaden für geschlechtsoffene Erziehung geschrieben: Was wird es denn? Ein Kind! Gab es in Ihrem Leben Schlüsselmomente, in denen Sie dachten: „Was ist eigentlich los mit dem Thema Geschlecht in unserer Gesellschaft? Damit muss ich mich auseinandersetzen.“?

RS: Ja, es gab viele Momente. Das Erste, was mir einfällt, ist diese Situation mit 17 Jahren auf Klassenfahrt in Italien. Zu der Zeit habe ich überlegt, ob ich eventuell ein trans Mann bin. Ich habe mich nach außen hin sehr maskulin gegeben, hatte kurze Haare und war in Hemd und weite Hose gekleidet. An einer Raststätte wollte ich auf die Toilette gehen, aber die Person, die davorstand, wollte mich partout nicht auf das Damenklo lassen. Sie sprach nur Italienisch, ich sprach kein Italienisch. Schließlich habe ich mein Hemd hochgezogen, sodass sie meine Brüste sehen konnte, und dann durfte ich endlich auf die Toilette gehen. In dem Moment wollte ich einfach nur pinkeln. Aber es wurde ein riesiges Thema daraus gemacht, auf welches Klo ich gehe.

DA: Wie sind Sie schließlich auf die Idee gekommen, dieses Buch zu schreiben?

RS: Ich hatte mich während meines Philosophie- und Germanistikstudiums schon mit Geschlechterfragen und Gendertheorie auseinandergesetzt, aber noch nicht mit Bezug auf Kinder. Das fing an, als ich mit dem großen Kind schwanger war. Ich habe bemerkt, wie viele geschlechtliche Erwartungen an das noch nicht mal geborene Kind gestellt wurden. Das hat mich massiv gestört. So begann ich 2014 einen Blog über Geschlecht und Kinder zu schreiben. Die Idee für das Buch selbst kam dann vom Verlag. Von alleine wäre ich nicht an den Verlag herangetreten, ich hatte ja drei kleine Kinder und das sind nicht die besten Bedingungen, um konzentriert zu schreiben. Aber ich habe es trotzdem getan und bin auch sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Ich schreibe wirklich gerne, vor allem Lyrik. Dass mein erstes Buch ein Elternratgeber wird, hätte ich niemals gedacht.

DA: Direkt am Anfang des Buches dekonstruieren Sie die Kategorie Geschlecht und trennen soziale Eigenschaften eines Menschen von biologischen Merkmalen. Warum ist Ihnen diese Differenzierung so wichtig?

RS: Ich glaube, dass die Verknüpfung nicht sinnvoll ist. Das war früher tatsächlich auch nicht so eng. Geschlecht war im Wandel der Zeit eher von der sozialen Funktion geprägt, der Körper weniger stark geschlechtlich kodiert. Diese Entwicklung ist relativ neu. Natürlich haben unterschiedliche Körper unterschiedliche Möglichkeiten – Kinder zeugen oder Kinder gebären können, ist etwas Gewichtiges. Das ist zwar nicht das alleinige Merkmal, das Männer und Frauen voneinander unterscheidet, aber „Geschlecht“ wird oft darauf reduziert. Davon sind dann auch viele cis Frauen und cis Männer betroffen. Manchen Frauen wird gesagt, sie seien keine richtigen Frauen, weil sie keine Kinder bekommen können oder keinen Uterus (mehr) haben. Hier fehlt mir die Trennschärfe, und es wird sehr viel vereinfacht. 

DA: Und dieser Vereinfachung entgegenzuwirken ist für die gesamte Gesellschaft relevant?

Die Art, wie wir mit Geschlecht umgehen, hat massiven Schaden angerichtet. Im Buch beantworte ich die oft gestellte Frage, ob es keine anderen Probleme gibt, mit: „Doch, jede Menge.“ Aber alle hängen irgendwie mit Geschlecht zusammen. Ich möchte das aufbrechen, weil ich glaube, dass alle davon profitieren würden. Gerade lese ich das Buch von Nils Pickert, der sich viel mit Jungen- und Männerarbeit und der Konstruktion von Männlichkeit beschäftigt. Feministischen Personen wird ja gerne vorgeworfen, sie würden Männer hassen. Ich hasse Männer nicht, im Gegenteil. Ich sehe, dass sie sehr unter den Ansprüchen an die Geschlechter leiden. Ich möchte das gerne ändern. Ich wünsche mir ein liebevolles Miteinander und ich glaube, das können wir mit der Art und Weise, wie wir Geschlecht derzeit behandeln, nicht erreichen. 

