Mehrsprachigkeit zwischen Wunsch und Denken

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Geschrieben von Julian Andrej Rott

Bei te.ma veröffentlicht 02.02.2024

te.ma DOI 10.57964/b64q-rq90

Geschrieben von Julian Andrej Rott
Bei te.ma veröffentlicht 02.02.2024
te.ma DOI 10.57964/b64q-rq90

Die Vorzüge von Mehrsprachigkeit werden oft betont, besonders in Bezug auf die kognitiven Vorteile. Eine aktuelle Metastudie von Gunnerud et al. zieht diese Sicht jedoch in Zweifel, da die positiven Effekte geringfügig und wenig robust sind. Wird der Nutzen der Mehrsprachigkeit also insgesamt überbewertet? Nicht unbedingt, wie die Autorinnen meinen.

Die Vorstellung, dass Mehrsprachigkeit einen langfristigen kognitiven Vorteil mit sich brächte, ist – auch wenn das nicht immer so war – heute weit verbreitet. Nicht nur in Fachkreisen, sondern auch in populären Medien wird immer wieder über die nutzbringenden Effekte gesprochen. Im Zentrum steht dabei das kontinuierliche Training sogenannter exekutiver Funktionen, also derjenigen kognitiven Komponenten, mit denen Menschen ihr Verhalten mit Blick auf ihre Umgebung steuern. Hierzu zählen beispielsweise das Arbeitsgedächtnis, die Selbstkontrolle, das Koordinieren und Ordnen von Handlungsabläufen, die Zielsetzung und die Strategieentwicklung. Die Stärkung dieser Fähigkeiten ergibt sich, so die Grundannahme, aus der gleichzeitigen Aktivierung aller erlernten Sprachen im Gehirn – eine hohe kognitive Leistung. Laut einer kanadischen Studie haben z.B. englischsprachige Zweitklässler*innen ein Vokabular von rund 5200 Wörtern, was bis zur fünften Klasse auf etwa 8400 anwächst. Anfang zwanzig verfügen Menschen im Durchschnitt über einen Wortschatz von etwa 26000 Wörtern.1 Die große Aufgabe, das Vokabular und die Grammatik zu verinnerlichen, multipliziert sich mit jeder weiteren Sprache, die das Gehirn bewältigen muss. Will eine erwachsene Person einen Gegenstand benennen oder eine Äußerung tätigen, werden im Gehirn alle Vernetzungen in den entsprechenden semantischen Bereichen aktiviert, unabhängig davon, in welcher Sprache sie abgelegt sind. Damit aber kein Kauderwelsch herauskommt, muss die gerade nicht „gewollte“ Sprache unterdrückt werden – eine Form der Selbstkontrolle. Wer regelmäßig von zwei Sprachen umgeben ist, muss zudem flexibel und kontrolliert wechseln können. Bei polyglotten Menschen sind es sogar mehrere Sprachen gleichzeitig. Dieses ständige Filtern und Sortieren hält das Gehirn auf Trab. Da sich das Gehirn über die Lebensdauer strukturell seinen Anforderungen anpasst – dies ist die sogenannte Neuroplastizität – weisen bilinguale Menschen langfristig andere Hirnstrukturen auf als monolinguale. Die exekutiven Funktionen sind also gestärkt.

So weit die Theorie und auch das gängige aktuelle Mediennarrativ. Gunnerud et al. zeigen jedoch, dass die empirische Lage bei genauerer Betrachtung keineswegs so eindeutig ist: Manche Studien berichten von Vorteilen, andere seien neutral, und in einigen finden sich sogar Nachteile durch die Mehrbelastung. Sie weisen auch darauf hin, dass das Konzept der exekutiven Funktionen sehr breit gefasst sei, keine vereinheitlichte Definition habe und auch die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Teilfunktionen bisher nicht gut ergründet seien. Wie genau die Mehrsprachigkeit und andere kognitive Funktionen miteinander verzahnt sind, ist also gar nicht so klar. Vor dem Hintergrund dieser offenen Fragen scheint sich eine neue Phase in der Mehrsprachigkeitsforschung anzubahnen. Gunnerud und ihre Kolleginnen liefern mit ihrer neuen Metastudie einen aktuellen und kritischen Forschungsüberblick, für den sie 100 Publikationen mit insgesamt 143 Studien miteinander verglichen und statistisch überprüft haben. Im Kern steht dabei die Population der jungen Menschen zwischen 0 und 18 Jahren. Dieser Fokus besteht aus zwei Gründen: Zum einen entspinnt sich um diese Altersgruppe das Gros der gesellschaftlichen Debatte, wenn Eltern und Bildungsanstalten sich fragen, was dem heranwachsenden Hirn denn nun den höchsten Dienst leistet. Zum anderen entwickeln sich Mehrsprachigkeit und exekutive Funktionen parallel – interagieren sie, so müsste es mit zunehmendem Alter also einen vermehrten Effekt geben. Um die verschiedenen Ergebnisse interpretieren und in Zusammenhang bringen zu können, berücksichtigt die Metastudie unterschiedliche Komponenten der exekutiven Funktionen, das Alter der Proband*innen sowie die zeitliche Abfolge und erreichten Niveaus in den jeweiligen Sprachen. Letzteres beruht auf der Annahme, gleichzeitig und früh erworbene Sprachen könnten möglicherweise im Gehirn klarer getrennt gespeichert sein als Konstellationen, in denen eine Zweitsprache „parasitär“ auf das Lexikon der Muttersprache aufsetzt – welche notwendigerweise das vermittelnde Lernvehikel sein muss.

