SPECIAL INPUT: Wadim Wolobujew

Kaczyńismus als polnischer Putinismus oder: Die EU und der neue Nationalismus in Osteuropa

Polens Wirtschaft ist seit dem Beitritt zur Europäischen Union enorm gewachsen – und mit ihr die europapolitische Bedeutung des Landes. Dem stehen tiefe Zerwürfnisse zwischen Warschau und Brüssel gegenüber. Der Historiker Wadim Wolobujew fügt der wissenschaftlichen und politischen Kontroverse um die Rolle Polens eine provokante Perspektive hinzu: Die Politik Jarosław Kaczyńskis zeige Konturen des Putinismus. Generell hätten die neuen Nationalismen im östlichen Europa schwerwiegende Konsequenzen für die Zukunft der EU.

Umbruch | Krieg | Europa

Übersetzung aus dem Russischen von Ruth Altenhofer

Der Getreidestreit zwischen Polen und der Ukraine hat die Freundschaft der beiden Länder, die seit Beginn der russischen Aggression bestanden hat, zwar vielleicht nicht zerstört, aber doch in Frage gestellt. Dass zwei Staaten, die so eng zusammenarbeiten, sich wegen solch  einer Kleinigkeit zerstreiten konnten, ist schwer begreiflich. Gleichzeitig war diese Entwicklung vorhersehbar: Die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die Polen von 2005 bis 2007 sowie ab 2015 regierte, ist mit ihrer Politik schon des Öfteren mit der Ukraine aneinandergeraten. [Anm. d. Red.: Bei Redaktionsschluss zu diesem Text war die Regierungsbildung in Polen nach den Wahlen 2023 noch im Gange. Es zeichnete sich ab, dass ein Oppositionsbündnis unter Führung von Donald Tusk die Regierung zum Jahresende übernehmen würde.]

2016 initiierte sie im Sejm, dem polnischen Parlament, die Festlegung eines Gedenktags zum Genozid, den ukrainische Nationalisten im Zweiten Weltkrieg an polnischen Staatsbürgern verübt hatten. Der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko warf Polen daraufhin „anti-ukrainische Hysterie“ vor, denn auch Polen hatten 1944 etwa 20.000 Ukrainer ermordet. Später sorgte die PiS dafür, dass die Leugnung der Verbrechen der Ukrainischen Aufständischen Armee, die 1942 von Stepan-Bandera-Anhängern gegründet wurde, gesetzlich verboten wurde. Parteiführer Jarosław Kaczyński stellte 2017 klar, dass „die Ukraine mit Bandera in Europa nichts zu suchen hat“. Der Grund für dieses Verhalten der PiS-Funktionäre ist einfach: Seit der Parteigründung im Jahr 2001 spielen sie die Patriotismus-Karte, um mehr Wählerstimmen zu gewinnen. 

In Zeiten, in denen es rund um Polen eher ruhig zugeht, bringt diese Karte wenig ein, dafür wirkt sie umso verlässlicher, wenn sich die Lage zuspitzt. Einfacher ausgedrückt, die PiS geht mit patriotischem Populismus auf Stimmenfang.1 Die PiS ist eine sehr autoritäre Partei.2 Ihre Linie hängt gänzlich von der Position ihres Vorsitzenden Jarosław Kaczyński ab, dessen Alter von 74 Jahren ganz und gar nicht zur Flexibilität beim Lösen von Konflikten beiträgt. Seit die PiS 2015 in die Regierung gewählt wurde, bekommt das ganze Land diesen Autoritarismus zu spüren. Aufgewachsen in einer anderen Zeit, reagiert Kaczyński nervös auf jeden Angriff gegen „Polens guten Ruf“ in Gegenwart und Vergangenheit, verweigert sich modernen Trends des Westens (engere Verflechtung von Staaten, Erweiterung des Familienbildes, kulturelle Vielfalt) und versucht, seine gewohnte Welt mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. 

