Der Konstruktivismus geht davon aus, dass Sprache die Welt nicht einfach abbildet, sondern Wortschatz und Grammatik unser Bild von der Wirklichkeit maßgeblich prägen. In diesem Verständnis geht die Sprache der Wahrnehmung und Erkenntnis der Welt voraus. Da es keinen Zugang zur Realität jenseits der Sprache gibt, können keine oder nur sehr begrenzte Aussagen über ihren objektiven Status gemacht werden – sie erscheint immer nur in einer bestimmten, sprachlich geprägten Perspektive.
Der sprachphilosophische Realismus geht hingegen davon aus, dass die Wirklichkeit unabhängig von sprachlichen Formen gegeben ist und erst in einem zweiten Schritt sprachlich benannt wird. Sprache und Welt existieren unabhängig voneinander. Ein unmittelbares Erkennen der Phänomene ist möglich – und es gibt, jenseits von bestimmten Perspektiven, objektiv zutreffende (ebenso wie falsche) sprachliche Beschreibungen der Wirklichkeit.
Die konstruktivistische Tradition wird in Deutschland im 18. Jahrhundert wirkmächtig. Andreas Gardt nennt in seinem Aufsatz zunächst Herder, Schlegel und Humboldt als frühe Vertreter. Schließlich verläuft die Entwicklung über Nietzsche und Cassirer bis in die Gegenwart hinein. Die Positionen unterscheiden sich dabei in der Frage, welches Ausmaß die sprachliche Prägung der Wirklichkeit annimmt. Für einige Autoren ist diese Prägung partiell, für andere absolut – das heißt, ein sprachfreies Erkennen der Welt ist unmöglich. In einer solchen Perspektive, fasst Gardt zusammen, lässt sich „sagen, dass die Sprache mit dem für uns einzig verfügbaren Bild von der Wirklichkeit in gewisser Weise die Wirklichkeit selbst für uns hervorbringt.“
Die konstruktivistische Grundannahme, wonach Sprache maßgeblichen Einfluss darauf hat, wie Menschen denken und wahrnehmen, wird in der Linguistik oft als
Beide gehören zu den ersten Wissenschaftlern, die Anfang des 20. Jahrhunderts konstruktivistische Thesen empirisch untersuchten. Die Aussage, dass Whorfs Arbeiten heute „nicht unumstritten“ seien, wie Gardt anführt, ist allerdings untertrieben. Vielmehr wurde sein Werk in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Kritik regelrecht zerpflückt.
In seinen Arbeiten über indigene Sprachen, insbesondere Inuit und Topi, wurden zahlreiche Versäumnisse nachgewiesen. Zentrale Thesen erwiesen sich als unhaltbar. Für viele Jahrzehnte war die Sapir-Whorf-Hypothese – und damit konstruktivistisches Denken – in der Linguistik weitestgehend diskreditiert. Erst in den letzten Jahrzehnten begann sich ein kleiner Paradigmenwechsel abzuzeichnen.
Heute beschäftigen sich Linguist*innen wieder mit konstruktivistischen Thesen. Gardt nennt hier unter anderem Daniel Everett, die Arbeiten von George Lakoff und Mark Johnson sowie von Lera Boroditsky. Die Kognitionswissenschaftlerin hat sich in den vergangenen Jahren mit zahlreichen Studien einen Namen gemacht, die zeigen, wie verschiedene Sprachen Denken und Wahrnehmung von Menschen prägen, etwa ihre Farb- und Zeitwahrnehmung oder ihr Verständnis von Kausalität.
Wie Gardt bemerkt, sind es vor allem konstruktivistische Positionen, durch die Sprache heute ins Zentrum politischer Diskurse rückt. Gerade das Gendern sei nur vor dem Hintergrund einer konstruktivistischen Sicht auf Sprache plausibel. In Hinblick auf das generische Maskulinum ließe sich dann argumentieren, dass Frauen nicht nur aus der Sprache, sondern auch aus dem gesellschaftlichen Raum ausgeblendet werden.
Gardt kritisiert, dass sich in Hinblick auf gendergerechte Sprache mancherorts eine Art „Alltagskonstruktivismus“ eingestellt habe, in der die wissenschaftlich strittige Sapir-Whorf-Hypothese ohne differenzierende Erklärung reproduziert werde. Das ist im öffentlichen Diskurs tatsächlich beobachtbar. Heute lassen sich jedoch psycholinguistische Studien anführen, die etwa zeigen, dass das generische Maskulinum, das eigentlich alle Geschlechter benennen soll, im Deutschen und Französischen häufiger männlich konnotierte Bilder erzeugt.
Allerdings betont Gardt, dass der Konstruktivismus politisch und ideologisch neutral ist. Nicht nur emanzipative, sondern auch konservative Projekte werden von ihm getragen. Gardt führt hier die Geschichte des deutschen Fremdwortpurismus an. Vom Barock bis hinein ins Kaiserreich gab es etwa immer wieder Bestrebungen, französische Lehnwörter aus der deutschen Sprache zu tilgen – aus Angst, dass sie, wie ein Autor des 19. Jahrhunderts befürchtet, die „Lebensverhältnisse verwirren“ und das „Deutschthum verunstalten, entstellen und schänden“
Der sprachphilosophische Realismus spielt heute – zumindest im geisteswissenschaftlichen Diskurs – eine eher marginale Rolle. Gardt zeigt jedoch wachsende Bemühungen auf, auch konstruktivistische Positionen einer Selbstkritik zu unterziehen. In einem zunehmend von Verschwörungstheorien geprägten politischen Diskurs hatte etwa der Wissenschaftsoziologe Bruno Latour in den 2010er Jahren die Sorge geäußert, alltagskonstruktivistische Positionen könnten das gesellschaftliche Vertrauen in Fakten und Institutionen zersetzen.
Gardt selbst plädiert – ähnlich wie der Philosoph Martin Seel – für einen Mittelweg. Es sei falsch zu behaupten, die Dinge seien unabhängig von der Sprache, so „wie sie nun einmal sind“. Konstruktivistisches Denken eröffne die Möglichkeit, vermeintlich natürlich gegebene Tatsachen ideologiekritisch zu untersuchen und die dahinter liegenden sozialen Prozesse offenbar zu machen. Dennoch sagt Gardt, ist eben nicht alles Sprache und Konstruktion: „Die Wirklichkeit ist widerständig, sie korrigiert uns, indem sie unsere Konstruktionen an ihre Grenzen stoßen lässt.“