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SPECIAL INPUT: Kevin Behrens

Niederdeutsch – eine bedrohte Sprache vor der Haustür

Mit jeder Generation verliert die niederdeutsche Sprache im Schnitt die Hälfte ihrer Sprecher*innen – ein Extremfall in Europa. Warum das so ist und was dagegen getan werden könnte, weiß der Linguist und Plattdeutsch-Aktivist Kevin Behrens. Im Special Input liefert er Zahlen, Positionen und historischen Kontext zum Status Quo des Niederdeutschen.

Mehrsprachigkeit

Der folgende Text erscheint auf te.ma in deutscher und niederdeutscher Fassung. Düsse Text kümmt op te.ma in en düütsche un nedderdüütsche Vaten.

auf niederdeutsch/op Nedderdüütsch

Nedderdüütsch – en bedraute Spraak vöör de Huusdöör

Mit elke Generatschoon verleert de nedderdüütsche Spraak in’n Snid dat Halve vun eer Sprekers*chen – en Extreemvall in Europa. Woso dat so is un wat een daargegen doon kunn, dat weet Linguist un Plattdüütsch-Aktivist Kevin Behrens. In’n Special Input levert he Tallen, Positschonen un histoorschen Kuntext to’n Status Quo vun dat Nedderdüütsche.

In heel Düütschland snackt een Düütsch. Heel Düütschland? Nee! Een vun billensveernen Buren bevölkert Dörp höört nich op un hoolt Wedderstand gegen de Hoogspraak.

So oder liekerhaftig heel sik lange Tied dat Narratiev vun’n plattdüütschen Minsch, de twaars Schoolspraak Düütsch höögstens to Missingsch instann west harr, to Düütsch avers nienich düchtig wöör un so to de Arbeid op Vaddern sien Burenhoff verdammt bleev. 

Vundaag is Plattdüütsch schick, en vogue un mit en “Moin” op de Warvtafel wees de Kunn*sche direktemang in’t Hart ansnackt. In de meersten Ümvragen liggt “Noorddüütsch” indedaad op Plats 1 vun de beleevsten Dialekten. Wat daarünner nu de Regionaalspraak Nedderdüütsch, de Mixspraak Missingsch, de Regiolekt mit Nedderdüütschinwark üm Hamborg oder de inklöörte Aksent jichtenswo twüschen den “ßpitzen ẞtein” un dat uutluden CH as in “Hamburch” to verstaan is, defineert se nich.

Nedderdüütsch – Dialekt oder Spraak?

Nedderdüütsch, ook Plattdüütsch nöömt, is in de Vulksdüden vungen twüschen “man en Dialekt” un “sogaars en egen Spraak”. Een kann vun de bruukten Adverbien meer afleiden as vun de Begreeplichkeiden sülvst. Wielst sik een in de Allmeenbevölkern över de Begrepen “Dialekt” un “Spraak” noch düchtig höögt, sünd se keen vasten Gröttden in de Linguistick nich. Dat gifft keen formellen Verscheel twüschen en Varieteet, de as Dialekt betekent warrt, un een, de offitschell as Spraak gellen deit. Allens sünd in sik vullstännige Spraaksystemen, de nich vun anner afhangig sünd. Veel meer warrt düsse beiden Begrepen vaken polietsch insett. En Dialekt un sien Snackers*chen mütt een weniger Rechten inrümen, as dat bi en Spraak de Vall weer – de beiden Adverbien “man” un “sogaars” maakt düsse Assoziatschonen düüdlich.

Sodännige Sörgen mööt sik de Nedderdüütsch-Snackerslüüd nich maken, denn de Regionaalspraak warrt siet 1999 in de acht Bunnslänner, in de dat snackt warrt, döör de Europääsche Charta för Regionaal- oder Minnerheidenspraken offitschell as Spraak schuult un vöddert.

