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Wer ist „die Ukraine“?

Re-Paper
Volodymyr Ishchenko2022
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Wer ist „die Ukraine“?

»Ukrainian Voices?«

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 19.04.2023

te.ma DOI 10.57964/jjr6-j321

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 19.04.2023
te.ma DOI 10.57964/jjr6-j321

Bei der Suche nach politischen Antworten auf den russischen Angriffskrieg müsse man mehr auf Ukrainer*innen hören, lautet eine prominente Forderung. Volodymyr Ishchenko fragt sich, wer oder was diese ukrainischen Stimmen sind und sein sollten. Die „Dekolonisierung der Ukraine“, so seine Kritik, dürfe nicht einfach die Negation alles Russischen bedeuten. Emanzipatorisch könne der Krieg für die Ukraine nur dann sein, wenn man es schaffe, den dort aufgeworfenen Fragen globale Bedeutung zu geben.

Ishchenko, eine der profiliertesten linken Stimmen der Ukraine, beschäftigt vor allem eine Frage: Was bedeutet heutzutage – unter den Bedingungen eines neoliberalen und globalisierten Kapitalismus – ein nationaler Kampf für die eigene politische Emanzipation und gegen einen imperialistischen Aggressor? Während in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Dekolonisierung, verstanden als nationale Befreiung gegen imperiale Fremdherrschaft, stets mit dem Anspruch sozialer Transformation und dem Aufbau von Entwicklungsstaatlichkeit verbunden war, habe sich die Bedeutung von Dekolonisierung heute radikal gewandelt. Der real existierende Neoliberalismus stehe staatlichen Versuchen der kollektiven wirtschaftlichen Emanzipation entgegen. Und akademisch-analytisch seien neo-marxistische Theorien von Abhängigkeit („Dependenztheorie“) durch post-strukturalistische und post-koloniale Theorien abgelöst worden.1

Vor diesem Kontext, so Ishchenko, spielten im nationalen Befreiungskampf der Ukraine gegen Russland weder tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel noch der Aufbau eines aktiven und interventionistischen Staates die entscheidende Rolle. Stattdessen vereinten sich post-koloniale Symbol- und Identitätspolitik und neoliberale Wirtschaftspolitik. Anstatt umfassende staatliche (Kriegs-)Wirtschaftspolitik zu betreiben, privatisiere der ukrainische Staat weiter, verringere die Steuern, beschneide Arbeitnehmer*innenrechte und bevorzuge westliche transnationale Unternehmen statt eigener Firmen.

Diese Politik betreffe nicht nur die Verteidigung gegen den russischen Angriff, die Ishchenko zufolge durch den neoliberalen Konsens in der Elite geschwächt und nicht gestärkt werde. Das Vernachlässigen des Aufbaus eines robusten und interventionistischen Staates sei auch ein massives Versagen der Orangenen und später der Maidan-Revolution gewesen. Ishchenko bezeichnet diese als „defizitäre Revolutionen“, da sie zwar die jeweils herrschende Regierung gestürzt hätten, die multiple politische, wirtschaftliche und soziale Krise der post-sowjetischen Ukraine jedoch nicht hätten überwinden können.

Spätestens mit dem russischen Angriffskrieg habe sich in der Ukraine ein Verständnis von Dekolonisierung durchgesetzt, das Befreiung vor allem als Abwehr alles Sowjetischen und Russischen versteht. Die Folge sei die Essentialisierung des Ukrainischen.2 Vor diesem Hintergrund sieht Ishchenko kritische ukrainische Intellektuelle vor einer Wahl: Sie könnten entweder das Spiel der Identitätspolitik betreiben und dafür leicht Zuspruch in der Ukraine und im Westen erhalten. Oder sie gehen den schwierigeren Weg und stellen, ausgehend von der post-sowjetischen Erfahrung der Ukraine, Fragen mit globaler Relevanz. Wie Ishchenko selbst formuliert: „Statt den Anspruch zu erheben, die ‚Stimmen‘ eines Volkes zu sein, das wir nicht wirklich vertreten können [...], sollten wir versuchen, auf der Grundlage der Beiträge, die wir zu den universellen Problemen der Menschheit in den eskalierenden politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Krisen leisten können, Gehör zu finden.“

Solche Fragen würden beispielsweise die zivilen Massenproteste betreffen, die im 21. Jahrhundert weltweit zu beobachten und sogar oft erfolgreich sind – allerdings ohne nachhaltige transformative Wirkung zu entfalten. Auch hinsichtlich der politischen Artikulation regionaler Forderungen könne die Ukraine in Zeiten von immenser geographischer, wirtschaftlicher und politischer Ungleichheit etwa in den USA, Großbritannien oder China wichtiges Wissen zur Verfügung stellen.3 Nicht zuletzt biete der sozioökonomische Entwicklungsweg der Ukraine seit dem 20. Jahrhundert – vom Agrarstaat zum Industriezentrum der Sowjetunion zum kriegsgeplagten Versuchslabor neoliberaler Reformen im post-sowjetischen Raum – eine Reflexionsfläche für Prozesse, die in ähnlicher Form auch in anderen Weltregionen, nicht zuletzt in westlichen Gesellschaften selbst, zu beobachten sind.4

Geht man diesen universellen Fragen aus dem Weg, warnt Ishchenko, verpasse man die Chance einer wirklichen Dekolonisierung und Entprovinzialisierung des Denkens über die Situation der Ukraine im Speziellen und das post-sowjetische Zeitalter im Allgemeinen.

Fußnoten
4

Mitchell Dean und Daniel Zamora: The Last Man Takes LSD. Foucault and the End of Revolution. Verso, London, New York 2021, ISBN 9781839761393.

Alexander Maxwell: Popular and Scholarly Primordialism. The Politics of Ukrainian History during Russia's 2022 Invasion of Ukraine. In: Journal of Nationalism, Memory & Language Politics. Band 16, Nr. 2, 2022, S. 152–171. https://doi.org/10.2478/jnmlp-2022-0008

Phil A. Neel: Hinterland. America's New Landscape of Class and Conflict. Reaktion Books, London 2018, ISBN 9781780239026; Scott Rozelle und Natalie Hell: Invisible China. How the Urban-Rural Divide Threatens China's Rise. The University of Chicago Press, Chicago, London 2020, ISBN 9780226740515. Philip McCann und Raquel Ortega-Argilés: The UK ‘geography of discontent’. Narratives, Brexit and inter-regional ‘levelling up’. In: Cambridge Journal of Regions, Economy and Society. Band 14, Nr. 3, 2021, S. 545–564. https://doi.org/10.1093/cjres/rsab017 

Oleh Havrylyshyn: The Political Economy of Independent Ukraine. Slow Starts, False Starts, and a Last Chance?. Palgrave Macmillan, London 2017, ISBN 9781137576903; Marko Bojcun und John-Paul Himka: Towards a Political Economy of Ukraine. Selected Essays, 1990-2015. ibidem Verlag, Stuttgart 2020, ISBN 9783838213682.

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