Die Fragen stellten Deborah Arbes aus dem Kuratorium des Kanals Mehrsprachigkeit sowie te.ma-Redakteur Julian Koller.
DA: Yaron Matras, Sie forschen seit Jahrzehnten zum Thema Sprachkontakt. Was ist mit dem Begriff gemeint – und was gilt es dazu herauszufinden?
YM: Es gibt drei Perspektiven, die man hier ansprechen kann: Aus der Sicht der Sprecher ist Sprachkontakt einfach die Tatsache, dass sie in mehr als einer Sprache leben und kommunizieren. Die Mehrheit der Weltbevölkerung ist mehrsprachig nach der Definition, dass sie mehr als einer Sprache ausgesetzt ist – sei es durch Studium, durch Reisen, aber auch zu Hause. Es ist die Alltagsrealität vieler Menschen.
Dann gibt es den Bereich der gesellschaftlichen Organisation, Politik und Kultur. In mehrsprachigen Gesellschaften stellt sich die Frage: Wie regelt man die Verwendung mehrerer Sprachen? Oftmals gar nicht. Aber es gibt gewisse soziale Normen, die die Menschen verinnerlichen und befolgen. Es gibt auch bestimmte Gremien, sei es direkt in der Gesetzgebung oder in gesellschaftlichen oder politischen Institutionen, die Vorschläge entwerfen, welche Sprache wo genutzt werden soll. Wenn es Sprachkontakt gibt, geht es oftmals eigentlich um den Status der jeweiligen Sprachen. Das führt manchmal zu Konflikten oder zumindest zu einer Auseinandersetzung mit den Machtverhältnissen.
Dann gibt es noch den wissenschaftlichen Bereich. Wenn wir Sprachkontakt betrachten, stellt sich die Frage, wie man Sprachen verarbeitet. Sind sie einem ständig zugänglich? Kann man eine Sprache für ein Gespräch ganz abschalten oder ist sie immer im Hintergrund aktiviert? Geht es um den Spracherwerb, interessiert uns: Wie geht man mit mehr als einer Sprache in seinem Repertoire an Fähigkeiten um? Und schließlich – das ist vielleicht die klassische erste Frage, wenn man als Linguist an Sprachkontakt denkt: Wie beeinflusst Sprachkontakt die Art und Weise, wie die Menschen sprechen und wie beeinflusst dies über verschiedene Zeitstufen hinaus die Strukturen der Sprachen? Welche Wörter übernehmen die Menschen aus einer Sprache und verwenden sie in der anderen? Und: Warum werden manche Strukturen leichter übernommen als andere?
Die Mehrheit der Weltbevölkerung ist mehrsprachig nach der Definition, dass sie mehr als einer Sprache ausgesetzt ist. Es ist die Alltagsrealität vieler Menschen.
DA: Welche dieser Fragen hat die Kontaktlinguistik in den letzten Jahren oder Jahrzehnten beantworten können?
YM: Einer der Pioniere im Bereich Sprachkontakt war Ende des 19. Jahrhunderts William D. Whitney
DA: Wie kommt es zu diesen Hierarchien?
YM: Ich denke, wie anfällig eine sprachliche Struktur dafür ist, im Rahmen von Sprachkontakt „entlehnt“ zu werden, hat damit zu tun, wie oft wir bestimmte Wörter benutzen. Teilweise spielt auch der Verarbeitungsaufwand eine Rolle, also die Frage: Wie komplex ist es, eine Struktur im Gespräch einzusetzen? Um dies zu untersuchen, setzen wir die sogenannte Konversations- und Diskursanalyse ein. Wir versuchen auch, Kategorien wie
DA: Was sind die ersten Elemente, die für Entlehnungen anfällig sind?
YM: Im Bereich des Wortschatzes sind es oft Innovationen. Technische und kulturelle Innovationen oder auch Institutionen müssen irgendwie benannt werden. Im Bereich der sozialen Medien beispielsweise oder in der Werbung auf Deutsch werden viele Anglizismen übernommen. Viele Sprachen zwischen Zentralasien und Westafrika sind im Laufe ihrer Geschichte vom Islam beeinflusst worden und haben deshalb arabischen Wortschatz übernommen, vor allem im Bereich der Kultur und Verwaltung. Im Bereich der Grammatik werden oft Wörter entlehnt, die wir als Satzpartikel oder Verbindungswörter definieren – in der Fachterminologie sagen wir „Konjunktionen“ und „Diskursmarker“. Das sind Wörter, die zum einen dazu dienen, Einstellungen zum Gesagten zum Ausdruck zu bringen, aber zum anderen auch Verhältnisse zwischen Sätzen oder zwischen Satzteilen deutlich zu machen, beispielsweise Wörter des Kontrastes wie „aber“, „trotzdem“ oder „und dann“.