Europas konservative Revolutionäre

Man kann ihn durchaus zu den Plejaden der konservativen Revolutionäre zählen, die bereit sind, zugunsten alter Stützpfeiler die Demokratie zu opfern – wie Viktor Orbán, Recep Tayyip Erdoğan oder… Wladimir Putin.3 Letzterer reagiert ebenfalls sehr empfindlich auf die Geister des ukrainischen Nationalstolzes, die er als Vorwand benutzte, zuerst die ukrainische Halbinsel Krim zu annektieren und später vollumfänglich in die Ukraine einzumarschieren, um Selenskyjs angeblich „neonazistisches Regime“ zu stürzen. Auch die Orientierung an der Kirche verbindet beide politischen Leader: Während sich Putin, dessen spirituelle Lehrmeister der orthodoxe Dissident Alexander Solschenizyn und der 1922 aus Russland verbannte Philosoph Iwan Iljin mit seinen extrem rechten Ansichten sind, oft in Begleitung des Klerus sehen lässt, richtet sich Kaczyński nach den Schriften von Papst Johannes Paul II. Daher rührt auch seine kategorische Ablehnung muslimischer Flüchtlinge aus dem Nahen Osten auf polnischem Boden: Der Pontifex hielt den Islam für unvereinbar mit der europäischen Zivilisation, daher war Kaczyński entrüstet, als die EU nach dem Arabischen Frühling allen ihren Mitgliedern Quoten für die Aufnahme von Migranten aus muslimischen Ländern aufdrängte. Im Herbst 2015 versuchte der PiS-Vorsitzende sogar, die Bevölkerung mit der Behauptung zu verängstigen, die Migranten würden in Polen die Scharia einführen und tropische Krankheiten verbreiten.     

Schließlich berufen sich sowohl Kaczyński als auch Putin, beide juristisch gebildet, gern auf internationale Erfahrungen, nur dass sie sie so interpretieren, wie es ihnen gerade passt. Im September 2021 stieß der EU-Skeptiker Kaczyński zum Beispiel seine Landsleute mit der Äußerung vor den Kopf: „Was ein EU-Land darf, dürfen die anderen auch.“ Vergeblich sucht man in diesen Worten nach einer Anerkennung der Oberhoheit internationalen Rechts, denn hier tritt das „Kaczyński-Prinzip“ in Aktion (wie es ein oppositioneller Journalist aus Polen formulierte): „Die polnische Regierung kann im eigenen Land alles anwenden, was ihr in der Praxis europäischer Staaten passend erscheint, doch die europäischen Staaten (und die EU als Gemeinschaft) dürfen von der polnischen Regierung nicht die Achtung jener Rechte verlangen, die in anderen Ländern als grundlegend gelten.“ Ein Beispiel für die Anwendung dieses Prinzips lieferte Justizminister Zbigniew Ziobro, ebenfalls von der PiS: Beim Versuch, das Wahlverfahren zum Obersten Gericht in den Einflussbereich der Regierung zu bringen, berief er sich auf angeblich analoge Prozedere in Deutschland und Spanien, obwohl bei genauerem Hinsehen gar keine Analogie besteht, sondern nur eine rein formale Ähnlichkeit (zum Beispiel die Beteiligung des Justizministers an diesem Wahlverfahren). Auf ähnliche Art und Weise verteidigt Putin sein skandalöses Gesetz über ausländische Agenten mithilfe eines ähnlich klingenden, aber inhaltlich völlig anderen Gesetzes, das 1938 in den USA verabschiedet wurde.

Polnischer Putinismus

Dass der Kaczyńismus im Grunde eine polnische Variante des Putinismus ist, wurde in Polen schon vor Langem bemerkt. Bereits als die PiS 2005 zum ersten Mal in die Regierung gewählt wurde, definierte der Chefredakteur der liberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, Adam Michnik, genau damit die Grundeinstellung von Kaczyńskis Anhängern, und Jacek Żakowski, Journalist derselben Zeitung, formulierte die „Zehn Gebote“ eines jeden PiS-Mitglieds, die diese Partei wie eine autoritäre Bewegung aussehen lassen. Durch die Rückkehr der PiS in die Regierung 2015 wurde dieser Gedanke nur bestätigt. Wenn Putin als Basis des russischen Weltbilds gewisse geistige Klammern anführte, so rief Kaczyński die moralische Revolution auf Grundlage der sozialen Lehre der katholischen Kirche aus. Ähnlich wie Russland beanspruchte Polen die Oberhoheit der eigenen Gesetze über internationales Recht; genau wie die russische versuchte auch die polnische Regierung, Medien und Gerichtsbarkeit unter ihre Kontrolle zu stellen, und begann zudem die Opposition anzugreifen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen: Im Dezember 2015 nannte Kaczyński die Teilnehmer an regierungskritischen Kundgebungen „Polen übelster Sorte“, die „das Gen des Verrats in sich tragen“ (man denke zum Vergleich an die russischen Propagandasprüche von den „Nuland-Keksen“, mit denen die Sprecherin des US-Außenministeriums im Dezember 2011 auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz und im November 2013 auf dem Kyjiwer Maidan die Opposition geködert haben soll). Analog zur russischen erklärte auch die polnische Regierung die liberalen westlichen Werte für inakzeptabel für das eigene Land. Sie ging sogar noch weiter, indem sie ein striktes Verbot gegen Abtreibungen verhängte, was bisher nicht einmal Putin gewagt hat (obwohl sich solche Tendenzen auch in Russland abzeichnen). Genau wie die russische wärmt auch die PiS-Regierung unermüdlich verfahrene historische Konflikte mit anderen Ländern auf (mit Russland, der Ukraine, der Slowakei, mit Belarus, Litauen und Israel), und von Deutschland fordert sie sogar Schadenersatz für die Folgen der Okkupation im Zweiten Weltkrieg. Und schließlich laufen jetzt, genau wie in Russland, alle Fäden der Staatsverwaltung bei einer Person zusammen, nämlich bei Jarosław Kaczyński, obwohl er selbst kein Ressort innehat, sondern weiterhin einfacher Parlamentsabgeordneter ist.4