Die Art, wie wir mit Geschlecht umgehen, hat massiven Schaden angerichtet.

DA: Sie berichten, dass es in den Familien beim Thema „Geschlecht“ vieles umzudenken gibt, auch in der Praxis. Welche Vorteile haben Kinder, die geschlechtsoffen aufwachsen?

RS: Ein Vorteil, den ich bei meinen Kindern und anderen Kindern in meinem Umfeld sehe, ist, dass sie sich schon früh mit ihrem eigenen Geschlecht auseinandersetzen und das auch sehr differenziert tun können und dürfen. Dadurch erfahren sie eine andere Sicherheit in ihrer Identität. Mein großes Kind hat mal einen schönen Satz gesagt: „Jetzt gerade bin ich für immer.“ Oft haben wir das Gefühl, dass etwas für immer ist, aber es ist eigentlich nur für den Moment. Ich glaube, es ist gut, wenn Kinder die Freiheit haben, nicht immer derselbe Mensch sein zu müssen, sondern einfach sein dürfen, wie sie sind, zu jedem beliebigen Zeitpunkt. Das sehe ich definitiv als großen Vorteil.

DA: Gibt es auch Nachteile der geschlechtsoffenen Erziehung?

RS: Ein Nachteil ist natürlich, dass das Kind öfter Dinge erklären muss. In der Schule wird es gefragt, ob ich seine Mama oder sein Papa bin. Und das Kind sagt dann immer: Nein, das ist mein Elter. Das ist Ravna. Für Kinder ist das meistens in Ordnung. Aber jetzt in der dritten Klasse fängt es langsam an, dass die Kinder bereits sehr gefestigte Ansichten haben, und das kann zu Konflikten führen. Früher musste mein Kind den Erwachsenen oft Dinge erklären. Das ist natürlich anstrengend. Aber je mehr Kinder geschlechtsoffen aufwachsen, desto weniger anstrengend wird es. Ich sage meinem Kind auch immer: „Wenn du sagst: ‚Das ist meine Mama‘, weil du gerade keine Lust auf Diskussionen hast, ist das in Ordnung.“ Aber das ist eine Vereinbarung zwischen mir und meinem Kind. Ich muss meine Kämpfe nicht auf das Kind übertragen. Es darf selbst entscheiden, ob es in diese Diskussion einsteigen möchte oder nicht. Das gilt aber nicht für andere, sondern ist eine Vereinbarung nur zwischen meinen Kindern und mir.

JAR: Sprachliche Neuerungen können anstrengend sein. Was raten Sie Menschen, die besorgt sind, dass das für Kinder zu schwierig sein könnte?

RS: Ich glaube, man kann in dieser Hinsicht viel entspannter sein, als viele denken. Oftmals erlebe ich in Workshops oder Vorträgen, dass Leute große Panik davor haben, dass sie nicht immer alles richtig machen. Aber das ist völlig normal. Ich ändere meine Sprache auch nicht in jedem Kontext konsequent. Wenn ich in einem Umfeld bin, in dem alle Leute nicht entgendern, dann werde ich es sehr wahrscheinlich auch weniger tun. Das ist okay. Es ist ein natürlicher Wechsel in unserem sprachlichen Verhalten, der im sozialen Miteinander stattfindet. Wir sprechen in verschiedenen sozialen Kontexten unterschiedlich. Das ist nichts, worüber man sich große Sorgen machen muss. Ich denke, es ist für das Kind hilfreich zu wissen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt und dass eine gewisse Offenheit dafür da ist. Dass sie wissen: „Ich habe eine Sprache, die mehr umfasst als das, was man normalerweise so mitbekommt.“

Es ist für das Kind hilfreich zu wissen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt und dass eine gewisse Offenheit dafür da ist.

DA: Sie schreiben in Ihrem Buch „Geschlecht ist fast überall präsent, aber fast nirgendwo relevant“. Wenn Geschlecht wirklich nicht relevant ist, dann könnte man ja auch einfach weiter das generische Maskulinum benutzen, oder?