De autochtone Grupp vun Sprekers*chen vun de Regionaalspraak Nedderdüütsch warrt alleen över eer Spraak defineert, anners as bi de veer natschonalen Minnerheiden, de Sorben, de Sinti un Roma, de Dänen un de Fresen. Dat liggt ünner anner an den abasig gauen Spraakwessel, de in Noorddüütschland steedvunn. Twüschen de Tiedpunkten “Uns nedderdüütsche Kultuur un Spraak is in’t egen Ümveld de Alldagsnoorm”, wo een gaar keen, vun’t restliche Düütschland afgrensen Identiteet innemen wöör, un “Ik bün de eensige Spreker in’t hele Dörp” leeg to wenig Tied, üm de Needefinitschoon vun en nedderdüütsche Kultuur ook aan Spraak mööglich to maken. Twaars seet sik vele in Plattdüütschland jümmers noch as “echt hanseaatsch” un “nordish by nature”, man hieruut kann een man knapp en Etniziteet afleiden wüllen. “Kannst keen Platt, feelt di wat.”

Nedderdüütsch in Tallen

To düssen Spraakwannel hett vöör allen de Spraakpolitiek vun de verleden een bet twee Jaarhunnerden vöört, in de se Nedderdüütsch verdüvelt hebbt un verklaren, dat uutrodden to wüllen. Bavento hebbt se de Spraak an Scholen verbaden un nedderdüütsche Schölers*chen in extra Klassen staken. Vööroordelen, dat en tweesprakig Optrecken to lege Düütschkennissen vören wöör, hebbt den Rest daan. In’t Jaar 1900 weren noch meist all Minschen in Plattdüütschland Moderspraaklers*chen vun’t Nedderdüütsche. 1984 geev dat man noch acht Milljonen Sprekers*chen, 2016 bloots noch twee bet 2,6 Milljonen, oder 15,7 Perzent vun all de Lüüd uut’t Spraakrebeed. Dat mit elke Generatschoon dat Halve vun de Sprekerschopp afnimmt, is in Europa en Extreemvall. Wat noch meer verbaast, dat is de Öllersstruktuur, denn vun de Minschen över 80 Jaar snackt twaars dat Halve noch Nedderdüütsch; Minschen ünner 20 Jaar snackt avers bloots noch to 0,8 Perzent good bet bannig good Nedderdüütsch. Jungleert een en beten mit de Tallen uut en Studie vun’t Institut för nedderdüütsche Spraak (INS) un dat Institut für Deutsche Sprache (IDS), sünd dat op’t höögst twüschen 100.000 un 200.000 junge Minschen op en Rebeed, dat knapp en Drüddel vun Düütschland uutmaakt. Anseens de düvelig siede Weddergeevraat binnen de Famieljen warrt de Spraak in’t Jaar 2100 waarschienlich moribund ween – wat Jan Wirren al 1998 in “Zum Status des Niederdeutschen” proklameer. För vele Öllere weer Nedderdüütsch dunn schierweg en passieven Ümstand, de vundaag nich meer gellt. Vundeswegen hett een de Spraak gaar nich as wat waarnamen, dat överhöövd weddergeven warrn kann oder mütt.

Nedderdüütsch-Politiek(verdreet)

Desülvige Indifferens wiest sik ook in’n ringen Aktivismus mang de Sprekerschopp. Denn hier haut nüms op den Disch, keeneen is rejell in Brass, kuum een besteit op de egen Spraakrechten. Op en slagaardigen Spraakdood wören vele woll mit en mundvuul, noorddüütsch “Tscha” reageren. Düt is en tyypsch Resultaat vun de tallrieken, verleden Kampanjen gegen düsse Spraak. Dat schall avers keen spegelbildliche Uutsaag daaröver ween, wo dull sik aktieve un ook aktivistsche Sprekers*chen dat Nedderdüütsche anneemt. För en sodanig Angaschemang gifft dat vele Mööglichkeiden, ‘neem een hengaan kann: Op lokale Ebene sünd düsse Steden vaken de Heimaadverbännen oder de nedderdüütschen Bünen. Över grötere Verbännen un Verenen oder ook de neddersass’schen Landschoppen kann een sik all veer Jaar as Delegeerte*n in den Bunnsraat för Nedderdüütsch (kott: BfN, düütsch: “Bundesrat für Niederdeutsch”) wälen laten. Dat is en spraakpolietsch Orgaan, dat de Sprekerschopp vun all acht plattdüütschen Bunnslänner vertreden deit. För elkeen vun de acht Plattlänner un för de Plautdietschen sitt daar twee Vertreders*chen. De BfN warrt in sien sprakenpolietsche Arbeid döör dat Nedderdüütschsekretariaat stöönt. Tosättlich warrt vun de veer Bunnslänner Bremen, Hamborg, Neddersassen un Sleswig-Holsteen dat Lännerzentrum för Nedderdüütsch un vun’n Bund dat Institut för nedderdüütsche Spraak vöddert. Eer Opgaven sünd de Vöddern vun de Spraak in de Berieken Kultuur, Vörschen, Billen, Litteratuur un Projektarbeid.