DA: Welche sprachlichen Elemente verraten uns, dass ein sehr intensiver Sprachkontakt stattgefunden hat?
YM: Wir erkennen das im Bereich der
JK: Welchen Einfluss haben die Erkenntnisse aus der Sprachkontaktforschung darauf, wie in anderen Wissenschaften Sprache, Kommunikation oder gar die Welt wahrgenommen wird?
YM: Es geht teilweise darum, grundsätzlich die Integrität von Kategorien zu hinterfragen und zu überdenken. Wir gehen wahrscheinlich in jeder Wissenschaft von einer gewissen
Wir sind in der Wissenschaft in einem postmodernen Zeitalter angekommen, wo wir anfangen, Grenzzieherei zu hinterfragen.
JK: Wirkt sich dieser Perspektivwechsel in der Forschung auch auf sprach- oder gesellschaftspolitische Überlegungen aus?
YM: Entsprechend dem Hinterfragen fester Kategorien gibt es einen Trend in der Sprachwissenschaft, Sprachmischung nicht mehr als Regelverstoß oder Grenzüberschreitung zu betrachten – sondern als Dauerzustand. Man nimmt an, dass sich Sprecher mental nicht in einzelne Sprachen aufteilen, sondern dass wir ein Repertoire haben, also einen Gesamtbestand an Formen, die wir in verschiedenen Kombinationen ganz dynamisch einsetzen können. Man redet in der Forschungsliteratur und in der Pädagogik der Mehrsprachigkeit jetzt von
DA: Es gibt Menschen, die um ihre Sprache besorgt sind. Manche sagen, dass eine Sprache durch zu viel Vermischung mit anderen Sprachen beschädigt wird oder aussterben kann. Was ist Ihr Standpunkt dazu?
YM: Ich denke, wenn man Sprache als kontextgebunden und als eine Art Positionierung akzeptiert, dann gilt dies in alle Richtungen. Sprachen zu mischen, also die Grenzen der einzelnen Sprachen zu überschreiten, kann eine Positionierung sein. Damit kann eine Person deutlich machen: „Ich gehöre sowohl dahin als auch dorthin.“ Aber auch der Sprachpurismus, den viele so abschätzig betrachten und kritisieren, kann eine Positionierung sein. Beispielsweise kann damit ausgedrückt werden „Mir fehlt etwas und das möchte ich irgendwie kompensieren“, oder „ich möchte darauf insistieren, dass man diese Identität ausbaut“. Da sehe ich keinen Widerspruch. Das sind zwei verschiedene Trends an verschiedene Polen, vielleicht auf einem Kontinuum, aber es sind beides Phänomene, die präsent sind. Wenn man Sprache als Handlung und Praxis und nicht nur als Form betrachtet, dann sind das eben zwei unterschiedliche Sprachpraxen, die einen Ausschnitt der Realität repräsentieren.
JK: Gibt es Situationen, in denen Sprachkontakt aus politischen Gründen unterbunden wird oder gesellschaftlichen Widerstand erfährt?
YM: Sprachkontakt ist ein natürliches Phänomen, das überall stattfindet. Aber die Mehrsprachigkeit als gesellschaftliche Realität wird oft verleugnet und sogar unterdrückt. Ich habe gerade ein Buch
Es ist nicht falsch, dass man von Leuten verlangt, bestimmte Sprachkenntnisse zu haben. Wobei ich denke, dass fehlende Englischkenntnisse nicht mit einem Mangel an Integration gleichgesetzt werden können – das ist nicht bewiesen. Anstatt also davon auszugehen und Personen, die andere Sprachen sprechen, einzuschüchtern, kann man sich auch die Frage stellen: In welche Segmente der Gesellschaft sind sie denn integriert und wo sind sie ohne Kenntnisse einer Landessprache trotzdem kulturell und wirtschaftlich produktiv? Die Verknüpfung von politischen Rechten, wirtschaftlichen Prognosen und Sprachkenntnissen wird oft gegen Menschen ausgelegt. Das finde ich ziemlich gefährlich.
Die Verknüpfung von politischen Rechten, wirtschaftlichen Prognosen und Sprachkenntnissen wird oft gegen Menschen ausgelegt. Das finde ich ziemlich gefährlich.
JK: Sind diese Aspekte auch Beweggründe gewesen, um ein Projekt wie City of Languages ins Leben zu rufen?