Die Polen, stolz auf ihre Rolle beim Sturz des Kommunismus, waren von der neuen Realität zuerst schockiert: Eine Umfrage ergab 2015, dass sich mehr als die Hälfte der Befragten Sorgen um die Demokratie machten. Trotz aktiven zivilgesellschaftlichen Widerstands nahm der Einfluss der PiS stetig zu, sodass sie bei den Wahlen 2019 einen noch deutlicheren Sieg über die vereinte Opposition davontrug. In der Praxis zeigt sich, dass die polnische Bevölkerung in Zeiten verschärfter außenpolitischer Krisen dazu neigt, die PiS zu wählen. Vor diesem Hintergrund war der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine für diese Partei geradezu ein Geschenk, auch wenn es bei der jüngsten Wahl im Oktober 2023 zwar für den Sieg, aber nicht für eine Regierungsmehrheit gereicht hat.     

Die Attraktivität des Autoritarismus im 21. Jahrhundert

Was sind generell die Gründe für die wachsende Popularität von Konservatismus und Autoritarismus in Europa und im postsowjetischen Raum?5 Warum folgen Männer wie Jarosław Kaczyński und Viktor Orbán, die der demokratischen Opposition entstammen, einer Politik, die geradezu schmerzhaft an die Politik des ehemaligen KGB-Mitarbeiters Wladimir Putin erinnert? Warum können wir dieses Phänomen gleichzeitig in so unterschiedlichen Ländern wie Russland, Polen, Ungarn, Serbien, Belarus und der Türkei beobachten? 

Unübersehbar ist, dass sich zumindest die drei letztgenannten Länder an Europas Peripherie befinden und auf die eine oder andere Weise einen EU-Beitritt bzw. die Aufnahme in die Nato auf der politischen Tagesordnung haben. Sie haben in jüngster Vergangenheit einen tiefgreifenden und schmerzhaften Transformationsprozess durchlaufen oder sind noch mittendrin – einen postkommunistischen oder (wenn man Erdoğans Politik so nennen will) „postkemalistischen“ Wandel.6 Dieser Prozess wurde in jedem Land von einem Aufschwung des Nationalismus begleitet und fand unter patriotischen und traditionalistischen Losungen statt: „vollkommene Unabhängigkeit“ (in Polen und Ungarn), „Schutz der serbischen Interessen“ (in Serbien), „Erhebung von den Knien“ (in Russland), „Recht und Ordnung wie in der UdSSR“ (in Belarus), „islamisches Erwachen“ (in der Türkei). Die Regierungen aller aufgezählten Länder beklagen, auch wenn sie EU-Mitglieder sind, eine sichtliche oder vermeintliche Einmischung des Westens in ihre Innenpolitik und nutzen bekanntlich das Schreckgespenst „Einfluss aus dem Ausland“, um ihre Popularität aufzubessern.7 

Nicht zu vergessen ist schließlich, dass die Länder Ost- und Mitteleuropas vor demografischen Problemen stehen (Entvölkerung, massenhafte Abwanderung der arbeitsfähigen Bevölkerung ins Ausland, Überalterung aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung) und sich daher nur sehr schwer an die Bedingungen der modernen westlichen Welt anpassen können.8 Wie die Praxis zeigt, ist eine ganze Reihe dieser neuen Anforderungen (Rechte sexueller Minderheiten, Freiheit in Partnerschaften, legale Abtreibungen, Multikulturalismus) vielen Bewohnern der Region fremd, vor allem in der älteren Generation. Gerade sie gibt aber aufgrund ihrer Überzahl den Ton an. Anders gesagt, der steigende nationalistische Autoritarismus ist in hohem Maße eine Reaktion relativ alter Gesellschaften auf eine Welt, die sich zu schnell verändert. 