Ne’e Medien

Wat elken Dag as nedderdüütsche Narichten op Radio Bremen un den NDR un de wenigen Rundfunkanbotten, de eenmaal in de Week oder in’n Maand kaamt, sennt warrt, de döögt good as Symbool “Plattdüütsch gifft dat ook noch”. Avers se sünd man dat: en Symbool un keen kuntinueerlich mediaal Anbott, as de Initschatiev www.funklockstoppen.de kritiseert. Bavento warrt düt Anbott vun junge Lüüd man knapp waarnamen. Un jüst dat sünd de Minschen, de de Spraak in de Tokumst dregen mööt. Hier hett sik avers wat heel Nees etableert: Dat gifft op Instagram un TiKTok en Meenschopp vun junge Lüüd bet wat 40 Jaar, de in Stories, Bidrääg un Reels plattdüütschen Content kre’eert. Welke vun jem kann een mit Recht as Influencers, o.a.s. Plattfluencers, beteken. Elke Week kümmt ook de #plattdüütschefreedag (ook in vele anner Schrievwiesen), woünner sik de deelnemen Lüüd in Live-Sessions över de Week uuttuuscht. Jüstemang för de jungen Plattsnackers*chen sünd de ne’en Medien dat Höövdmiddel, üm gegensiedig as Meenschopp in’n Kuntakt to blieven. Höögstwaarschienlich hebbt se in eer Ümgeven keen Nedderdüütschen in’t sülvige Öller un sünd daarso op dat Internett anwiest, üm sik uuttotuuschen.

Diversiteet as Probleem un Schangs

Nedderdüütsch hett butendem en grote dialektale Diversiteet. De Spraak hett vele verschillene Varieteten, de utermaten ünnerscheedlich un vaken gegensiedig nich verstabaar ween köönt. So dull sogaars, dat de Ethnologue vun ölven Enkelspraken ansteed vun een enkelte snackt. Dat is man nich rejell de begänge Menen binnen de Sprekergrupp. En groffe Indelen in Makrodialekten, de sülvens nocheens vele Ünnerdialekten beinhoolt, besteit üm un bi uut dat Noordneddersass’sche, dat se in Sleswig-Holsteen, Hamborg, Bremen un in’n Noorn snackt, dat Oostnedderdüütsche (in Mekelnborg-Vörpommern un Brannenborg), dat Oostfäälsche (in’n Süden vun Neddersassen un in’n Noorn vun Sassen-Anholt), dat Westfäälsche (Noorn vun Nordrhien-Westfaolen un de Oosten vun de Nedderlannen) un dat Oostfreesche oder Gronings-Oostfreesch, dat se in Oostfreesland un üm Groningen in de Nedderlannen snackt. Dat gifft ook dat baven nöömte Plautdietsch, man ook dat “Pomerano”, dat pommersche Nedderdüütsch, dat an de süüdwesten Waterkant vun Brasieljen vun Uutseedlers*chen snackt warrt un daar in twee Sedelns offitschelle Amtsspraak is.

En Meenschoppsgedank is avers nich jümmers vöörhannen. Vöör allen öllere Snackers*chen stellt sik dwaars, mit Minschen uut anner Dialekten to kummenzeren. Veel to vaken noch warrt Gespreken gau döör “Dat is nich mien Platt.” afbraken un daarför op Düütsch wiedermaakt. Bi de wenigen jüngeren Snackers*chen liggt dat vaken anners un de’eer Intress an den Dialekt vun’t Gegenöver maakt den Willen sik uuttotuuschen grötter.

Dat gifft bet vundaag keen offitschellen Stannard, wieldat dat in’n stedenwies toxschen Nedderdüütschdiskurs meist en Kriegsbescheed gegen anner Dialekten weer, wenn een sik op en Enkeldialekt as Stannard enigen dee. De twede Vraag, wat dat överhöövd een Stannard bruukt, blifft wieldes jüstso unbeantert. De een sünd bang, en sodännigen wöör de Dialekten bedrauen, de annern sünd bang, dat en Babel de Spraakpolitiek behinnern kunn.

