Die traditionelle soziale Zweiteilung der Geschlechter wird seit einiger Zeit in Frage gestellt, kritisiert und kontrovers diskutiert – nicht nur in der öffentlichen Debatte, sondern auch im wissenschaftlichen Diskurs und in rechtlichen Belangen. Ist Geschlecht grundsätzlich keine kategoriale Größe, sondern eine abstrakt kontinuierliche Dimension, mit Ausprägungen auf einer numerischen Skala von sehr maskulin bis sehr feminin?
Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden auf vielen Ebenen beschrieben: Aussehen, Persönlichkeit, Hobbys, Berufswahl und mehr. Vieles wird mit typisch männlich, vieles mit typisch weiblich in Verbindung gebracht, aber auch hier weicht die Zweiteilung auf, und die Zuschreibung zur einen oder anderen Seite erfolgt nicht mehr nur binär, sondern eher tendenziell oder eben zu einem gewissen Grad. Frauen bei der Polizei oder Bundeswehr und Männer in Pflegeberufen oder im Kindergarten sind keine Ausnahme mehr.
Solche geschlechtsspezifischen Unterschiede gibt es auch hinsichtlich sprachlicher Merkmale. Aber auch diese Merkmale sind nicht einfach nur binär verteilt, sondern zeigen Überschneidungen zwischen Männern und Frauen. Sollten dann nicht auch diese sprachlichen Unterschiede bzw. phonetischen Merkmale (z.B. die Stimmhöhe, die Deutlichkeit des Sprechens, das Sprechtempo) nicht nur zwischen den Geschlechtern (oder Gendern) betrachtet werden, sondern auch innerhalb von Männern und Frauen, die sich in den Ausprägungen ihrer Femininität und Maskulinität unterscheiden? Und sollten wir dies nicht auch berücksichtigen in unserer Wahrnehmung und Interpretation des Gesagten? Die Soziophonetik untersucht genau dies: die soziale Bedeutung von phonetischen Details hinsichtlich des Anzeigens (auf Sprecher*innenseite) und der Wahrnehmung (auf Hörer*innenseite) von sozialer Identität.
Das Anzeigen von Gender im phonetischen Detail
Sprechen Männer anders als Frauen? Ja. Es gibt viele Studien, die sich mit dem Einfluss des biologischen Geschlechts auf phonetische Feinheiten in der Sprache beschäftigen und Unterschiede zwischen Männern und Frauen in verschiedenen Sprachen der Welt finden.
Zum einen ist dies in anatomischen und physiologischen Unterschieden in Größe und Beschaffenheit des Sprechapparates begründet (wie
Gibt es denn nun auch Variation innerhalb einer Gruppe mit demselben biologischen Geschlecht und derselben sexuellen Orientierung? Sprechen Männer oder Frauen anders, je nachdem, wie maskulin oder feminin sie sich fühlen? Studien zu geschlechtsspezifischer phonetischer Variation bei Erwachsenen innerhalb einer Sprache und eines Geschlechts und unabhängig von der sexuellen Orientierung sind bisher eher selten. Wir sind dieser Forschungsfrage nachgegangen und haben den Zusammenhang von selbst eingeschätzter Femininität und phonetischer Variation bei deutschen heterosexuellen Cis-Männern und Frauen untersucht. Dazu wurde die Sprache von 20 Männern und 17 Frauen (mittleres Alter: 29.3 Jahre,
Klare Unterschiede dieser Einschätzungen zwischen den Männern (blau) und Frauen (rot) der Studie (TMF, x-Achse, Trennwert bei ca. 4) zeigt die Grafik in Abbildung 1. In der Femininität gemessen anhand der GEPAQ-Skala (y-Achse) aber gibt es sowohl eine große Überschneidung zwischen den Geschlechtern (viele Männer und Frauen haben ähnliche Werte zwischen 5 und 6) als auch Variation innerhalb der Geschlechtergruppen. Die GEPAQ-Skala eignet sich somit nicht (mehr?) gut zur Trennung zwischen den Geschlechtern. Hohe GEPAQ-Werte sind nicht etwas, das Frauen auszeichnet oder Frauen von Männern trennt, sondern sie spiegeln individuelle Unterschiede in der Femininität unabhängig vom biologischen Geschlecht wider.
