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Das Menschenrecht auf die eigene Sprache

Re-Paper
Nirmala Chandrahasan2015

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Geschrieben von Julian Andrej Rott

Bei te.ma veröffentlicht 02.11.2023

te.ma DOI 10.57964/pqad-8q32

Geschrieben von Julian Andrej Rott
Bei te.ma veröffentlicht 02.11.2023
te.ma DOI 10.57964/pqad-8q32

Die sri-lankische Juristin, Anwältin und Friedensaktivistin Nirmala Chandrahasan untersucht den Einfluss internationaler Menschenrechtsabkommen auf die Lebenssituationen kleiner Sprachgruppen. Ihrer These nach ist das Einrichten von Infrastrukturen für Minderheitensprachen nicht nur Menschenrecht, sondern wahrt auch den nationalen Frieden.

Was hält eine Gesellschaft zusammen, was macht ihren Kern aus? „Identität – sei es auf individueller, sozialer oder institutioneller Ebene – ist etwas, das wir ständig im Laufe unseres Lebens aufbauen und verhandeln, durch unsere Interaktion mit anderen“, sagt Nirmala Chandrahasan. Interaktionen auf der sozialen und politischen Ebene beruhen darauf, sich seinem Gegenüber mitzuteilen oder auf Gesagtes, Gefordertes oder Skandiertes zu reagieren. Chandrahasan, die selbst den Bürgerkrieg in Sri Lanka miterlebt hat, schlägt damit direkt die Brücke zwischen der Konstruktion unseres Zusammenlebens und der Sprache: Letztere sei nicht nur das ausschlaggebende Mittel, um diese Verhandlungen zu führen, sondern auch eine allgegenwärtige Bühne ihrer Auswirkungen. 

Historisch gesehen erwachsen soziopolitische Entitäten wie Staaten oder Stämme laut Chandrahasan um Sprachen und definieren sich im Ursprung über sie. Denn: Wer wie die anderen Personen einer Gruppe spricht, der gehöre ihr wahrscheinlich an oder sei ihr zumindest wohlgesonnen. Dabei wird die Sprache oft selbst zum Politikum: Wie die Machthabenden sprechen, wird prestigeträchtig (gemacht) – die Sprache opponierender Gruppen wird unterdrückt. Hierin erkennt Chandrahasan auch eine Anerkennung der Rolle von Sprache als Trägerin der Kultur und des geteilten Wissens. Das macht Sprache gefährlich, denn sie ist somit auch untrennbar mit der Gruppenidentität verbunden, stärkt den Zusammenhalt und gegebenenfalls damit den Widerstand gegen repressive Kräfte.

Eine sichtbar gelebte Mehrsprachigkeit sei dagegen eine Spiegelung der komplexen Vielzahl von Identitäten, die Menschen in sich vereinen können, findet Chandrahasan. Das Konzept des „Melting Pots“, des sozialen, multikulturell homogenisierenden Schmelztiegels, lehnt sie entsprechend explizit ab. Chandrahasan reiht sich damit in kritische Stimmen ein, die in der vermeintlich egalitären Integration zu einem neuen Ganzen einen versteckten Anpassungszwang an die Mehrheitskultur sehen. Stattdessen vertritt sie die Ansicht, dass gut funktionierende pluralistische Gesellschaften die Belange der ihnen innewohnenden Gruppen ernstnehmen und gesetzlich zusichern sollten. Das theoretische Ergebnis, so legen ihre Ausführungen zumindest nahe, sollte ein mehrsprachiges Miteinander mit Austausch auf Augenhöhe sein.