Ruheloses Osteuropa

Jetzt kann man einwenden: Ist etwa die westeuropäische Bevölkerung jünger? Nein, aber sie hat nicht diesen Bruch erlebt wie die Bewohner des ehemaligen sowjetischen Blocks oder der Türkei. Folgt daraus, dass Polen und Ungarn Kurs auf einen EU-Austritt nehmen werden? Nein. Abgesehen von finanziellen und politischen Vorteilen der Mitgliedschaft ist für beide Länder das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem geeinten Europa wichtig. Weder Kaczyński noch Orbán kann man EU-Skeptiker nennen – eher sehen sie die EU nicht als das, was sie heute ist. Sogar Johannes Paul II. blieb trotz etlicher Meinungsverschiedenheiten mit der EU-Führung ein Euro-Enthusiast.      

Möglicherweise wird auch die Ukraine, wenn sie einmal in der EU ist, ein nicht minder ruheloses Mitglied sein als Polen und Ungarn. Das liegt nicht am aktuellen Krieg oder an Problemen des anschließenden Wiederaufbaus, sondern daran, dass auch sie zum nationalistischen Autoritarismus neigt.9 Das mag zunächst seltsam erscheinen, weil dort ja die demokratischen Kräfte gesiegt und ihre Freiheit zweimal erfolgreich verteidigt haben (in der Orangen Revolution 2004 und auf dem Euromaidan 2013-2014). Erstens gibt es jedoch im postsowjetischen Raum mit Kirgistan ein Land, das sogar noch mehr Erfahrung im Kampf um die Demokratie hat und trotzdem in ein repressives Regime abgerutscht ist. Und zweitens war der zentrale Motor beider gesellschaftlicher Bewegungen in der Ukraine nicht Demokratie, sondern ebenfalls Patriotismus. Genauer gesagt: der Wunsch nach totaler Unabhängigkeit von Russland.10 Wäre 2004 das Hauptproblem die Demokratie gewesen, dann wäre die Spaltung der Wählersympathien wohl kaum entlang der kulturellen Traditionen verlaufen: Der proeuropäische Westen und das Zentrum unterstützten Oppositionsführer Wiktor Juschtschenko, der prorussische Osten und die Krim den Regierungskandidaten Wiktor Janukowitsch. Dem Euromaidan sah man schon an seiner Bezeichnung an, was die Menschen zum Protest bewegte: Sie wollten die mehrheitliche Entscheidung der Ukrainer für Europa (und somit gegen Russland) verteidigen, also die nationale Unabhängigkeit. Bezeichnenderweise unterschrieb Wiktor Juschtschenko, Sieger der Orangen Revolution, zum Leidwesen der Polen im Januar 2010 einen Erlass über die Anerkennung von Stepan Bandera und den Milizen der Ukrainischen Aufständischen Armee als Unabhängigkeitskämpfer. Der Euromaidan bedeutete für den Bandera-Kult und überhaupt für alle ukrainischen Freiheitskämpfer ungeachtet ihrer politischen Ausrichtung einen zusätzlichen Aufwind. Die Reaktionen fielen nicht nur in Russland, sondern auch in Polen und Israel heftig aus (weil unter diesen Kämpfern auch Handlanger der Nationalsozialisten waren, etwa Roman Schuchewytsch). Russlands Aggression gegen die Ukraine hat ab 2022 in der ukrainischen Gesellschaft einen noch stärkeren Trend zum Patriotismus provoziert. Und auch wenn Patriotismus momentan den Ukrainern dabei hilft, ihre Freiheit zu verteidigen, so werden sie in Zukunft schwere Beziehungsprobleme mit der EU und mit Polen haben, wenn sie weiterhin auf Nationalstolz setzen. 