Man kann also sagen: Die Männer fühlen sich zwar schon überwiegend maskulin und die Frauen überwiegend feminin, aber es gibt innerhalb der beiden Gruppen sehr viel Varianz. Manche Frauen ordnen sich auf der GEPAQ-Skala als weniger feminin ein als andere Frauen und – wichtig – auch als manche Männer. Und umgekehrt das Gleiche: Manche Männer bewerten sich auf der Skala femininer als andere Männer, und eben auch femininer als manche Frauen. Diese GEPAQ-Werte haben wir nun genutzt, um eine mögliche Verbindung zwischen Geschlechtsidentität (genauer gesagt Femininität) und stimmlichen oder sprecherischen Merkmalen zu untersuchen.
Zeigt sich diese Variation in der selbst zugeschriebenen Femininität innerhalb der Geschlechtergruppen nun auch in phonetischen Parametern? Dazu wurden innerhalb der Frauen- und Männergruppen Korrelationen zwischen den Femininitätswerten und der Stimmhöhe, der Modulation der Stimmhöhe und dem akustischen Vokalraum berechnet. Abbildung 2 zeigt den Zusammenhang zwischen Femininität und den phonetischen Parametern Stimmhöhe (links) und Vokalraum (rechts) getrennt nach Geschlechtergruppe (blau: Männer, rot: Frauen).
Es zeigen sich signifikante positive Korrelationen bei Männern: Feminine Männer sprechen höher (haben eine höhere mittlere Sprechstimmlage) und deutlicher (haben einen größeren akustischen Vokalraum). Diese Tendenz ist auch bei den Frauen zu erkennen, statistisch jedoch nicht signifikant. Zwischen der Modulation der Stimmhöhe und der Femininität fand sich ebenfalls keine signifikante Korrelation. Zusammenfassend weisen die Ergebnisse der Studie darauf hin, dass heterosexuelle Männer ihre Femininität anhand verschiedener sprecherischer und stimmlicher Parameter anzeigen.
Die Interpretation von Gender anhand von phonetischem Detail
Können Hörer*innen diese angezeigte Femininität aber nun auch wahrnehmen und korrekt interpretieren? Dazu haben wir zwei Hörexperimente gemacht, bei denen den Proband*innen jeweils zwei Sprecher (bzw. Sprecherinnen) vorgespielt wurden (und zwar jeweils nur das Wort „Tasse“). Die Hörer*innen mussten dann entscheiden, welcher der beiden Sprecher (bzw. Sprecherinnen) maskuliner (bzw. femininer) klingt. Die Einschätzung erfolgte auf einer Skala mit einem Mittelwert (kein Unterschied feststellbar).
Es zeigte sich, dass das Hörer*innenurteil mit der Selbsteinschätzung korrelierte: Der Sprecher bzw. die Sprecherin, die sich weniger feminin einschätzte, wurde auch als weniger feminin wahrgenommen. Hörer*innen können also die Femininität eines Sprechers anhand eines gehörten, sehr kurzen Wortes („Tasse“) einschätzen. Dabei zeigte sich allerdings ein Einfluss des Geschlechts der Hörer*innen: Frauen konnten dies besser bei männlichen Stimmen beurteilen und zeigten eine höhere Korrelation zwischen der wahrgenommenen und der selbst zugeschriebenen Femininität der männlichen Sprecher als die Hörer desselben Geschlechts. Im parallelen Experiment mit weiblichen Stimuli zeigten sich ebenfalls positive Korrelationen, hier schnitten jedoch die Männer besser ab als die Frauen. Eine mögliche Erklärung für die besseren Erkennungsraten in den Stimmen des jeweils anderen biologischen Geschlechts ist, dass die angezeigte Femininität bei der Partnerwahl eine Rolle spielt und die Hörer*innen besonders bei potenziellen Partner*innen darauf achten (zur Erinnerung: alle unsere Hörer*innen waren heterosexuell).