Einer der direktesten Wege hierfür sei das Recht, die eigene Sprache im privaten wie im öffentlichen Raum ungehindert und für alle Zwecke einsetzen zu können. Sprachrechte stehen für eine vollumfängliche soziale Teilhabe und sind, so die Autorin, Menschenrechte. Das war jedoch nicht immer so: Chandrahasan zeichnet die Entwicklung dieser Perspektive historisch nach und sucht ihre Wurzeln in den sozialphilosophischen und gerechtigkeitstheoretischen Diskursen des 18. Jahrhunderts. Den Grundstein für Menschen- und somit auch Sprachrechte findet sie bei Denkern wie Thomas Paine, John Stuart Mill oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel, von dem das heute noch aktuelle Zitat stammt: „Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist.“1

Ein wichtiges Ergebnis dieser Strömungen war die unbedingte Gleichheit der Person an sich, welche erstmals eine konkrete politische Manifestation in Dokumenten wie der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung erlangte. Chandrahasan argumentiert, dass der Schutz von Minderheiten eine konsequente Weiterentwicklung der rechtlichen Vorrangstellung der Einzelperson darstelle. Obwohl Chandrahasan ihre Überlegungen nicht näher ausführt, lässt der Kontext darauf schließen, dass für sie die Anerkennung der Individualität vom Einzelnen auf die Gruppe übertragen wurde, wodurch eine Wertschätzung von Pluralität entsteht. Dies habe sich nach dem Ersten Weltkrieg in den Minderheitenschutzverträgen des Völkerbundes niedergeschlagen und 1948 durch die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte weitere Stärkung erfahren. Die Menschenrechtserklärung wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten als zentraler Baustein des Völkerrechts in die Grundrechtsbestimmungen der meisten Länder aufgenommen. Die Autorin zeigt anschließend anhand ausgewählter Abkommen wie dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 oder der Deklaration der Rechte von Angehörigen nationaler oder ethnischer, religiöser und sprachlicher Minderheiten von 1992, wie Sprachenrechte und Minderheitenschutz sowohl in internationalen als auch in lokalisierten Abkommen eine immer prominentere Rolle einnahmen. Heute gibt es sprachspezifische Schutzbestimmungen wie beispielsweise die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Ein wichtiger Kernbaustein sei, so Chandrahasan, bei allen Bestrebungen die Verankerung der Sprachen im Schulwesen, da Identität und Sprache zwischen den Generationen über die Bildung in der Minderheitensprache übertragen würden.

Die Juristin untersucht die konkreten Ausprägungen dieser Entwicklungen anhand von monolingualen, bilingualen und multilingual strukturierten Gesellschaften. Ihre Beurteilung der Situationen in den einzelnen Gebieten ist dabei klar durch ihren Aktivismus informiert: Sie steht konsequent für das Ziel der Erschaffung pluralistisch strukturierter, gleichberechtigter Gesellschaften ein. Ein Pluralismus, der nationalen Frieden erlaube – und somit auch ein Angebot an die Herrschenden: Diese könnten damit die nationalstaatliche Integrität wahren, welche Chandrahasan als Grundvoraussetzung politischen Handelns der staatlichen Führung annimmt. Sie selbst legt in ihrem Text eingangs jedoch offen, dass die gezielte Unterdrückung von Minderheitensprachen durch Prestigegefälle, Sprachverbote und weitere Formen der Gewalt ein häufiges Mittel zur Machtsicherung ist. Die positive Darstellung verschiedener Mehrsprachigkeitspolitiken als stabilisierende „Zugeständnisse“ der jeweiligen Staaten an ihre unterrepräsentierten Minderheiten trägt dadurch derem Interessenkampf um Teilhabe oder auch Staatsgebiet mitunter wenig Rechnung.

Als Beispiel einer lange Zeit monolingual orientierten Gesellschaft zieht Chandrahasan das Vereinigte Königreich heran. Der Sinneswandel hin zur Wertschätzung der Mehrsprachigkeit habe legislativ erst ab den 1990er Jahren Ausdruck gefunden. Die Effekte sind spürbar: Obwohl Sprachen wie das Walisische, das Schottisch-Gälische oder das Manx mittlerweile politische Unterstützung erhalten, waren oder sind sie alle vom Aussterben bedroht bzw. mussten wie im Falle des Kornischen sogar erst wiederbelebt werden. Im Spanien des Franco-Regimes sowie der heutigen Türkei findet sie Beispiele für einen gesetzlichen Monolingualismus, der die Verwendung von Minderheitensprachen kriminalisiere. Chandrahasan sieht in dieser aktiven Unterdrückung eine Triebkraft der separatistischen Kämpfe von Gruppen wie der baskischen ETA oder der kurdischen PKK.

