Wie die Nato Serbien neutral werden ließ

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Filip Ejdus2014
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Wie die Nato Serbien neutral werden ließ

»Serbia’s Military Neutrality: Origins, effects and challenges«

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 19.09.2023

te.ma DOI 10.57964/5p7f-7888

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 19.09.2023
te.ma DOI 10.57964/5p7f-7888

Die russische Aggression gegen die Ukraine hat einige europäische Staaten dazu veranlasst, eine 180-Grad-Wende zu vollziehen und von ihrer jahrzehntelangen Neutralitätspolitik abzurücken. Serbien, das sich 2007 in einem Parlamentsbeschluss zur militärischen Neutralität bekannt hat, hält hingegen an seinem Kurs fest. Der Politikwissenschaftler Filip Ejdus erwartet, dass das unverarbeitete Trauma der Nato-Bombardierung von 1999 die serbische Neutralitätspolitik auch zukünftig stabilisieren wird. 

Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 kann man eine weltweite „Doppelbewegung” in der Neutralitätspolitik beobachten. Während zahlreiche Länder des Globalen Südens die Neutralität und eine neue Blockfreiheit wiederentdecken, rücken einige  europäische Staaten mit langen Traditionen der Neutralität, wie Finnland oder Schweden, von ihrer Haltung ab. Gleichzeitig gibt es eine dritte Gruppe, die trotz der geopolitischen Umbrüche und eines enormen internationalen Drucks versucht, an ihrer neutralen Position festzuhalten. In Europa gehört (neben der Schweiz, Österreich und Irland) auch Serbien zu dieser Gruppe. Der serbische Fall ist besonders interessant, wurde das Land doch 2012 EU-Beitrittskandidat und weist gleichzeitig eine tiefe historische Verbundenheit zu Russland auf.1

So sorgte der serbische Präsident Aleksandar Vučić dann auch im Jahr 2023 für eine Reihe teils widersprüchlicher Aussagen: Zuerst beteuerte er im Februar die Absicht seines Landes, die Politik militärischer Neutralität beizubehalten und zu stärken. Zwei Monate später sagte er allerdings im serbischen Fernsehen, Serbien könne keine Garantien für die Wahrung der Neutralität gegenüber Russland und den westlichen Ländern geben, bei gleichzeitiger Besteuerung allerdings, dass Serbien ohne Europa nicht viel machen könne. Zur gleichen Zeit dementierte seine Regierung die Behauptung eines geleakten Pentagon-Dokuments, wonach Serbien Waffen und Munition an die Ukraine verkauft haben soll

Auch wenn das Balkanland sich offiziell nach wie vor an seine 2007 proklamierte Neutralität hält und sich bis jetzt geweigert hat, die EU-Sanktionen gegen Russland mitzutragen, stellt sich die Frage: Ist eine Änderung der serbischen Neutralitätspolitik nur eine Frage der Zeit? Der serbische Politikwissenschaftler Filip Ejdus erwartet keinen politischen Wandel, solange die tiefsitzende und politisch wirkmächtige Opferhaltung gegenüber der Nato nicht überwunden ist. 

Sein Argument: Die militärische Neutralität Serbiens wurde im Wesentlichen durch die traumatische Erfahrung der Nato-Bombardierung im Jahr 1999 vorangetrieben.2 Dieses Trauma sei mit der Zeit immer größer geworden, die Opfer würden Jahr für Jahr betrauert. Nach dem Ende der Milošević-Regierung entwickelte sich die Intervention der Nato allmählich zu einem prägenden Ereignis im kollektiven Gedächtnis Serbiens und wurde in die nationale Identitätserzählung aufgenommen. Premierminister Vojislav Koštunica schließlich überführte das Narrativ in die militärische Neutralitätspolitik, die im Dezember 2007 vom serbischen Parlament in Gesetzesform gegossen wurde.  

Ejdus zufolge erschwere diese kollektive Erinnerung heute die Beziehungen Serbiens zu seinen unmittelbaren Nachbarn und seine Positionierung innerhalb der europäischen Sicherheitsarchitektur. Denn während die Pro-EU-Linie weiterhin das Rückgrat der serbischen Außenpolitik bilde, sei die transatlantische Ausrichtung mit der Kodifizierung der serbischen Neutralität aufgegeben worden. Trotz der Debatten um eine größere „strategische Autonomie der EU” bilde die Nato nach wie vor den zentralen Pfeiler der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU.3

Doch warum dauerte es nach 1999 noch acht Jahre, bis Serbien seine Neutralität erklärte? Der unmittelbare Auslöser war Ejbus zufolge der Verhandlungsprozess über den Status des Kosovo.4 Das Schlüsselereignis sei die Rede Koštunicas am 28. Juni 2007 gewesen: In dieser sprach er von einer serbisch-amerikanischen „Schlacht um den Kosovo“, in der sich die Autorität einer Weltmacht und der rechtmäßige Anspruch Serbiens auf den Kosovo gegenüberstünden. Kurz danach verfestigte sich der Neutralitätsansatz innerhalb der Demokratischen Partei Serbiens (DSS). 