RS: Ja, könnte man. Ich reiße auch niemandem den Kopf ab, der das tut. Leute haben manchmal die Vorstellung, dass es ihnen jetzt verboten wird, das generische Maskulinum zu benutzen. Können alle machen, wenn sie wollen, aber für mich und wie ich die Dinge sehe, funktioniert das absolut nicht. Ich glaube, wir täten alle gut daran, das ein bisschen aufzubrechen. Aber eben weil Geschlecht relevant gemacht wird. Es ist ja keine neutrale, sondern eine geschlechtliche Form, die wir als Norm hingestellt haben. Das betrifft nicht nur die Sprache. Das ist auch zum Beispiel bei Lego so. Es gibt normales Lego und Lego Friends, das für Mädchen ist. Es gibt normale Überraschungseier und rosa Überraschungseier für Mädchen. Und genauso ist es mit der Sprache. Es gibt die normale Sprache und dann gibt es spezifische Formen, wenn man über Frauen redet, und da werden plötzlich Sachen weiblich, das wird dann explizit gemacht. 

DA: In Ihrem Buch gibt es sehr viele Vorschläge für das Entgendern. Sie zählen bekannte Formen wie das Sternchen auf, aber auch außergewöhnlichere wie das Entgendern nach Phettberg mit der y-Endung, z.B. Radfahry, und die x- Endung von Lann Hornscheidt, z.B. Radfahrix. Was ist Ihr persönlicher Favorit?

RS: Ich habe tatsächlich keinen klaren Favoriten. Für mich persönlich bevorzuge ich die x-Endung, aber im allgemeinen Sprachgebrauch habe ich mich durch die Communities, in denen ich mich bewege, an die häufige Verwendung der y-Endung und der lon-Endung gewöhnt. Die lon-Endung wird verwendet mit dem Wortstamm des zugehörigen Verbs, sodass ich von mir nicht als „Autorx“ sprechen würde, sondern als „Schreiblon“. Diese Form benutzt eine Person in meinem nahen Umfeld für sich selbst und hat sie maßgeblich mitgeprägt. Solche Community-Diskurse erreichen selten eine breitere Öffentlichkeit. Ich habe sie in das Buch aufgenommen, basierend auf meiner Erfahrung in diesen Communities. Für mich gibt es keinen Grund zu glauben, dass Formen, die von Sprachwissenschaftler_innen erfunden wurden, besser, richtiger oder wichtiger sein sollten als Formen, die sich zwei nicht-binäre Personen am Abendbrottisch überlegt haben.

DA: Welche Form hat Ihrer Meinung nach eine Chance, sich im allgemeinen Sprachgebrauch durchzusetzen?

RS: Tatsächlich keine davon. Ich glaube, wir werden letztendlich zu etwas ganz anderem gelangen. Es ist ein fortlaufender Prozess, der wahrscheinlich noch eine ganze Weile dauern wird. Vielleicht werden wir in zwei- oder dreihundert Jahren eine neutralere Lösung gefunden haben.

Für mich gibt es keinen Grund zu glauben, dass Formen, die von Sprachwissenschaftler_innen erfunden wurden, besser, richtiger oder wichtiger sein sollten als Formen, die sich zwei nicht-binäre Personen am Abendbrottisch überlegt haben.

JAR: Während in LGBTQ Communities viel über Pronomen nachgedacht wird, beschränkt sich die öffentliche Debatte hauptsächlich auf das Gendern von Personenbezeichnungen. Haben Sie eine Vermutung, warum Pronomen, die eigentlich häufiger vorkommen, vernachlässigt werden?