Generell ist das Programm der Östlichen Partnerschaft, das die EU-Kommission im Dezember 2008 auf Anregung Polens beschloss, nicht auf eine Stabilisierung des Verhältnisses zwischen der EU und dem ganzen östlichen Europa ausgerichtet, sondern umfasst lediglich Länder, die Russland von Europa und der Nato trennen (der Vergleich mit einem Cordon sanitaire drängt sich hier von selbst auf). Die EU hat Russland nie einen Integrationsplan angeboten.11 Sie hat nicht einmal die Visumpflicht abgeschafft; ein fast fertiges Abkommen für Reiseerleichterungen stoppte die EU 2014 als direkte Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim. In den folgenden Jahren setzte sich die russische Führung die jahrzehntelang erprobte Abgrenzung von der Nato zum strategischen Ziel. Die überwältigende Unterstützung für Putin rührt zwar nicht ausschließlich, aber zumindest teilweise aus dieser Resignation über die Politik der EU. Das Verblassen der europäischen Perspektive bedingt auch die Attraktivität des wiedergeborenen Stalin-Kults und generell der Sowjetzeit, die im Bewusstsein der Massen als Höhepunkt der Entwicklung Russlands verankert ist. Die rote Flagge über Berlin, Atomwaffen, der Status einer Weltmacht und Flüge in den Kosmos klingen für viele Russen wie ein schönes Märchen. Es sind Symbole eines verlorenen Paradieses. Und die Nato vor den Toren wird als dieselbe nationale Schande und Bedrohung für die Souveränität erlebt wie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg die Ruhrbesetzung und die Reparationsforderungen.

Insofern hätten sich die EU und die Nato bei der Aufnahme weiterer Mitglieder entweder zurückhalten oder allen europäischen Bevölkerungen des ehemaligen Ostblocks die gleiche Chance geben sollen. In letzter Konsequenz haben die geopolitische Segregation des östlichen Europas sowie die offene Benachteiligung Russlands in ökonomischer Hinsicht (es gab so gut wie keine Investitionen in den Neunzigern und ein extrem in die Länge gezogenes Verfahren zur Aufnahme in die Welthandelsorganisation) revanchistische Tendenzen in Russland verstärkt. Auch das gehört zur Vorgeschichte des Krieges.

Jenseits von Institutionen

Im Grunde hat die EU bei ihrer Erweiterung denselben Fehler gemacht wie die russischen Reformatoren der Neunziger: Sie unterschätzte die Rolle kultureller Traditionen. Es genügt nicht, bestimmte Institutionen einzuführen oder die Wirtschaft zu transformieren, man muss auch die Menschen dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern. Als die EU neue Mitglieder aufnahm, bedachte sie nicht, dass diese die europäischen Strukturen zur Umsetzung nationaler Interessen nutzen würden. Zum Beispiel bildeten die polnischen Abgeordneten im Europaparlament auf Initiative der PiS sofort nach dem EU-Beitritt einen polnischen Klub. Sie umschifften dabei geschickt ein Verbot, Fraktionen aus Vertretern eines einzigen Landes zu bilden. Außerdem stimmten alle polnischen Abgeordneten für Bronisław Geremeks Kandidatur zum Sprecher des Europaparlaments, obwohl die Parteien, zu denen sie gehörten, eigene Kandidaten vorschlugen. Die Polen waren außerdem mehrheitlich für den Einmarsch in den Irak – dafür sprachen sich sogar die polnischen Linken aus, während die europäischen Sozialisten, mit Ausnahme der britischen Labour Party unter Tony Blair, diesen mehrheitlich strikt ablehnten. Ebenso einträchtig forderten die Polen, in die Präambel der nie in Kraft getretenen europäischen Verfassung einen Punkt über die christlichen Wurzeln der europäischen Zivilisation einzufügen. Die ständigen Reibereien zwischen der EU-Führung und Warschau unter der PiS-Regierung führen also nur eine Tendenz fort, die bereits von Anfang an bestanden hat. 

Man kann davon ausgehen, dass sich die Ukraine als EU-Mitglied ähnlich verhalten wird. Denn trotz aller demografischen Verluste bleibt die Ukraine eines der größten Länder Europas. Bereits vor dem Krieg hatte das Land eine der ältesten Bevölkerungen des Kontinents, ein Großteil der arbeitsfähigen Bürger kämpft und stirbt derzeit an der Front. Hinzu kommt, dass die wirtschaftliche Katastrophe die Ukraine vollständig von finanzieller Unterstützung von außen abhängig gemacht hat. In der Bevölkerung – und vor allem in der älteren Generation – wird das als Verlust der Souveränität empfunden und ruft negative Einstellungen hervor. Neben all dem verwandelt sich die Ukraine in Folge des russischen Überfalls in einen monoethnischen Staat: Selbst diejenigen, die vor dem Krieg Russisch sprachen, wechseln nun massenhaft zum Ukrainischen, und damit verschwindet die linguistisch-regionale Teilung der Gesellschaft. Nicht zu vergessen ist auch die starke Religiosität der griechischen Katholiken, die in den westlichen Regionen der Ukraine leben. Die Beispiele Polen und Ungarn zeigen, dass genau diese Kombination – Mono-Ethnizität, starke Religiosität und ein Gefühl der Bedrohung von außen (das im Falle der Ukraine mehr als berechtigt ist) – rechte Traditionalisten an die Macht bringt, die dazu neigen, unnachgiebig mit den Strukturen der EU in Konflikt zu geraten.

