Übersetzung aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
Der Getreidestreit zwischen Polen und der Ukraine hat die Freundschaft der beiden Länder, die seit Beginn der russischen Aggression bestanden hat, zwar vielleicht nicht zerstört, aber doch in Frage gestellt. Dass zwei Staaten, die so eng zusammenarbeiten, sich wegen solch einer Kleinigkeit zerstreiten konnten, ist schwer begreiflich. Gleichzeitig war diese Entwicklung vorhersehbar: Die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die Polen von 2005 bis 2007 sowie ab 2015 regierte, ist mit ihrer Politik schon des Öfteren mit der Ukraine aneinandergeraten. [Anm. d. Red.: Bei Redaktionsschluss zu diesem Text war die Regierungsbildung in Polen nach den Wahlen 2023 noch im Gange. Es zeichnete sich ab, dass ein Oppositionsbündnis unter Führung von Donald Tusk die Regierung zum Jahresende übernehmen würde.]
2016 initiierte sie im Sejm, dem polnischen Parlament, die Festlegung eines Gedenktags zum Genozid, den ukrainische Nationalisten im Zweiten Weltkrieg an polnischen Staatsbürgern verübt hatten. Der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko warf Polen daraufhin „anti-ukrainische Hysterie“ vor, denn auch Polen hatten 1944 etwa 20.000 Ukrainer ermordet. Später sorgte die PiS dafür, dass die Leugnung der Verbrechen der
In Zeiten, in denen es rund um Polen eher ruhig zugeht, bringt diese Karte wenig ein, dafür wirkt sie umso verlässlicher, wenn sich die Lage zuspitzt. Einfacher ausgedrückt, die PiS geht mit patriotischem Populismus auf Stimmenfang.
Europas konservative Revolutionäre
Man kann ihn durchaus zu den
Schließlich berufen sich sowohl Kaczyński als auch Putin, beide juristisch gebildet, gern auf internationale Erfahrungen, nur dass sie sie so interpretieren, wie es ihnen gerade passt. Im September 2021 stieß der EU-Skeptiker Kaczyński zum Beispiel seine Landsleute mit der Äußerung vor den Kopf: „Was ein EU-Land darf, dürfen die anderen auch.“ Vergeblich sucht man in diesen Worten nach einer Anerkennung der Oberhoheit internationalen Rechts, denn hier tritt das „Kaczyński-Prinzip“ in Aktion (wie es ein oppositioneller Journalist aus Polen formulierte): „Die polnische Regierung kann im eigenen Land alles anwenden, was ihr in der Praxis europäischer Staaten passend erscheint, doch die europäischen Staaten (und die EU als Gemeinschaft) dürfen von der polnischen Regierung nicht die Achtung jener Rechte verlangen, die in anderen Ländern als grundlegend gelten.“ Ein Beispiel für die Anwendung dieses Prinzips lieferte Justizminister Zbigniew Ziobro, ebenfalls von der PiS: Beim Versuch, das Wahlverfahren zum Obersten Gericht in den Einflussbereich der Regierung zu bringen, berief er sich auf angeblich analoge Prozedere in Deutschland und Spanien, obwohl bei genauerem Hinsehen gar keine Analogie besteht, sondern nur eine rein formale Ähnlichkeit (zum Beispiel die Beteiligung des Justizministers an diesem Wahlverfahren). Auf ähnliche Art und Weise verteidigt Putin sein skandalöses
Polnischer Putinismus
Dass der Kaczyńismus im Grunde eine polnische Variante des Putinismus ist, wurde in Polen schon vor Langem bemerkt. Bereits als die PiS 2005 zum ersten Mal in die Regierung gewählt wurde, definierte der Chefredakteur der liberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, Adam Michnik, genau damit die Grundeinstellung von Kaczyńskis Anhängern, und Jacek Żakowski, Journalist derselben Zeitung, formulierte die „Zehn Gebote“ eines jeden PiS-Mitglieds, die diese Partei wie eine autoritäre Bewegung aussehen lassen. Durch die Rückkehr der PiS in die Regierung 2015 