Welche phonetischen Parameter haben die Hörer*innen genutzt und welche haben sie in ihrem Urteil beeinflusst? Bei der Beurteilung der männlichen Sprecher ergaben sich signifikante Korrelationen zwischen wahrgenommener Femininität und den phonetischen Parametern Stimmhöhe und Aussprache des Vokals /a/ aus dem Testwort „Tasse“. Feminin klingende Männer hatten eine höhere Stimme und eine eher steigende
Im parallelen Experiment zur Beurteilung der Femininität bei Frauen fand sich eine analoge Tendenz hinsichtlich der Stimmhöhe (je höher, desto femininer klingt es), welche jedoch knapp nicht signifikant war. Auch die anderen Parameter blieben uneindeutig. Die phonetischen Größen, die eine Rolle im Anzeigen von selbst eingeschätzter und wahrgenommener Femininität spielen, scheinen bei weiblichen Stimmen demnach weniger eindeutig und komplexer zu sein als bei männlichen Stimmen.
Was bedeuten diese Ergebnisse für den Diskurs zu Gender?
Das Anzeigen und die Interpretation von Gender anhand von phonetischen Details (oder stimmlicher und sprecherischer Merkmale) sind mehr als die Zuschreibung eines biologischen Geschlechts. Es geht nicht mehr um die Beschreibung von stereotypen Männer- und Frauenstimmen und die Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern. In der Soziophonetik wird die „indexikale“ Bedeutung von phonetischen Details, die auf ein geteiltes, gesellschaftlich geprägtes Wissen von Sprecher*innen und Hörer*innen basiert, untersucht. Es geht um das Zuschreiben und Ausdrücken von Identität durch Sprache – analog zu Kleidungsstil, Frisur oder Musikgeschmack. Hinsichtlich des Ausdrucks von Gender muss sich, nicht nur in dieser Disziplin, die Definition wandeln: von einer zwei- oder dreigeteilten Kategorie in eine kontinuierliche und facettenreiche Dimension.
Natürlich sind nicht alle Männer mit hoher Sprechstimmlage feminin. Und auch maskuline Männer können eine auffällig hohe Stimme haben. Unsere (hörerseitige) Interpretation des phonetischen Details und unsere impliziten Assoziationen damit bergen demnach auch Gefahren. Selten ist eine Zuschreibung völlig isoliert, viele Zuschreibungen sind (stereotypisch) miteinander verknüpft, wie z.B. feminin und wenig durchsetzungsfähig oder eine tiefe Stimme mit wahrgenommener Kompetenz. Und so entstehen manchmal diskriminierende Gedankengänge, wie die Frage, ob eine Pilotin mit einer sehr hohen Stimme in der Lage ist, ein Flugzeug kompetent über den Atlantik zu manövrieren. Diese Assoziationen von stimmlichen und sprecherischen Feinheiten und Persönlichkeitseigenschaften können durchaus eine Rolle spielen bei Jobinterviews, aber auch beim alltäglichen Miteinander wie Telefongesprächen mit Fremden oder beim Daten. Und natürlich werden sie auch genutzt beim Synchronisieren von Filmen, bei der Anmoderation von Nachrichten oder bei Stimmen in der Werbung. Nicht zuletzt können sprecherische und stimmliche Anpassungen hinsichtlich der angezeigten und wahrgenommenen Femininität bei Geschlechtsumwandlungen bei Trans-Identität zu einer höheren Akzeptanz durch andere und einer Steigerung der eigenen Zufriedenheit führen.