Gibt es Hoffnung auf ein Nachlassen dieser Tendenz? In Kroatien etwa ist der Ustascha-Kult, der unter dem autoritären Präsidenten Franjo Tuđman im Zuge des Unabhängigkeitskampfes und des Kriegs gegen Serbien betrieben wurde, heute weitgehend erloschen und die Demokratie nicht mehr gefährdet. Vielleicht wird die „Spin-Diktatur“12 auch in Serbien und der Türkei nicht für immer bestehen bleiben, auch wenn das keine EU-Länder sind – immerhin ist die Türkei Mitglied der Nato, Serbien will zwar nicht mehr Mitglied des Militärbündnisses werden, aber der EU beitreten. Und auch die Türkei hat ihr Bemühen um eine Aufnahme in die EU noch nicht gänzlich fallen lassen. Möglicherweise kann nur ein Generationenwechsel den nationalistisch-autoritären Trend umkehren.

Fußnoten
12

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Bartek Pytlas: Party Organisation of PiS in Poland. Between Electoral Rhetoric and Absolutist Practice. In: Politics and Governance. Band 9, Nr. 4, 2021, S. 340–353. https://doi.org/10.17645/pag.v9i4.4479.

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Andrea Kendall-Taylor, Erica Frantz und Joseph Wright: The Global Rise of Personalized Politics. It's Not Just Dictators Anymore. In: The Washington Quarterly. Band 40, Nr. 1, 2017, S. 7–19. https://doi.org/10.1080/0163660X.2017.1302735.

David Waldner und Ellen Lust: Unwelcome Change: Coming to Terms with Democratic Backsliding. In: Annual Review of Political Science. Band 21, Nr. 1, 2018, S. 93–113. https://doi.org/10.1146/annurev-polisci-050517-114628; Licia Cianetti, James Dawson und Seán Hanley (Hrsg.): Rethinking 'democratic backsliding' in Central and Eastern Europe. Routledge, London 2020, ISBN 9780429559815.

H. Ertuğ Tombuş und Berfu Aygenç: (Post-)Kemalist Secularism in Turkey. In: Journal of Balkan and Near Eastern Studies. Band 19, Nr. 1 2017, S. 70–85. https://doi.org/10.1080/19448953.2016.1201995.

Vladimir Tismaneanu: Fantasies of Salvation. Democracy, Nationalism, and Myth in Post-Communist Europe. Princeton University Press, Princeton, NJ 1998, ISBN 9781400813667; Sebastian Hoppe: Sovereigntism vs. anti-corruption messianism. A salient post-Soviet cleavage of populist mobilisation. In: Post-Soviet Affairs. Band 38, Nr. 4 2021, S. 251–273. https://doi.org/10.1080/1060586X.2021.1994821.

Die Rolle der Demographie bei der Entstehung des Populismus im östlichen Europa wird auch von Ivan Krastev und Stephen Holmes betont: Ivan Krastev und Stephen Holmes: The Light That Failed. A Reckoning. Allen Lane, London 2019, ISBN 9780241345702.

 Iana Sabatovych: Does nationalism promote democracy? Comparative analyses of Ukraine's ‘Maidan’ revolution and Poland's ‘Solidarity’ mass mobilisation. In: Contemporary Politics. Band 24, Nr. 2 2018, S. 131–152. https://doi.org/10.1080/13569775.2017.1382826.

 Volodymyr Kulyk: Ukrainian Nationalism Since the Outbreak of Euromaidan. In: Ab Imperio. 2014, Nr. 3 2014, S. 94–122. https://doi.org/10.1353/imp.2014.0064.

William Hill: No Place for Russia. European Security Institutions Since 1989. Columbia University Press, New York, NY 2018, ISBN 9780231801423.

Sergej Guriev und Daniel Treisman: Spin Dictators. The Changing Face of Tyranny in the 21st Century. Princeton University Press, Princeton 2022, ISBN 9780691224466.

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