RS: Ich denke, das hängt stark damit zusammen, wie wir Identität betrachten. Für die meisten Menschen ist wahrscheinlich meine Rolle als Autorx relevanter als die Art und Weise, wie ich mich selbst identifiziere oder dass ich „sier“ oder „es“ als Pronomen bevorzuge. Für mich persönlich ist Letzteres jedoch viel wichtiger. Dass ich ein Buch geschrieben habe, ist nur eine von vielen Aktivitäten. Aber welche der Pronomen für mich verwendet werden, referiert auf mich und auf meine Art, mich in der Welt zu bewegen – jeden Tag, jede Minute. Wie ich mich in der Gesellschaft und im Freundeskreis präsentiere, hängt mit dem Pronomen zusammen. Es ist ein Pronomen, auf das ich bestehe, wenn über mich geschrieben wird. Das ist definitiv auch eine politische Entscheidung. Es bereitet mir keine Bauchschmerzen, wenn eine Person in meinem Umfeld das nicht direkt hinbekommt. Aber es bereitet mir großes Unbehagen, wenn eine Redaktion sagt: „Nein, wir machen das bei uns nicht.“ Dann sage ich: „Dann könnt ihr nicht über mich schreiben.“ In den Communities ist meiner Meinung nach viel relevanter, wer ich wirklich bin und wie ich mich präsentiere. Ich denke, daher kommt auch das verstärkte Nachdenken darüber.

Als ich mich am Anfang geoutet habe, wollte ich tatsächlich gerne „es“ als Pronomen verwenden, weil ich dachte, dass alle wissen, wie man es benutzt. Es stellte sich jedoch heraus, dass einige cis Freundinnen Schwierigkeiten damit hatten, für mich „es“ zu verwenden, weil sie es als versächlichend empfanden. Inzwischen sehen sie jedoch auch ein, dass es nicht so toll ist, einer Person zu sagen: „Ich möchte das Pronomen aber für dich nicht verwenden.“ So kam es, dass ich mich für „sier“ entschieden habe, das finde ich relativ einfach. Viele Menschen haben vor dem „sier“-Pronomen ein wenig Angst, bis ich ihnen erkläre, dass es immer nur ein festes „sie“ in jeder Form gibt, unabhängig von der Deklination. Am Anfang steht immer „sie“ und am Ende steht immer das Äquivalent von „er“. Also „sier, sien, siem, sienerseits“ usw. Die Leute sagen dann immer: „Oh, das ist ja ganz einfach.“

JAR: Welche Rolle spielen Pronomen in Ihrem Familienalltag und wie reagieren die Kinder darauf?

RS: Ich frage die Kinder immer mal wieder, welches Pronomen sie gerade benutzen möchten. Ich frage auch: „Welches Pronomen möchtest du, dass wir hier zu Hause für dich verwenden? Und unterscheidet sich das von dem, was wir auswärts nutzen?“ Als mein großes Kind jünger war, hat es sich regelmäßig neue Pronomen ausgedacht, bis ich nur noch erschöpft war. Morgens hat das Kind gesagt: „Heute ist mein Pronomen ‚wut‘.“ Oft wollte das Kind auch in ein Spiel einsteigen, bei dem in der dritten Person über es gesprochen wurde, damit es das hört. Dabei habe ich dann Fehler gemacht und wurde natürlich korrigiert. Das war sehr lustig. Meine Kinder haben viele Personen in ihrem Umfeld, die nicht „er“ oder „sie“ benutzen, sondern z.B. „es“, „sier“, „they“ oder „hen“. Die Kinder lernen das relativ schnell. Kinder können sich auch zig Pokémon-Namen merken und es ist überhaupt kein Thema. 

Beim Vorlesen ersetze ich automatisch das generische Maskulinum und ich wechsle auch die Pronomen mal ab. Mein Lieblingsbuch dafür ist Elmar, der kunterbunte Elefant. Am Anfang frage ich die Kinder, welches Pronomen wir heute für Elmar verwenden möchten, und dann lese ich das Buch entsprechend vor. Mein großes Kind hat auch vor Kurzem Elmar vorgelesen und dabei das Pronomen überall problemlos ersetzt. Wenn es vorliest, macht es das manchmal, nicht immer. Es ist schön zu sehen, dass mein Kind das einfach so kann. Mein jüngstes Kind ist jetzt fünf und kommt größtenteils mit den Pronomen im Umfeld klar. Die Kinder kennen das Wort „Pronomen“, schon seit sie zwei oder drei sind, und wissen, wie es verwendet wird.

Welche der Pronomen für mich verwendet werden, referiert auf mich und auf meine Art, mich in der Welt zu bewegen – jeden Tag, jede Minute.

JAR: Das klingt nach einem sehr spielerischen Prozess.