YM: City of Languages ist ein Nachfolgeprojekt von einem früheren Projekt von mir an der Uni Manchester: Multilingual Manchester. Das war zwölf Jahre lang sehr erfolgreich damit, die Mehrsprachigkeit der Stadt in den öffentlichen Diskurs zu stellen. Tatsächlich hat es dazu geführt, dass das Thema von den kulturellen Gemeinschaften und Organisationen aufgegriffen und schließlich von der Stadtverwaltung als ein positives Symbol der eigenen Identität vermittelt wurde. Ich sehe überhaupt keinen Grund, warum der Staat nicht auch so agieren sollte. Überall in Westeuropa gibt es eine Dynamik hin zur Mehrsprachigkeit, z.B. sprechen gute 40-50 Prozent der jungen Bevölkerung in Berlin, Hamburg, Frankfurt, Amsterdam und Paris mehrere Sprachen. Da gibt es keinen Zweifel, dass die Zukunft mehrsprachig ist. Deshalb sind Initiativen wie Multilingual Manchester, die später in die neue Gruppe „City of Languages“ übergingen, ein Versuch, sich zu vernetzen. Sie sind ein Teil eines größeren Vorhabens, gemeinsam mit anderen Initiativen zu agieren. Vor ein paar Jahren haben wir ein Manifest veröffentlicht und das „Multilingual Cities Movement“ ins Leben gerufen. Ziel ist es, auf verschiedenen Ebenen und nicht nur in akademischen oder Forschungskreisen, sondern in der gesamten Gesellschaft zusammenzuarbeiten, um den globalen Trend der Mehrsprachigkeit von Städten und Staaten zu fördern und zu feiern.
JK: Welche Hürden bestehen, die eine solche Entwicklung erschweren?
YM: Es gibt Hierarchien. Bisher wurden in Europa auf politischem und institutionellem Weg nur bestimmte
DA: Besteht in einer sehr multilingualen Gesellschaft nicht die Gefahr, dass sich letztlich weniger Menschen verstehen bzw. verständigen?
YM: Mehrsprachigkeit bedeutet nicht, dass man sich nicht versteht, auch wenn das gerne so dargestellt wird. Vor einigen Jahren gab es in Großbritannien einen berühmt-berüchtigten Bericht vom Staat, den Casey Report. Daraus ging hervor, man solle aufhören, Minderheitensprachen zu sprechen, weil sonst eine gemeinsame Sprache fehle. Es gibt aber keine Berichte darüber, dass Menschen sich nicht verständigen. Ab und zu passiert das vielleicht – es gibt z.B. Anekdoten, dass Schotten aufgrund ihres Akzents in England nicht verstanden werden. Im Großen und Ganzen gibt es aber kein Problem. Die meisten Menschen lernen die Umgebungssprachen zumindest teilweise und man versteht sie. Für den Fall, in dem man sich nicht verständigen kann, gibt es Dolmetscher. Wir kommen damit zurecht, schon seit Jahrhunderten. Das ist also nicht die Realität.
Die meisten Menschen lernen die Umgebungssprachen zumindest teilweise und man versteht sie. Andernfalls gibt es Dolmetscher. Wir kommen damit zurecht, schon seit Jahrhunderten.
DA: Welche sind die konkreten Vorteile einer mehrsprachigen Gesellschaft, in der es keine Hierarchien zwischen den Sprachen und Sprachgemeinschaften gibt?
YM: Nach den Vorteilen von Mehrsprachigkeit werde ich oft gefragt, z.B. von Politikern. Das sind meistens Menschen, die diese Sache unterstützen wollen. Aber sie wollen Argumente dafür haben und möchten wissen, was der wirtschaftliche Vorteil von Mehrsprachigkeit ist. Denn das kann man verkaufen. Aber Mehrsprachigkeit ist erstmal eine Realität. Ich propagiere die Mehrsprachigkeit nicht deshalb, weil ich will, dass alles mehrsprachig wird. Es ist vielmehr eine Frage von Menschenrechten. Da, wo es Mehrsprachigkeit gibt, gilt es, sie zu respektieren, sie zu erlauben, sie zu fördern und sie nicht zu unterdrücken. Ob man daraus Vorteile gewinnt? Manchmal durchaus, beispielsweise Verbindungen in alle Welt. Im wirtschaftlichen Sinne schafft das Vertrauen, man kann auf dieser Basis den Handel verbessern.
Es gibt jedoch Leute in Großbritannien, die im Zusammenhang mit dem Brexit gesagt haben, dass wir gerade jetzt viele Sprachen lernen und verstehen müssen, um eine stärkere Weltmacht sein zu können. Dem stehe ich skeptisch gegenüber. Sprachen zu fördern, damit wir andere dominieren können, das ist meiner Auffassung nach nicht unterstützenswert. Ich finde Mehrsprachigkeit faszinierend, es ist ein ästhetisches und bereicherndes Erlebnis. Aber ich würde deshalb auch nicht im Umkehrschluss sagen, dass die Einsprachigkeit defizient wäre. Einsprachige Menschen können tolle Sachen erreichen, sie haben dadurch nicht unbedingt Nachteile.