En anner Diversiteet heerscht in’t diastraatsche Profiel. De jüngeren Snackerslüüd sünd vaken in en Ümveld opwussen, dat stark vun’t Düütsche domineert is. Vele vun jem wören vermoodlich eer ünner en “Halvmoderspraaklichkeid” vallen, wat sik an tallrieke Interferensen mit dat Düütsche wiest. Vele Wöör un grammatsche Strukturen sünd nie oder bloots deelwies verworven worrn – dat Düütsche hett düsse övernamen. Ook de Uutspraak hett de meersten nedderdüütschen Trecken verloren. Wat düsse Uutwickeln för de Spraak bedüüdt, daar striedt se sik över: För de enen is dat en natüürlichen Wannel, för de annern wiest dat, de Spraak vermückert.

Noch en wiederen Verscheel gifft sik in’n Anspröök an de Spraak. Dat een Lager süüt in eer vöör allen en Middel för Entertainment: Se schall sied ween, de Lektüür vergnööglich, un Dwatschwöör as Plüüschappel staads Peersch oder Snutenpulli staads Mundschuul wesen en wunnerbare, kreatieve Saak. Dat anner Lager will Nedderdüütsch vun’t Stigma vreemaken, dat dat unbruukbaar weer för meer Dingen as den Alldag. Een schall de Spraak ook för eernsthaftige un wetenschoppliche Temen bruken könen. Dwatschwöör wören bloots to’n apentlichen Stereotyp bidregen, na den Nedderdüütsch en “Schinkelklopperspraak” wees – “wenn dat üm eernsthaftige Temen geit, dann doch bitte auf Hochdeutsch.”

Daadsaken schapen

Een süüt, dat ook twüschen Oold un Jung en wissen Clinch heerschen deit. Dat is en allto bekennt Munster uut anner bedraute Spraken, de en bannig gauen Spraakwannel (kwantitatiev un kwalitatiev) döörleevt hebbt, vöör allen mit en Generatschoonslock. Vundeswegen is dat utermaten wichtig, dat Animositeten överwunnen warrt un beide Gruppen liekermaten tohooparbeidt. Denn Nedderdüütsch stickt jümmers noch vast in sien Geschicht. De jungen Minschen warrt kuum afhaalt, daarbi schall de Spraak an jem wiedergeven warrn. Wieldat de Spraaktransfer een bet twee Generatschonen bina uutsett hett, mööt vundaag Institutschonen as Scholen un Kinnergaarns för den Spraakverwarv sörgen – nagraad hebbt all junge Minschen dat Recht daarop, de Spraak to leren. Man de Spraaklandschopp is in en Düvelskring vungen, den een man döör Aktivismus lösen kann. Hierbi speelt de Politiek en zentrale Rull, denn se hett geschichtlich to en groten Deel to den Scheevstand vundaag bidragen. Üm dat Överleven vun de Spraak to sekern, sünd vundeswegen en Reeg vun polietsche Maatnamen hoognödig: 

  • Dat bruukt mediale Anbotten op Nedderdütsch, de ook för ünner 60-Jarige attraktiev un nich reinweg sülvst-referensiell sünd. Dat mööt ook anner Temen för junge Lüüd över dat Medium Nedderdüütsch vermiddelt warrn.

  • Een mütt de stiegerte Navraag na Nedderdüütsch an de Scholen döör en betere Schoolmeester*schenuutbillen nahölpen.

  • Bavento mööt sik Nedderdüütschkennissen lonen. Wat dat en vöörtrocken Instellen bi Steden (t.B. in de Verwalten) is, de vre’e Waal vun den Referendariaatsplats, wenn dat Vack ünnerricht warrt, oder dat een Steden schaapt sünnerlich för nedderdüütsche Spraak- un Kultuurarbeid, daarmit een vun’t Erenamt na’t Höövdamt kümmt.