Ejdus kritisiert, dass es bis heute kein klares Verständnis davon gebe, was diese Neutralität in der Praxis bedeute. Zwar schließe Serbien damit eine Nato-Mitgliedschaft aus. Auf internationaler Ebene5 sei die serbische Neutralität jedoch von keinem Staat und keiner internationalen Organisation anerkannt worden.6

Doch gerade in ihrer Schwammigkeit liegt möglicherweise der größte Vorteil der Neutralitätspolitik. Sie erlaubt es Serbien nämlich, vielseitige Kooperationen aufzubauen und seine nationalen Interessen zu verfolgen. Denn Ejdus weist auch darauf hin, dass Serbien in den Jahren nach der Neutralitätserklärung an mehreren Nato-Partnerschaftsprogrammen teilgenommen hat. Außerdem habe die Neutralität Belgrad nicht daran gehindert, den EU-Beitrittskandidatenstatus zu bekommen und sich im Rahmen der europäischen Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu engagieren, u.a. als Teil der EU-Trainingsmission in Uganda und Somalia. Schließlich ermöglicht die Politik der Neutralität Serbien eine besondere Beziehung zu Russland, von der es sowohl diplomatisch in der Kosovo-Frage als auch energiepolitisch bis heute und trotz des Krieges in der Ukraine profitiert.7 

Serbiens Neutralität bleibe also auf absehbare Zeit bestehen, ist sich Ejdus sicher – zumal das Trauma von 1999 immer noch präsent ist. Seine Prognose erfolgte allerdings vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Seitdem bemüht sich die EU um eine erneute Annäherung an die Balkanstaaten, darunter an den „ewigen” Beitrittskandidaten Serbien. Gleichzeitig hat die EU aber neue außenpolitische Kriterien formuliert, etwa den Anschluss an die EU-Sanktionspolitik gegen Russland, die den Druck auf Serbien erhöhen, sich zu einer Seite zu bekennen. Ein weiterer Aspekt, der im Text von Ejdus nicht berücksichtigt wird, ist die in den letzten Jahren stattgefundene Annäherung zwischen Belgrad und Peking, auch im militärischen Bereich. Im Jahr 2020 beschloss Serbien, chinesische CH-92A-Drohnen zu kaufen, was die Missbilligung der USA hervorrief. Im April 2022 soll China Serbien das FK-3-Flugabwehrraketensystem geliefert haben. Will Belgrad also seinen europäischen Weg weitergehen, kommt es möglicherweise nicht umhin, seine Neutralität zu überdenken. Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass Serbien – im Gegensatz zur Schweiz, die seit 200 Jahren neutral ist – historisch nie eine Neutralitätspolitik verfolgt hat.8 Die militärische Neutralität ermöglicht es dem Balkanland allerdings, sich verschiedene außenpolitische Optionen offenzuhalten, was angesichts der stattfindenden geopolitischen Veränderungen eine noch attraktivere Strategie sein könnte.

Fußnoten
8

Andrew Konitzer: Serbia between East and West. In: Russian History. Band 38, Nr. 1, 2011, S. 103–124. https://doi.org/10.1163/187633111X549623

Elisa Satjukow: Die andere Seite der Intervention. Eine serbische Erfahrungsgeschichte der NATO-Bombardierung 1999. transcript Verlag, Bielefeld 2020, ISBN 9783839449394.

Jolyon Howorth: EU–NATO cooperation. The key to Europe’s security future. In: European Security. Band 26, Nr. 3, 2017, S. 454–459. https://doi.org/10.1080/09662839.2017.1352584    

Im Oktober 2005 gab der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Startschuss für die Vorbereitung von Verhandlungen über den völkerrechtlichen Status der abtrünnigen serbischen Provinz Kosovo. Unter UN-Vermittlung begannen schließlich die Verhandlungen am 20. Februar 2006 in Wien. Die USA und eine Mehrheit der EU-Länder unterstützen den Vorschlag des UN-Sondergesandten Martti Ahtisaari, der eine international überwachte Unabhängigkeit vorsah. Doch eine Einigung konnte nicht erzielt werden, da eine Reihe von Staaten, u.a. Russland, China, Spanien und Italien, ihre Vorbehalte äußerten. Die Verhandlungen endeten 2007 ohne eine Einigung. Am 17. Februar 2008 beschloss das kosovarische Parlament in einer Sitzung einseitig die Ausrufung der Republik Kosovo als unabhängigen Staat. Die im Kosovo lebende serbische Minderheit lehnte die Unabhängigkeit ab; die USA, Großbritannien und Frankreich erkannten diese an. Die Bemühungen um eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo dauern bis heute an. Zuletzt fanden 2023 Gespräche zwischen beiden Seiten über einen von der EU vorgelegten Friedensplan statt. 