wurde dieser Gedanke nur bestätigt. Wenn Putin als Basis des russischen Weltbilds gewisse geistige Klammern anführte, so rief Kaczyński die moralische Revolution auf Grundlage der sozialen Lehre der katholischen Kirche aus. Ähnlich wie Russland beanspruchte Polen die Oberhoheit der eigenen Gesetze über internationales Recht; genau wie die russische versuchte auch die polnische Regierung, Medien und Gerichtsbarkeit unter ihre Kontrolle zu stellen, und begann zudem die Opposition anzugreifen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen: Im Dezember 2015 nannte Kaczyński die Teilnehmer an regierungskritischen Kundgebungen „Polen übelster Sorte“, die „das Gen des Verrats in sich tragen“ (man denke zum Vergleich an die russischen Propagandasprüche von den „Nuland-Keksen“, mit denen die Sprecherin des US-Außenministeriums im
Die Polen, stolz auf ihre Rolle beim Sturz des Kommunismus, waren von der neuen Realität zuerst schockiert: Eine Umfrage ergab 2015, dass sich mehr als die Hälfte der Befragten Sorgen um die Demokratie machten. Trotz aktiven zivilgesellschaftlichen Widerstands nahm der Einfluss der PiS stetig zu, sodass sie bei den Wahlen 2019 einen noch deutlicheren Sieg über die vereinte Opposition davontrug. In der Praxis zeigt sich, dass die polnische Bevölkerung in Zeiten verschärfter außenpolitischer Krisen dazu neigt, die PiS zu wählen. Vor diesem Hintergrund war der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine für diese Partei geradezu ein Geschenk, auch wenn es bei der jüngsten Wahl im Oktober 2023 zwar für den Sieg, aber nicht für eine Regierungsmehrheit gereicht hat.
Die Attraktivität des Autoritarismus im 21. Jahrhundert
Was sind generell die Gründe für die wachsende Popularität von Konservatismus und Autoritarismus in Europa und im postsowjetischen Raum?
Unübersehbar ist, dass sich zumindest die drei letztgenannten Länder an Europas Peripherie befinden und auf die eine oder andere Weise einen EU-Beitritt bzw. die Aufnahme in die Nato auf der politischen Tagesordnung haben. Sie haben in jüngster Vergangenheit einen tiefgreifenden und schmerzhaften Transformationsprozess durchlaufen oder sind noch mittendrin – einen postkommunistischen oder (wenn man Erdoğans Politik so nennen will) „
Nicht zu vergessen ist schließlich, dass die Länder Ost- und Mitteleuropas vor demografischen Problemen stehen (Entvölkerung, massenhafte Abwanderung der arbeitsfähigen Bevölkerung ins Ausland, Überalterung aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung) und sich daher nur sehr schwer an die Bedingungen der modernen westlichen Welt anpassen können.
Ruheloses Osteuropa
Jetzt kann man einwenden: Ist etwa die westeuropäische Bevölkerung jünger? Nein, aber sie hat nicht diesen Bruch erlebt wie die Bewohner des ehemaligen sowjetischen Blocks oder der Türkei. Folgt daraus, dass Polen und Ungarn Kurs auf einen EU-Austritt nehmen werden? Nein. Abgesehen von finanziellen und politischen Vorteilen der Mitgliedschaft ist für beide Länder das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem geeinten Europa wichtig. Weder Kaczyński noch Orbán kann man EU-Skeptiker nennen – eher sehen sie die EU nicht als das, was sie heute ist. Sogar Johannes Paul II. blieb trotz etlicher Meinungsverschiedenheiten mit der EU-Führung ein Euro-Enthusiast.
Möglicherweise wird auch die Ukraine, wenn sie einmal in der EU ist, ein nicht minder ruheloses Mitglied sein als Polen und Ungarn. Das liegt nicht am aktuellen Krieg oder an Problemen des anschließenden Wiederaufbaus, sondern daran, dass auch sie zum nationalistischen Autoritarismus neigt.