RS: Sprache macht Spaß, auf jeden Fall. Das merken auch die Kinder. Wir experimentieren und probieren einfach viel aus, und das ist wirklich ein Privileg, das ich bei mir sehe. Mir ist Sprache immer leichtgefallen, aber für manche Menschen ist es nicht so einfach. Es gibt mittlerweile Kinderbücher, in denen der Hauptcharakter geschlechtsneutral ist oder in denen mit Pronomen gespielt wird. Meine Kinder lieben das Buch Von den Sternen am Himmel zu den Fischen im Meer. Das ist ein wunderbares Buch über ein nicht-binäres Kind, und in der deutschen Übersetzung wird immer zwischen „er“ und „sie“ als Pronomen abgewechselt.

DA: Was entgegnen Sie Menschen, die Neopronomen für zu kompliziert oder gar überflüssig halten?

RS: „Für mich ist es in Ordnung, wenn du mein Pronomen weglässt.“ Das ist das, was ich meistens sage. Personen versuchen es dann und haben Schwierigkeiten, weil es im Deutschen relativ umständlich klingt, immer wieder den Namen zu verwenden. Und ich frage auch oft: „Ist es dir egal, welches Pronomen ich für dich benutze, wenn ich über dich spreche?“ Den meisten Menschen ist das nicht egal. Insbesondere Männer sind oft nicht damit einverstanden, wenn mit weiblichen Pronomen über sie gesprochen wird. Ich bin definitiv dagegen, absichtlich Menschen damit wehzutun, und benutze auch nicht aus Protest ein falsches Pronomen. Aber ich sage schon: „Hey, denkt mal darüber nach. Wie würde es sich für euch anfühlen?“

DA: Kinder und Babys, die noch nicht sprechen können, können uns ihre Pronomen noch nicht verraten. Wie suche ich ein Pronomen für ein Baby aus?

RS: So, wie es für die Lebensumstände passt. Wir haben uns dafür entschieden, dass die Kinder einfach mit dem Pronomen angesprochen werden, das ihrem zugewiesenen Geschlecht entspricht, solange sie uns nichts anderes mitteilen. Aber wir haben auch nie etwas korrigiert. Wenn zum Beispiel jemand im Bus Annahmen über das Geschlecht meines Kindes getroffen hat, habe ich dem nicht widersprochen, weil ich keinen Grund dafür gesehen habe. Ansonsten habe ich im Buch Vorschläge gemacht. Manche verwenden spezifische Pronomen für bestimmte Situationen: Zu Hause immer ein bestimmtes Pronomen, unterwegs ein anderes und in offiziellen Kontexten wie bei Arztbesuchen das zugewiesene Pronomen. Das ist eine völlig legitime Entscheidung. In meiner erweiterten Familie ist eines der Kinder mit wechselnden Pronomen aufgewachsen. Das bedeutet, wir haben einfach spontan in der Situation entschieden, welches Pronomen wir gerade für das Kind verwenden. Inzwischen hat das Kind klare Präferenzen geäußert, welches Pronomen es bevorzugt, und daran halten wir uns dann auch. 

Manche verwenden spezifische Pronomen für bestimmte Situationen: Zu Hause eines, unterwegs ein anderes und in offiziellen Kontexten das zugewiesene Pronomen. Das ist eine völlig legitime Entscheidung.

JAR: Vieles von dem, was Sie beschreiben, ist tatsächlich eine aktive Auflösung von gesellschaftlichen Kategorien und Strukturen, die als fest und unveränderlich angesehen werden. Haben Sie einen Rat für Menschen, die grundsätzlich offen dafür wären, aber ängstlich sind, diese Grundfeste unter sich aufzulösen?

RS: Geschlecht ist definitiv eine bedeutende und feste Säule im Weltbild vieler Menschen. Wenn daran gerüttelt wird, stellt sich die Frage, was sonst noch ins Wanken geraten könnte. Merkt man, wie die Säule wackelt, kann man sie nicht mehr einfach ignorieren. Es wird präsent und bleibt präsent. Aber es muss nicht immer schnell gehen. Du musst nicht heute entscheiden, dass du in Zukunft gendergerecht sprichst, und dich dann selbst bestrafen, wenn es nicht sofort klappt. Das ergibt keinen Sinn. Es ist ein langer Prozess, auch ich habe immer noch viele stereotype Vorstellungen über Geschlecht in meinem Kopf, obwohl ich mich lange damit beschäftigt habe. Das verschwindet nicht einfach durch eine Entscheidung. Es erfordert viel Arbeit und Zeit. Es kann auch sein, dass Menschen in ihrer aktuellen Lebenssituation nicht die Energie haben, sich in diese Arbeit zu stürzen, und das ist völlig in Ordnung. Zu sagen, dass man selbst das Entgendern gerade nicht hinbekommt, ist okay. Vielleicht schafft man es irgendwann, vielleicht auch nicht, und das ist auch okay. Wichtig ist, dass man darüber nachgedacht und sich damit auseinandergesetzt hat.

