… in den Medien (aufgrund des Vortrags von Gabriele Krone-Schmalz bei der VHS Reutlingen.) Die klare Mehrheit der ernstzunehmenden Vertreter der relevanten Fächer ist der Auffassung, dass die Nato-Osterweiterung keine Rolle in der Verursachung des Krieges gespielt hat und das „Bedrängungs-“ oder „Bedrohungs-“Argument dem Kreml nur als Tarnung für seinen imperialistischen Anspruch auf die Ukraine dient.
Auch wenn ausser Frage steht, dass der Ursprung der russischen Aggressivität in Putins Russland selbst liegt (schon die Linie der staatlichen Gewalt von den Wohnhaus-Explosionen 1999 über die Vergiftung Jushchenkos bis zu den aktuellen Anti-Schwulen-Gesetzen spricht Bände darüber) – das völlige Ausklammern der Nato-Osterweiterung scheint mir in dieser Eindeutigkeit auch nicht ganz plausibel. Allerdings ist die Idee, dass die Nato-Osterweiterung tatsächlich zu diesem Krieg „geführt habe“ (und Russland nur „auf eine Bedrohung reagiere“ – und zwar mit dem Überfall auf die Ukraine), wie sie Krone-Schmalz verbreitet, ja tatsächlich nicht haltbar und zeugt von einer Unkenntnis neuerer russischer Geschichte und Politik.
Ich denke immer noch, es gibt eine andere Linie der politischen Reflexion, die an der Nato-Osterweiterung ansetzen muss. Denkbar ist ggf. die Umkehrung des Bedrohungs-Arguments: „weil nicht genug Nato-Osterweiterung, deshalb Krieg“ (dass man die Ukraine im Gegenteil möglichst schnell in die Nato hätte aufnehmen müssen, denn nur weil man das nicht getan hat, ist sie überhaupt angreifbar geworden). So vertritt das zum Beispiel Paul Poast und manche andere. Aber diese Option lag niemals auf dem Tisch, und sie hätte möglicherweise nur zu einem früheren Kriegsbeginn geführt.
Also, welche Rolle spielt die Nato-Osterweiterung in dieser ganzen langfristigen Geschehens-Konstellation der Kriegsentstehung? Zum einen ist sie natürlich kein einzelnes historisches „Ereignis“ (bei dem man die Wahl gehabt hätte, es herbeizuführen oder zu vermeiden), sondern eine Folge kumulativer Interaktionen, bei denen Agency aller beteiligten Seiten eine Rolle gespielt hat (die Russlands, die der osteuropäischen Staaten und natürlich die der USA).
Die Monografie von Mary Elise Sarotte, Not One Inch, derzeit das Standardwerk zum Thema, beschreibt das als einen Vorgang in drei irreversiblen „Ratschen-Schritten“. Das Buch ist leider immer noch nicht auf Deutsch übersetzt, was ich angesichts der Bedeutsamkeit der Thematik völlig unverständlich finde, ich hatte daher neulich mal ein wenig „grauzonig“ – und nur für persönliche Recherche-Zwecke – eine Deepl-Übersetzung des letzten Kapitels zugänglich gemacht. Inzwischen ist, habe ich gesehen, auch eine ausführliche Rezension von Andreas Hilger vom Deutschen Historischen Institut Moskau auf hsozkult erschienen. Sehr zu empfehlen. Ausserdem gab es zur Vorgeschichte des Kriegs, die laut ihrer Auffassung weitgehend mit der Nach-Geschichte des Kalten Kriegs zusammenfällt, im Juli einen lesenswerten Artikel von Sarotte in Foreign Policy (hier archiviert und frei zugänglich).
Also, nochmal: Welche Rolle spielt die Nato-Osterweiterung? Wie kann man sie in die Analyse einbeziehen, ohne in die Falle zu tappen, sie sei die „eigentliche Kriegsursache“, aber auch, ohne sie als irrelevant auszuklammern? Was mir immer noch fehlt, ist ein Ansatz, der versucht, das adäquat herauszupräparieren. Ich komme derzeit nicht weiter als bis zu dem Punkt, zu sagen: der Prozess der Nato-Osterweiterung ist einer der Fäden des gewaltigen Kausalgewebes, sozusagen der kausalen Tricotage oder der Causage, aus der dieser Krieg erwachsen ist. Aber welche Rolle spielt dieser Faden genau, wie lässt sich das beurteilen und welche Erkenntnisse für jetzt und die Zukunft lassen sich daraus gewinnen?