Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 kann man eine weltweite „Doppelbewegung” in der Neutralitätspolitik beobachten. Während zahlreiche Länder des Globalen Südens die Neutralität und eine neue Blockfreiheit wiederentdecken, rücken einige europäische Staaten mit langen Traditionen der Neutralität, wie Finnland oder Schweden, von ihrer Haltung ab. Gleichzeitig gibt es eine dritte Gruppe, die trotz der geopolitischen Umbrüche und eines enormen internationalen Drucks versucht, an ihrer neutralen Position festzuhalten. In Europa gehört (neben der Schweiz, Österreich und Irland) auch Serbien zu dieser Gruppe. Der serbische Fall ist besonders interessant, wurde das Land doch 2012 EU-Beitrittskandidat und weist gleichzeitig eine tiefe historische Verbundenheit zu Russland auf.
So sorgte der serbische Präsident Aleksandar Vučić dann auch im Jahr 2023 für eine Reihe teils widersprüchlicher Aussagen: Zuerst beteuerte er im Februar die Absicht seines Landes, die Politik militärischer Neutralität beizubehalten und zu stärken. Zwei Monate später sagte er allerdings im serbischen Fernsehen, Serbien könne keine Garantien für die Wahrung der Neutralität gegenüber Russland und den westlichen Ländern geben, bei gleichzeitiger Besteuerung allerdings, dass Serbien ohne Europa nicht viel machen könne. Zur gleichen Zeit dementierte seine Regierung die Behauptung eines geleakten Pentagon-Dokuments, wonach Serbien Waffen und Munition an die Ukraine verkauft haben soll.
Auch wenn das Balkanland sich offiziell nach wie vor an seine 2007 proklamierte Neutralität hält und sich bis jetzt geweigert hat, die EU-Sanktionen gegen Russland mitzutragen, stellt sich die Frage: Ist eine Änderung der serbischen Neutralitätspolitik nur eine Frage der Zeit? Der serbische Politikwissenschaftler Filip Ejdus erwartet keinen politischen Wandel, solange die tiefsitzende und politisch wirkmächtige Opferhaltung gegenüber der Nato nicht überwunden ist.
Sein Argument: Die militärische Neutralität Serbiens wurde im Wesentlichen durch die traumatische Erfahrung der
Ejdus zufolge erschwere diese kollektive Erinnerung heute die Beziehungen Serbiens zu seinen unmittelbaren Nachbarn und seine Positionierung innerhalb der europäischen Sicherheitsarchitektur. Denn während die Pro-EU-Linie weiterhin das Rückgrat der serbischen Außenpolitik bilde, sei die transatlantische Ausrichtung mit der Kodifizierung der serbischen Neutralität aufgegeben worden. Trotz der Debatten um eine größere „strategische Autonomie der EU” bilde die Nato nach wie vor den zentralen Pfeiler der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU.
Doch warum dauerte es nach 1999 noch acht Jahre, bis Serbien seine Neutralität erklärte? Der unmittelbare Auslöser war Ejbus zufolge der Verhandlungsprozess über den Status des Kosovo.
Ejdus kritisiert, dass es bis heute kein klares Verständnis davon gebe, was diese Neutralität in der Praxis bedeute. Zwar schließe Serbien damit eine Nato-Mitgliedschaft aus. Auf internationaler Ebene
Doch gerade in ihrer Schwammigkeit liegt möglicherweise der größte Vorteil der Neutralitätspolitik. Sie erlaubt es Serbien nämlich, vielseitige Kooperationen aufzubauen und seine nationalen Interessen zu verfolgen. Denn Ejdus weist auch darauf hin, dass Serbien in den Jahren nach der Neutralitätserklärung an mehreren Nato-Partnerschaftsprogrammen teilgenommen hat. Außerdem habe die Neutralität Belgrad nicht daran gehindert, den EU-Beitrittskandidatenstatus zu bekommen und sich im Rahmen der europäischen
Serbiens Neutralität bleibe also auf absehbare Zeit bestehen, ist sich Ejdus sicher – zumal das Trauma von 1999 immer noch präsent ist. Seine Prognose erfolgte allerdings vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Seitdem bemüht sich die EU um eine erneute Annäherung an die Balkanstaaten, darunter an den „ewigen” Beitrittskandidaten Serbien. Gleichzeitig hat die EU aber neue außenpolitische Kriterien formuliert, etwa den Anschluss an die EU-Sanktionspolitik gegen Russland, die den Druck auf Serbien erhöhen, sich zu einer Seite zu bekennen. Ein weiterer Aspekt, der im Text von Ejdus nicht berücksichtigt wird, ist die in den letzten Jahren stattgefundene Annäherung zwischen Belgrad und Peking, auch im militärischen Bereich. Im Jahr 2020 beschloss Serbien, chinesische CH-92A-Drohnen zu kaufen, was die Missbilligung der USA hervorrief. Im April 2022 soll China Serbien das FK-3-Flugabwehrraketensystem geliefert haben. Will Belgrad also seinen europäischen Weg weitergehen, kommt es möglicherweise nicht umhin, seine Neutralität zu überdenken. Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass Serbien – im Gegensatz zur Schweiz, die seit 200 Jahren neutral ist – historisch nie eine Neutralitätspolitik verfolgt hat.