  • De Politiek mütt de Rechten vun de Sprekergrupp un de, de de Spraak leren wüllt, vaster maken un döör Opklarenskampanjen för en betere Stellen vun de Spraak in Kultuur un Sellschopp sörgen. So kümmt een uut den Düvelskring, dat weniger Personaal to weniger Anbott vöört un felen Sichtbaarkeid to weniger Anreizen för en Uutbillen.

An’t Enn mütt sik de Sprekergrupp bewüsst ween, dat se Rechten hett – un se mütt op düsse bestaan. Denn dat gellt unbedingt to ümgaan, dat wi den Stellenweerd vun de Spraak eerst ruutkennt, wenn se al verswunnen is.

In ganz Deutschland spricht man Deutsch. Ganz Deutschland? Nein! Ein von bildungsfernen Bauern bevölkertes Dorf hört nicht auf, der Hochsprache Widerstand zu leisten.

So oder so ähnlich hielt sich lange Zeit das Narrativ vom plattdeutschen Menschen, der trotz Schulsprache Deutsch höchstens zu Missingsch imstande gewesen war, dem Deutschen aber nie mächtig wurde und so zur Arbeit auf Vadderns Bauernhof verdammt blieb.

Heute ist Plattdeutsch schick, en vogue und mit einem „Moin“ auf der Werbetafel sei der*die Kund*in direkt im Herzen angesprochen. In den meisten Umfragen liegt „Norddeutsch“ tatsächlich auf Platz 1 der beliebtesten Dialekte. Ob darunter nun die Regionalsprache Niederdeutsch, die Mischsprache Missingsch, der niederdeutsch-beeinflusste Regiolekt um Hamburg oder der gefärbte Akzent irgendwo zwischen dem „ßpitzen ẞtein“ und dem auslautenden CH wie in „Hamburch“ ist, wird nicht definiert.

Niederdeutsch – Dialekt oder Sprache?

Niederdeutsch, auch Plattdeutsch genannt, ist in der Volksdeutung gefangen zwischen „nur ein Dialekt“ und „sogar eine eigene Sprache“. Man kann von den benutzten Satzadverbien mehr ableiten als von den eigentlichen Begrifflichkeiten. Während sich die Begriffe „Dialekt“ und „Sprache“ in der Allgemeinbevölkerung noch großer Beliebtheit erfreuen, sind diese Begriffe keine festen Größen in der Linguistik. Es gibt keinen formellen Unterschied zwischen einer Varietät, die als Dialekt bezeichnet wird, und einer, die offiziell als Sprache gilt. Alles sind in sich vollständige Sprachsysteme, die nicht von anderen abhängig sind. Viel eher werden diese beiden Begriffe oft politisch eingesetzt. Einem Dialekt und seinen Sprechenden muss man weniger Rechte einräumen, als es bei einer Sprache der Fall ist – die beiden Adverbien „nur“ und „sogar“ verdeutlichen diese Assoziationen.

Solche Sorgen müssen sich Niederdeutsch Sprechende nicht machen, denn die Regionalsprache wird seit 1999 in den acht Bundesländern1, in denen es gesprochen wird, durch die Europäische Charta für Regional- oder Minderheitensprachen offiziell als Sprache geschützt und gefördert.

Die autochthone Gruppe der Sprecher*innen der Regionalsprache Niederdeutsch wird  allein über ihre Sprache definiert, anders als bei den vier nationalen Minderheiten, den Sorben, den Sinti und Roma, den Dänen und den Friesen. Das liegt unter anderem an dem immens schnellen Sprachwechsel, der in Norddeutschland stattfand. Zwischen den Zeitpunkten „Unsere niederdeutsche Kultur und Sprache ist im eigenen Umfeld die Alltagsnorm“, wo man gar keine, vom restlichen Deutschland abgrenzende Identität einnehmen würde, und „Ich bin der einzige Sprecher im ganzen Dorf“ lag zu wenig Zeit, um die Neudefinition einer niederdeutschen Kultur auch ohne Sprache zu ermöglichen. Zwar sehen sich viele in Plattdeutschland immer noch als „echt hanseatisch“ und „nordisch by nature“, aber hieraus würde kaum jemand eine Ethnizität ableiten wollen. „Kannst keen Platt, fehlt di wat.“