Generell ist das Programm der
Insofern hätten sich die EU und die Nato bei der Aufnahme weiterer Mitglieder entweder zurückhalten oder allen europäischen Bevölkerungen des ehemaligen Ostblocks die gleiche Chance geben sollen. In letzter Konsequenz haben die geopolitische Segregation des östlichen Europas sowie die offene Benachteiligung Russlands in ökonomischer Hinsicht (es gab so gut wie keine Investitionen in den Neunzigern und ein extrem in die Länge gezogenes Verfahren zur Aufnahme in die Welthandelsorganisation) revanchistische Tendenzen in Russland verstärkt. Auch das gehört zur Vorgeschichte des Krieges.
Jenseits von Institutionen
Im Grunde hat die EU bei ihrer Erweiterung denselben Fehler gemacht wie die russischen Reformatoren der Neunziger: Sie unterschätzte die Rolle kultureller Traditionen. Es genügt nicht, bestimmte Institutionen einzuführen oder die Wirtschaft zu transformieren, man muss auch die Menschen dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern. Als die EU neue Mitglieder aufnahm, bedachte sie nicht, dass diese die europäischen Strukturen zur Umsetzung nationaler Interessen nutzen würden. Zum Beispiel bildeten die polnischen Abgeordneten im Europaparlament auf Initiative der PiS sofort nach dem EU-Beitritt einen polnischen Klub. Sie umschifften dabei geschickt ein Verbot, Fraktionen aus Vertretern eines einzigen Landes zu bilden. Außerdem stimmten alle polnischen Abgeordneten für Bronisław Geremeks Kandidatur zum Sprecher des Europaparlaments, obwohl die Parteien, zu denen sie gehörten, eigene Kandidaten vorschlugen. Die Polen waren außerdem mehrheitlich für den Einmarsch in den Irak – dafür sprachen sich sogar die polnischen Linken aus, während die europäischen Sozialisten, mit Ausnahme der britischen Labour Party unter Tony Blair, diesen mehrheitlich strikt ablehnten. Ebenso einträchtig forderten die Polen, in die Präambel der nie in Kraft getretenen europäischen Verfassung einen Punkt über die christlichen Wurzeln der europäischen Zivilisation einzufügen. Die ständigen Reibereien zwischen der EU-Führung und Warschau unter der PiS-Regierung führen also nur eine Tendenz fort, die bereits von Anfang an bestanden hat.
Man kann davon ausgehen, dass sich die Ukraine als EU-Mitglied ähnlich verhalten wird. Denn trotz aller demografischen Verluste bleibt die Ukraine eines der größten Länder Europas. Bereits vor dem Krieg hatte das Land eine der ältesten Bevölkerungen des Kontinents, ein Großteil der arbeitsfähigen Bürger kämpft und stirbt derzeit an der Front. Hinzu kommt, dass die wirtschaftliche Katastrophe die Ukraine vollständig von finanzieller Unterstützung von außen abhängig gemacht hat. In der Bevölkerung – und vor allem in der älteren Generation – wird das als Verlust der Souveränität empfunden und ruft negative Einstellungen hervor. Neben all dem verwandelt sich die Ukraine in Folge des russischen Überfalls in einen monoethnischen Staat: Selbst diejenigen, die vor dem Krieg Russisch sprachen, wechseln nun massenhaft zum Ukrainischen, und damit verschwindet die linguistisch-regionale Teilung der Gesellschaft. Nicht zu vergessen ist auch die starke Religiosität der griechischen Katholiken, die in den westlichen Regionen der Ukraine leben. Die Beispiele Polen und Ungarn zeigen, dass genau diese Kombination – Mono-Ethnizität, starke Religiosität und ein Gefühl der Bedrohung von außen (das im Falle der Ukraine mehr als berechtigt ist) – rechte Traditionalisten an die Macht bringt, die dazu neigen, unnachgiebig mit den Strukturen der EU in Konflikt zu geraten.
Gibt es Hoffnung auf ein Nachlassen dieser Tendenz? In Kroatien etwa ist der