Die immerwährende Neutralität Turkmenistans ist zum Beispiel in der UN-Resolution A/RES/50/80 der UN-Generalversammlung vom 12. Dezember 1995 festgeschrieben: https://digitallibrary.un.org/record/239930?ln=en

Diese Kritik wird auch von Katarina Đokić vom Belgrader Zentrum für Sicherheitspolitik geteilt. Sie weist darauf hin, dass das einzige schriftliche Dokument, in dem die militärische Neutralität erklärt wurde, der Beschluss der Nationalversammlung von 2007 sei, in der die Neutralität als Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft aufgrund der Rolle des Bündnisses bei der Abspaltung des Kosovo verstanden werde. Dieser wurde jedoch weder von der 2009 verabschiedeten Verteidigungsstrategie gebilligt noch in Rechtsvorschriften umgesetzt. Vielmehr sei Serbien auf kooperative Sicherheit durch Mechanismen der Partnerschaft für den Frieden (PfP) mit der Nato ausgerichtet und habe seine Streitkräfte entsprechend den Nato-Standards reformiert. 

Trotz der russischen Aggression in der Ukraine schloss Serbien im Mai 2022 einen neuen Gasvertrag mit Russland ab. Der serbische Präsident Vučić erklärte zudem, dass der neue Vertrag drei statt wie bisher zwei Jahre laufen werde.

Ejdus erinnert daran, dass das sozialistische Jugoslawien selbst als Mitglied der Bewegung der Blockfreien während des Kalten Krieges militärisch nicht neutral war: 1953 schloss es den Balkanpakt mit den Nato-Mitgliedern Türkei und Griechenland ab. (In der Zwischenkriegszeit war Jugoslawien auch Mitglied der sogenannten „kleinen Entente“ mit der Tschechoslowakei und Rumänien 1920 bis 1938. Im Mittelalter zögerte Serbien nicht, sich mit einer Vielzahl von Staaten zusammenzuschließen, um dem Byzantinischen Reich Widerstand zu leisten.)

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Nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen zwischen Kosovo-Albanern und Serben im März 1999 in Paris startete die Nato am 24. März 1999 Luftangriffe auf strategische Ziele in Serbien und Montenegro sowie dem Kosovo ohne UN-Mandat und unter deutscher Beteiligung. Diese dauerten bis zum 10. Juni 1999. Die Offensive erfolgte als Reaktion auf eine neue Welle ethnischer Säuberungen, die am 20. März von serbischen Streitkräften gegen die Kosovo-Albaner eingeleitet worden war. Doch auch die kosovo-albanische Befreiungsarmee UÇK machte sich schwerer Menschenrechtsverbrechen schuldig. Die Nato-Luftangriffe richteten sich nicht nur gegen serbische Militärstellungen, sondern auch gegen Regierungsgebäude in Belgrad und die Infrastruktur des Landes, um das Regime von Slobodan Milošević zu stürzen. Am 10. Juni endete das Bombardement, als Serbien einem Friedensabkommen zustimmte, das den Rückzug seiner Streitkräfte aus dem Kosovo und einen Ersatz durch Nato-Friedenstruppen vorsah. Etwa 500 jugoslawische Zivilisten sind laut Human Rights Watch bei dieser Operation ums Leben gekommen, überwiegend in Belgrad. Im Zusammenhang mit dem Krieg starben oder verschwanden zwischen 1998 und 2000 mindestens 13.535 Menschen.

Slobodan Milošević war Parteivorsitzender und Präsident Serbiens von 1989 bis 1997. Von 1997 bis 2000 amtierte er als Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien. Er verfolgte eine Politik, die sich durch großserbischen Nationalismus auszeichnete und letztendlich zum Zerfall der sozialistischen jugoslawischen Föderation beitrug. Bei bei den Präsidentschaftswahlen im September 2000 wurde Milošević von Oppositionsführer Vojislav Koštunica besiegt. Er wollte seine politische Karriere jedoch als Vorsitzender der jugoslawischen Sozialisten fortsetzen. Doch im April 2001 wurde Milošević verhaftet und vom Premierminister Zoran Đinđić heimlich an das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien übergeben. In Den Haag wurde der ehemalige jugoslawische Staatschef angeklagt, 1999 im Kosovo Kriegsverbrechen begangen zu haben, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft wurden. Der Prozess wurde nicht rechtzeitig beendet – Milošević starb 2006 im Gefängnis.

Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) ist integraler Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union (GASP). Sie stellt den wichtigsten politischen Rahmen dar, der den Mitgliedstaaten erlaubt, eine gesamteuropäische Sicherheits- und Verteidigungsstrategie zu entwickeln, Konflikte und Krisen gemeinsam anzugehen sowie einen Beitrag zur internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik zu leisten. Ein Schwerpunkt liegt im Internationalen Krisenmanagement. Die GSVP wurde schrittweise zwischen 1999 und 2003 entwickelt und 2009 durch den in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon erweitert.

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