Niederdeutsch in Zahlen

Zu diesem Sprachwandel führten vor allem die Sprachpolitik der letzten ein bis zwei Jahrhunderte, in der Niederdeutsch verteufelt und zum erklärten Ziel der „Ausrottung“ wurde. Zudem wurde die Sprache an Schulen verboten und niederdeutsche Schüler*innen in extra Klassen gesteckt. Vorurteile, dass eine zweisprachige Erziehung zu mangelhaften Deutschkenntnissen führe, taten ihr Übriges. Im Jahr 1900 waren noch fast alle Menschen in Plattdeutschland Muttersprachler*innen des Niederdeutschen. 1984 gab es nur noch acht Millionen Sprecher*innen, 2016 nur noch zwei bis 2,6 Millionen bzw. 15,7 Prozent der Gesamtbevölkerung des Sprachgebiets. Dass mit jeder Generation die Hälfte der Sprecher*innenschaft abnimmt, ist in Europa ein Extremfall. Erschreckender ist allerdings die Altersstruktur, denn von den Menschen über 80 Jahren spricht zwar die Hälfte noch Niederdeutsch; Menschen unter 20 Jahren sprechen allerdings nur noch zu 0,8 Prozent gut oder sehr gut Niederdeutsch. Jongliert man etwas mit den Zahlen aus einer Studie des Instituts für Niederdeutsche Sprache (INS) und des Instituts für Deutsche Sprache (IDS)2, sind das höchstens zwischen 100.000 und 200.000 junge Menschen auf einem Gebiet, das ungefähr ein Drittel Deutschlands ausmacht. Angesichts der äußerst geringen Weitergaberate innerhalb von Familien wird die Sprache im Jahr 2100 wahrscheinlich moribund sein – was Jan Wirrer bereits 1998 in „Zum Status des Niederdeutschen“ proklamierte. Für viele Ältere war Niederdeutsch damals schlichtweg ein passiver Umstand, der heute nicht mehr gilt. Deswegen wurde die Sprache gar nicht als etwas wahrgenommen, das überhaupt weitergegeben werden kann oder muss.

Niederdeutsche Politik(verdrossenheit)

Dieselbe Indifferenz zeigt sich auch im geringen Aktivismus innerhalb der Sprecher*innenschaft. Denn hier haut niemand auf den Tisch, keiner ist so wirklich empört, kaum jemand besteht auf die eigenen Sprachrechte. Auf einen plötzlichen Sprachtod würden viele wohl mit einem mundfaulen, norddeutschen „Tscha“ reagieren. Dies ist ein typisches Resultat der zahlreichen vergangenen Kampagnen gegen diese Sprache. Das soll aber keine spiegelbildliche Aussage darüber sein, wie sehr sich aktive oder auch aktivistische Sprecher*innen dem Niederdeutschen widmen. Für ein solches Engagement gibt es viele Möglichkeiten und Anlaufstellen: Auf lokaler Ebene sind diese Stellen oft die Heimatverbände oder die niederdeutschen Bühnen. Über größere Verbände und Vereine oder auch den niedersächsischen Landschaften kann man sich alle vier Jahre als Delegierte*r in den Bunnsraat för Nedderdüütsch (kurz: BfN, deutsch: „Bundesrat für Niederdeutsch“) wählen lassen. Das ist das sprachpolitische Organ, das die Sprecher*innenschaft aller acht plattdeutschen Bundesländer vertritt. Für jedes der acht Plattländer und für die Plautdietschen sitzen dort zwei Vertreter*innen. Der BfN wird in seiner sprachenpolitischen Arbeit durch das Niederdeutschsekretariat unterstützt. Zusätzlich werden von den vier Bundesländern Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein das Länderzentrum für Niederdeutsch und vom Bund das Institut für niederdeutsche Sprache gefördert. Ihre Aufgaben sind die Förderung der Sprache in den Bereichen Kultur, Forschung, Bildung, Literatur und Projektarbeit.