Dem gegenüber stellt Chandrahasan Modelle in mehrsprachigen Staaten. An Beispielen wie Kanada, Finnland und Sri Lanka zeigt sie, wie umfassende Sprachrechte sowie politische Teilhabe Unabhängigkeitsbestrebungen verschiedener Härtegrade den Wind aus den Segeln nehmen können. Dass dieser Prozess ein fortwährender ist, beschreibt sie am eindrücklichsten anhand ihrer Heimat Sri Lanka, wo Linguizismus und Diskriminierung gegenüber Tamil*innen trotz verbesserter Sprachinfrastruktur noch immer zum Alltag gehöre.

Staaten, in denen eine größere sprachliche Pluralität vorherrscht, würden laut Chandrahasan gut daran tun, diese Diversität zum identitätsstiftenden und einenden Merkmal zu erheben. Beispiele wie die Schweiz zeigen, wie dies gelingen kann: Der schweizerische Staat gibt jedem Gebiet die Kompetenz, die eigene Amtssprache selbst festzulegen. Parallel muss die gesamte  öffentliche Kommunikation seitens des Staats gleichberechtigt in allen Sprachen stattfinden. Wer von einem Kanton in einen anderen zieht, kann in der Schweiz offizielle Anliegen in seiner Muttersprache vorbringen. Dies funktioniert für Deutsch, Französisch und Italienisch landesweit, seit 1996 – mindestens symbolisch – auch für das Rätoromanische. Doch ist ein solches Modell nicht in allen Ländern umsetzbar, argumentiert Chandrahasan: So werden beispielsweise in Indien, dem viertvielsprachigsten Land der Welt, heute rund 450 Sprachen gesprochen und 75 davon aktiv unterrichtet. Die Verfassung erlaubt den Bundesstaaten ebenfalls die Festlegung der eigenen Sprachen, aber Hindi und Englisch fungieren als übergreifende, nationale Verkehrssprachen.

Die Umschau macht deutlich, dass die Anerkennung der Rechte von Minderheiten gut über die strukturelle Einbettung ihrer Sprache(n) umzusetzen ist, und dies wiederum den sozialen Zusammenhalt fördert, was dem Frieden dienlich ist. Internationales Menschenrecht greift dabei als normative Instanz und stellt solchen Vorhaben die Rahmenbedingungen. Insgesamt legt Chandrahasan schlüssig dar, warum Sprachrechte als messbarer Marker für Menschenrechte einstehen können, wenn sie wohl auch eher Ergebnis als Lösungsansatz für Kämpfe und Verhandlungen in größeren Konflikten sind.

Fußnoten
1
Re-Paper

Offener Zugang
Offener Zugang bedeutet, dass das Material öffentlich zugänglich ist.
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Linguizismus bezeichnet eine spezifische Form der Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer Sprache, ihres Akzents oder Dialekts. Häufig richtet er sich gegen Minderheitensprachen oder Sprachformen bestimmter sozialer Gruppen.

Das Walisische (Eigenbezeichnung Cymraeg) ist eine keltische Sprache, die in Wales von ca. 750.000 Menschen gesprochen wird. Es ist damit heute die Sprache mit den meisten Muttersprachler*innen innerhalb ihrer Sprachfamilie.

Das Schottisch-Gälische (Eigenbezeichnung Gàidhlig) ist eine keltische Sprache, die heute noch in Teilen Schottlands, vor allem auf den Inseln der Inneren und Äußeren Hebriden sowie im Hochland von insgesamt knapp 58.000 Menschen gesprochen wird.

Manx (Eigenbezeichnung Gaelg oder Gailck) st eine keltische Sprache, die auf der Isle of Man gesprochen wird. Sie war nach 1974 vorübergehend ausgestorben, wird heute aber aufgrund von Sprachrevitalisierungsbemühen wieder von ca. 100 Muttersprachler*innen und annähernd 1700 Zweitsprachler*innen gesprochen.

Kornisch (Eigenbezeichnung Kernewek oder Kernowek) ist eine keltische Sprache, die Ende des 18. Jahrhunderts ausstarb. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es Revitalisierungsbemühungen. Heute sprechen rund 550 Menschen fließend Kornisch, allerdings immer als Zweitsprache oder bilingual mit Englisch.

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