JAR: Was wären erste kleine Schritte, die im Alltag umsetzbar sind?

RS: Ich nenne es gerne „anfangen zu stolpern“, eine Formulierung, die Daniela Thörner, die das Buch Mädchen, Junge, Kind geschrieben hat, während einer gemeinsamen Lesung verwendet hat. Es beschreibt den Moment, in dem mein Kopf ins Straucheln gerät, wenn ich auf Geschlecht stoße. Wenn ich merke, dass da eine geschlechtliche Formulierung ist oder ein bestimmtes Wort, das ich noch nie für ein Mädchen verwendet habe. Solche Momente, in denen man anfängt, darüber nachzudenken. Was ich auch oft sage, ist: „Du darfst deine Sprache ändern, bevor du dein Denken verändert hast.“ Du kannst das tun. Du kannst entscheiden, dich gendergerecht auszudrücken und dich darin zu üben, auch wenn du das Konzept noch nicht vollständig verstanden hast. Ich glaube, dass dies dazu beiträgt, das Denken zu verändern und anzupassen. 

Du kannst entscheiden, dich gendergerecht auszudrücken und dich darin zu üben, auch wenn du das Konzept noch nicht vollständig verstanden hast.

DA: Glauben Sie, dass in 20 oder 50 Jahren Pronomen jenseits von „er“ und „sie“ an Normalität gewonnen haben? Werden wir dann überhaupt noch über das generische Maskulinum sprechen?

RS: Ich denke, dass es Menschen gibt, die die deutsche Sprache auf merkwürdige Art und Weise sehr vehement verteidigen. Aber trotzdem werden Neopronomen meiner Meinung nach gesellschaftlich akzeptierter sein, insbesondere aufgrund von Entwicklungen wie der regelmäßigen Verwendung bei Netflix-Übersetzungen. Netflix ist ein großer Streamingdienst, den viele Deutsche nutzen, und wenn das englische Pronomen „they“ hier regelmäßig mit „xier“ übersetzt wird, wird sich das sicherlich auf den Sprachgebrauch auswirken. In jüngeren Teilen der trans- und nicht-binären Community sehe ich, dass das Pronomen „dey“/„deren“ häufig verwendet werden. Ich glaube, dass es für viele Menschen relativ einfach ist, dies auch in die deutsche Sprache zu integrieren. Ich persönlich habe Schwierigkeiten mit der Doppelbesetzung von „deren“. Ich denke, dass wir in zehn Jahren immer noch eine breite Vielfalt an Neopronomen sehen werden, die dann wahrscheinlich aber nicht mehr so präsent sind, da es etwas geben wird, das viele Menschen kennen und das leicht zu verwenden ist. Sprache funktioniert über Vereinfachungen. Das, was leicht und flüssig von der Zunge geht, das bleibt und etabliert sich.

JAR: Was ist Ihre Hoffnung für die Kinder, die geschlechtsoffen erzogen werden? Wie können diese das Thema in die Gesellschaft weitertragen?

RS: Es ist schwierig, Kinder mit zu vielen Erwartungen zu überladen. Das ist etwas, was ich wirklich vermeiden möchte. Aber natürlich bin ich nicht frei davon. Ich habe die Hoffnung, dass meine Kinder mit einem liebevollen Blick auf die Welt aufwachsen und dass sie keine Menschen aufgrund von irgendetwas weniger schätzen, außer vielleicht aufgrund ihrer Handlungen. Es geht immer darum, wie ich Menschen in meiner Umgebung liebevoll begegne. Was ist eine liebevolle Lösung? Wie gehen wir liebevoll miteinander um? Dazu gehört auch, dass wir Menschen so akzeptieren, wie sie sind. Und ja, Geschlecht ist ein Teil davon.

DA: Vielen Dank für das Interview!

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