Neue Medien

Die täglichen niederdeutschen Nachrichten auf Radio Bremen und dem NDR und die wenigen monatlichen oder wöchentlichen Rundfunkangebote taugen gut als Symbol „Plattdüütsch gifft dat ook noch“ („Plattdeutsch gibt es auch noch“). Sie sind jedoch nur das: ein Symbol und kein kontinuierliches mediales Angebot, wie die Initiative www.funklockstoppen.de kritisiert. Zudem werden diese Angebote von jungen Menschen kaum wahrgenommen. Und gerade das sind die Menschen, die die Sprache in die Zukunft tragen müssen. Hier hat sich aber etwas ganz Neues etabliert: Es gibt auf Instagram und TikTok eine Gemeinschaft von jungen Leuten bis circa 40 Jahren, die in Stories, Beiträgen und Reels plattdeutschen Content kreiert. Einige von ihnen sind mit Fug und Recht als Influencer, bzw. Plattfluencer, zu bezeichnen. Am wöchentlichen #plattdüütschenfreedag (Plattdeutscher Freitag) tauschen die Teilnehmenden sich in Live-Sessions in der „Plattsphäre“ auf Niederdeutsch über ihre Woche aus. Gerade für die jüngeren Plattsprechenden sind die neuen Medien das Hauptmittel des Gemeinschaftskontakts. Höchstwahrscheinlich haben sie in ihrer Umgebung keine niederdeutschen Gleichaltrigen und sind deshalb auf das Internet zum Zwecke des Austauschs angewiesen.

Diversität als Problem und Chance

Niederdeutsch hat außerdem eine große dialektale Diversität. Die Sprache hat viele verschiedene Varietäten, die äußerst unterschiedlich und oft gegenseitig unverständlich sein können. So sehr sogar, dass der Ethnologue von elf Einzelsprachen statt einer einzelnen spricht. Das entspricht allerdings nicht der gängigen Meinung innerhalb der Sprachgemeinschaft. Eine grobe Einteilung in Makrodialekte, die selbst wiederum viele Unterdialekte beinhalten, besteht ungefähr aus dem Nordniedersächsischen, das in Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und im Norden Niedersachsens gesprochen wird, dem Ostniederdeutschen (in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg), dem Ostfälischen (im Süden Niedersachsens und Norden Sachsen-Anhalts), dem Westfälischen (Nordrhein-Westfalen und dem Osten der Niederlanden) und dem Ostfriesischen bzw. Gronings-Ostfriesisch, das in Ostfriesland und um Groningen in den Niederlanden gesprochen wird. Es gibt auch noch das oben erwähnte Plautdietsch, oder auch das „Pomerano“, das pommerische Niederdeutsch, das an der Südwestküste Brasiliens von Aussiedler*innen gesprochen wird und dort in zwei Siedlungen offizielle Amtssprache ist.

Quelle: https://kristianmitk.files.wordpress.com/2013/10/niederdeutsch.png

Ein Gemeinschaftsgedanke ist aber nicht immer vorhanden. Es sträuben sich vor allem ältere Sprechende, mit Menschen anderer Dialekte zu kommunizieren. Viel zu oft noch werden Gespräche schnell durch „Dat is nich mien Platt“ abgebrochen und stattdessen auf Deutsch fortgesetzt. Bei den wenigen jüngeren Sprechenden liegt der Fall oft andersrum und das Interesse am Dialekt des Gegenübers bestärkt den Willen zum Austausch.

Es gibt bis heute keinen offiziellen Standard, da im stellenweise toxisch anmutenden Niederdeutschdiskurs eine Einigung auf einen Dialekt als Standard einer Kriegserklärung gegen die anderen Dialekte gleichkäme. Die zweite Frage, ob es überhaupt einen Standard braucht, bleibt indes ebenfalls unbeantwortet. Die einen haben Angst, ein solcher würde die Dialekte bedrohen, die anderen befürchten, dass ein Babel die Sprachpolitik behindern könnte.

Eine weitere Diversität herrscht im diastratischen Profil. Die jüngeren Sprecher*innen sind oft in einem Umfeld aufgewachsen, das stark Deutsch dominiert ist. Viele von ihnen würden vermutlich eher unter eine „Halbmuttersprachlichkeit“ fallen, was sich an zahlreichen Interferenzen mit dem Deutschen zeigt. Viele Wörter und grammatische Strukturen sind nie oder nur teilweise erlernt worden – das Deutsche hat diese ersetzt. Auch die Aussprache hat die meisten niederdeutschen Züge verloren. Was diese Entwicklung für die Sprache bedeutet, ist umstritten: Für die einen ist das ein natürlicher Wandel, für die anderen zeugt es von einer Verkümmerung der Sprache.