Da Studien an mehrsprachigen Kindern nicht im Labor stattfinden können, müssen die Teilnehmenden nach strengen Kriterien ausgewählt werden. Im Zentrum stünden hierbei häufig, so die Autorinnen, die „ausgewogenen“ Bilingualen, bei denen beide Sprachen gleichzeitig und gleich gut erworben wurden. Dies liegt daran, dass sich diese Gruppe für die Untersuchungen am besten eignet, da u.a. das Alter, in dem die Sprachen erworben wurden, aufgrund der Ausgewogenheit im experimentellen Aufbau nicht berücksichtigt werden muss. Gemessen an der Gesamtpopulation stellen diese methodologischen Idealfälle jedoch eher die Minderheit dar. Schließlich entstehen sie am ehesten unter bestmöglichen Umständen, bei gutem sozioökonomischem Status und entsprechender frühkindlicher Förderung. Vergleicht man diese „ausgewogenen“ Bilingualen dann mit einem Querschnitt der einsprachigen Mehrheitsgesellschaft, ergebe sich unter Umständen ein verzerrtes Bild. Auch das Land der Erhebung spiele eine erhebliche Rolle: In Europa hätten mehrsprachige Kinder häufig einen migrantischen Hintergrund, der tendenziell mit sozialer Benachteiligung einhergehe – in Kanada dagegen gehören Bilinguale eher zur Oberschicht. Nicht zuletzt sind auch Studiengröße und Publikationsbias Faktoren, die bei einem großangelegten Quervergleich mit einberechnet werden müssen. Hier zeigen sich schon strukturelle Gründe, die die Untersuchung von Mehrsprachigkeitseffekten erschweren.

Die Ergebnisse zeigen ein gemischtes Bild. Zunächst lässt sich feststellen, dass bilinguale Kinder gegenüber monolingualen im Vergleich der 143 Studien einen leichten Vorsprung bei den exekutiven Funktionen aufweisen. Allerdings war dieser, so die Autorinnen, von vernachlässigbarer Größenordnung. Die Analyse zeigte jedoch auch starke Unterschiede zwischen den Studien. Wie eingangs dargelegt, kann sich der Gesamteffekt aus sehr unterschiedlichen Gründen ergeben oder ausbleiben, sodass eine detailliertere Untersuchung der denkbaren Einflussfaktoren vorgenommen wurde. Ein signifikanter Faktor war der sozioökonomische Status: Mittelständische Kinder zeigten einen stärkeren begünstigenden Effekt der Mehrsprachigkeit gegenüber ärmeren und reicheren Kindern. Außerdem zeigte sich, dass nicht alle exekutiven Funktionen gleich stark von der Anzahl der Sprachen beeinflusst wurden: Vor allem die Selbstkontrolle, das flexible Wechseln zwischen Aufgaben sowie die Aufmerksamkeitsanpassung erfahren eine Bestärkung. Allerdings konnte auch nachgewiesen werden, dass die Stärke der Effekte signifikant von den Ergebnissen kleinerer, weniger robuster Studien aufgebläht wurde und dass große Effekte häufig in Studien aus einem spezifischen Labor auftraten. Obwohl es also einige Vorteile der Mehrsprachigkeit zu geben scheint, zeigt sich, dass diese nur unter ganz bestimmten Umständen und auch dann nur möglicherweise zutage treten. Gunnerud und ihre Koautorinnen schließen daher insgesamt die Existenz eines positiven – aber auch negativen – kognitiven Effekts von Mehrsprachigkeit bei Kindern eher aus. Mehr noch: Auf Basis ihrer Ergebnisse im Kontext anderer Studien ziehen sie auch die angenommenen Schutzeffekte gegen altersbedingte Kognitionseinschränkungen in Zweifel. Allerdings erkennen sie an, dass die Daten aus den von ihnen untersuchten Studien eine starke Variabilität aufwiesen, die durch keine der bekannten Faktoren zu erklären war. Möglicherweise gibt es andere Einflussgrößen, die bisher unentdeckt sind.

Trotz aller Ergebnisse stellen die Autorinnen direkt zum Eingang ihres Artikels klar, dass die messbare kognitive Realität nicht der alleinige zu beachtende Faktor ist. Im Grunde könnte man sagen, das Ergebnis ist ein wenig „schade“, aber gewissermaßen auch positiv, denn es gab auch keine messbaren Nachteile der Mehrsprachigkeit. Das Beherrschen mehrerer Sprachen hat schließlich noch viel mehr Einfluss auf das Leben als ein kleiner, experimentell feststellbarer Kognitionseffekt: Anbindung an einen Kulturkreis, Familienzusammengehörigkeit, Vorteile in Beruf und Bildung, ein erweiterter Zugang zu Informationen und Unterhaltung, mehr soziale Gelegenheiten – all dies und mehr machen ein mehrsprachiges Leben bereichernd, ob die exekutiven Funktionen nun ein paar Messgrade vorausschießen oder nicht.

Fußnoten
1

Andrew Biemiller, Naomi Slonim: Estimating Root Word Vocabulary Growth in Normative and Advantaged Populations: Evidence for a Common Sequence of Vocabulary Acquisition. In: Journal of Education Psychology. Band 93, Nr. 3, S. 498-520. https://doi.org/10.1037/0022-0663.93.3.498

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Die Semantik ist das Teilgebiet der Linguistik, das sich mit den Bedeutungen sprachlicher Zeichen und Zeichenfolgen befasst.

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