In ihrem Buch rekonstruiert Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin, das „Geflecht von miteinander verbundenen Entwicklungen”, das den Krieg zwischen Russland und der Ukraine seit Februar 2022 ermöglicht habe. Ihre Erklärung des Krieges ist dabei deutlich vielschichtiger als die medial breit diskutierten Deutungsangebote, die ihren Ursprung in den realistischen oder liberalen Großtheorien der Internationalen Beziehungen (IB) haben. Monokausale Erklärungen, die den Krieg vor allem aus der Großmachtkonkurrenz zwischen Russland und westlichen Staaten oder aus der inhärenten Aggressivität des russischen Autoritarismus erklären, bleiben Sasse zufolge unvollständig.
Die Leistung ihrer Studie besteht hingegen in der Entflechtung der verschiedenen Ursachenkomplexe, die zum Krieg führten. Hierzu gehöre einerseits Russland selbst, dessen politisches Regime spätestens seit Wladimir Putins dritter Amtszeit als Präsident (2012-2018) immer autokratischer wurde und offen neo-imperiale Ambitionen verfolgte. Gleichzeitig müsse jedoch auch die russische Gesellschaft in die Analyse der Kriegsursachen einbezogen werden. Diese sei, so Sasse, mit staatlicher Geschichtspolitik und Propaganda durchdrungen worden. Dies könne zumindest teilweise erklären, warum eine Mehrheit hinter Putin und dem von ihm als „militärische Spezialoperation” verharmlosten Krieg gegen die Ukraine stehe.
Inwiefern die Forschung durch Meinungsumfragen derzeit überhaupt Zugriff auf gesellschaftliche Stimmungen in Russland hat, ist aktuell eine intensiv diskutierte Frage in der Forschung.
Die Formierung der russischen Außenpolitik im Vorlauf des Krieges müsse dabei allerdings relational zu zwei weiteren Ursachenkomplexen gedacht werden. Zum einen habe sich die Ukraine – im Gegensatz zu Russland – durch einen seit 1991 bestehenden Zyklus mehrerer aufeinanderfolgender Massenproteste demokratisiert. Dieser Prozess sei nicht linear verlaufen, habe aber für die ukrainische Gesellschaft und Politik einen Aufbruch in Richtung Demokratie markiert.
Zum anderen habe sich die russische Kriegspolitik in Auseinandersetzung mit der Außenpolitik westlicher Staaten herausgebildet.
Zu diesen langfristigen und „ermöglichenden” Faktoren kommen „produktive” und kurzfristiger wirkende hinzu.
Sasses Studie bietet keine allumfassende Interpretation und Erklärung des Krieges. Allerdings öffnet sich durch die analytische Unterscheidung räumlich und zeitlich unterschiedlich gelagerter Entwicklungen die Möglichkeit, differenziert nach Lösungsansätzen für den Krieg zu fragen. Neben der Regression Russlands und der Demokratisierung der Ukraine scheint hier auch ein Blick auf die notwendige Korrektur westlicher Politik geboten, deren widersprüchliche Signale gegenüber Russland in den Jahren vor dem 24. Februar 2022 ebenfalls zum Ursachengeflecht des Krieges zählen.