Eine weitere Unterschiedlichkeit ergibt sich im Anspruch an die Sprache. Das eine Lager sieht in ihr vor allem ein Mittel zum Entertainment: Sie soll seicht sein, die Lektüre witzig, und Quatschwörter wie Plüüschappel („Samtapfel“) statt Peersch für Pfirsich oder Snutenpulli („Schnauzenpulli“) statt Mundschuul für Mundschutz seien eine wunderbare, kreative Sache. Das andere Lager möchte Niederdeutsch vom Stigma der Unbrauchbarkeit für mehr Dinge als den Alltag erlösen. Die Sprache soll auch für ernste und wissenschaftliche Themen benutzt werden können. Quatschwörter würden bloß zum öffentlichen Stereotyp beitragen, nach dem Niederdeutsch eine „Schenkelklopfersprache“ sei – „wenn es um ernste Themen geht, dann doch bitte auf Hochdeutsch.“

Tatsachen schaffen

Man sieht, dass auch zwischen Alt und Jung ein gewisser Clinch herrscht. Das ist ein allzu bekanntes Muster aus anderen bedrohten Sprachen, die einen sehr schnellen Sprachwandel (quantitativ und qualitativ) durchlebt haben, vor allem mit einer Generationslücke. Deshalb ist es äußerst wichtig, dass Animositäten überwunden werden und beide Gruppen gleichermaßen zusammenarbeiten. Denn Niederdeutsch steckt immer noch fest in seiner Geschichte. Die jungen Menschen werden kaum abgeholt, dabei soll die Sprache an sie weitergegeben werden. Da der Sprachtransfer ein bis zwei Generationen nahezu ausgesetzt hat, müssen heute Institutionen wie Schulen und Kindergärten für den Spracherwerb sorgen – schließlich haben alle jungen Menschen das Recht darauf, die Sprache zu erlernen. Doch die Sprachlandschaft ist in einem Teufelskreis gefangen, der nur durch Aktivismus gelöst werden kann. Hierbei spielt die Politik eine zentrale Rolle, denn sie hat geschichtlich maßgeblich zum jetzigen Schiefstand beigetragen. Um das Überleben der Sprache zu sichern, sind deshalb eine Reihe von politischen Maßnahmen unumgänglich: 

  • Es braucht mediale Angebote auf Niederdeutsch, die auch für unter 60-Jährige attraktiv und nicht rein selbst-refenziell sind. Es müssen auch andere Themen für junge Leute über das Medium Niederdeutsch vermittelt werden.    

  • Der gesteigerten Nachfrage nach Niederdeutsch an der Schule muss durch eine bessere Lehrer*innenausbildung nachgeholfen werden. Dazu zählt nicht nur ein Mehr an Studiengängen oder Zusatzqualifikationen für die Sprache, sondern auch die verbesserte Werbung und Erreichbarkeit dieser Angebote.

  • Zudem müssen sich Niederdeutschkenntnisse lohnen. Ob es eine bevorzugte Einstellung bei Stellen (z.B. in der Verwaltung) ist, die freie Wahl des Referendariatsplatzes, wenn das Fach unterrichtet wird, oder die Schaffung von Stellen speziell für niederdeutsche Sprach- und Kulturarbeit, damit man vom Ehrenamt zum Hauptamt kommt. 

  • Die Politik muss die Rechte der Sprechenden und Lernenden festigen und durch Aufklärungskampagnen für eine bessere Stellung der Sprache in Kultur und Gesellschaft sorgen. So kommt man aus dem Teufelskreis, dass weniger Personal zu weniger Angebot führt und mangelnde Sichtbarkeit zu weniger Anreizen für eine Ausbildung.

Schlussendlich muss sich die Sprecher*innenschaft bewusst sein, dass sie Rechte hat – und sie muss auf diese bestehen. Denn es gilt unbedingt zu vermeiden, den Stellenwert der Sprache erst zu erkennen, wenn sie bereits verschwunden ist.

Fußnoten
2

Diese sind: Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt.

Astrid Adler, Christiane Ehlers, Reinhard Goltz, Andrea Kleene, Albrecht Plewnia: Status und Gebrauch des Niederdeutschen 2016 – Erste Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung. Kooperation des Instituts für Deutsche Sprache und des Instituts für niederdeutsche Sprache, gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Mannheim 2016.

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