Die Gründe für den Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 werden außerordentlich kontrovers diskutiert. Während Analysten der
Gerard Toal äußert in seiner nach dem Georgienkrieg und der Krim-Annexion entstandenen Monographie „tiefe Unzufriedenheit“ sowohl mit dem liberalen als auch mit dem neorealistischen Ansatz. Beide basieren seiner Meinung nach auf einem oberflächlichen Verständnis von Geopolitik („thin geopolitics“) und vernachlässigen komplexe räumliche Zusammenhänge.
Aus der Perspektive der kritischen Geopolitik, zu deren bekanntesten Vertretern Toal zählt, kann die geografische Lage eines politischen Akteurs allein keine Erklärung für dessen außenpolitischen Interessen und Strategien liefern. Eine mindestens ebenso große Rolle spielen Ideen, Wahrnehmungen und Emotionen, die in den politischen Diskursen der jeweiligen Akteure hervorgebracht und verarbeitet werden. Geopolitik ist damit „a discursive practice, by which intellectuals of statecraft ‚spatialize‘ international politics (…).“
Entsprechend stehen bei Toal auch nicht geopolitische Interessen, sondern geopolitische Kulturen im Mittelpunkt. Die geopolitische Kultur der USA ist für ihn durch einen moralischen Ansatz gegenüber der Außenwelt gekennzeichnet: Der Westen sieht sich als Befreier der unterdrückten Nationen. Die russische geopolitische Kultur hingegen sei an geschichtsträchtige geografische Orte, wie den Kaukasus und die Krim, gebunden.
Zentraler affektiver Referenzpunkt der aktuellen geopolitischen Kultur in Russland ist laut Toal der Zusammenbruch der Sowjetunion. Diesen hätten manche Menschen als Befreiung erlebt, andere jedoch als Tragödie, gekennzeichnet durch Vertreibung und wirtschaftlichen Ruin. Der postsowjetische Raum bildet eine komplexe post-imperiale Entität, in der konkurrierende Machtzonen auf unterschiedliche Weise auf das imperiale Erbe und aufeinander reagieren. Auch die Annexion der Krim ist laut Toal mehr von affektiven Motiven als von geostrategischen Interessen getrieben worden.
Als ein roter Faden zieht sich der Gedanke durch das Buch, dass Russland wie der Westen ihre je eigenen Versionen post-sowjetischer Geschichte konstruieren. Dabei greifen sie auf ähnliche emotionale Erzählungen zurück, produzieren aber gegenseitig unverständliche Interpretationen derselben Ereignisse.
Toals Ansatz teilt mit dem
Ob man Toals Analyse zustimmt oder nicht – sein „Near Abroad“ ist ein detailreiches und originelles Plädoyer für ein breiteres Verständnis der räumlich-politischen Beziehungen und eine gründliche Analyse der Geschichte von Orten und Menschen, ihren Identitäten und Emotionen in der Außenpolitik.