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Ein Konflikt, den niemand wollte

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William Hill2018

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 06.02.2023

te.ma DOI 10.57964/mkvv-4a38

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 06.02.2023
te.ma DOI 10.57964/mkvv-4a38

Zur Genese des russischen Krieges gegen die Ukraine gehört das Scheitern der europäischen Sicherheitsordnung nach 1989, bestehend aus Nato, EU und OSZE. William H. Hill zeichnet nach, wie die Idee eines „geeinten und freien Europas von Vancouver bis Wladiwostok“ unter Einbeziehung Russlands unerfüllt blieb. Sein Buch legt nicht nur die erneute Herausbildung eines geteilten Europas offen, sondern kann auch als diplomatische Vorgeschichte des russischen Angriffs auf die Ukraine gelesen werden.

Die zentrale Botschaft des 2018 veröffentlichten Buches von William H. Hill ist tragisch: Die militärische Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine seit 2014 – und damit das Scheitern gemeinsamer Sicherheitsinstitutionen in Europa – sei das Ergebnis von Entscheidungen, die zwar in ihrer jeweiligen Zeit sinnvoll erschienen, letztendlich aber zur Entfremdung zwischen Russland und den westlichen Staaten geführt haben. Die Institutionen, die Europa und die USA schufen, um Frieden und Stabilität zu wahren, wurden vom Kreml als Versuch aufgefasst, Russland auszuschließen. Der Niedergang einer funktionierenden Sicherheitsordnung in Europa nach 1989 war Hill zufolge ein diplomatischer Prozess voller unintendierter Konsequenzen und zunehmend divergierender Wahrnehmungen.

Weder Russland noch die europäischen Staaten oder die USA hätten es vollbracht, einen Platz für Russland innerhalb einer gemeinsam verwalteten Sicherheitsarchitektur zu schaffen. Hinter diesem Scheitern verberge sich jedoch keine lang angelegte, singuläre Strategie, Russland klein und isoliert zu halten. Auch könne für die Entzweiung kein vermeintlich gebrochenes Ur-Versprechen verantwortlich gemacht werden, demzufolge sich die Nato nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht weiter gen Osten ausdehnen sollte.1

Tatsächlich habe es zahlreiche Überlegungen gegeben, Russland zu integrieren, zwischenzeitlich sogar in die Nato oder die EU. Hill argumentiert, dass diese Versuche zwar durchaus ernsthaft in Betracht gezogen wurden, letztendlich aber scheitern mussten. So hätten sich russische Politiker*innen nach dem Ende der Sowjetunion in erster Linie eine neue, pan-europäische Sicherheitsarchitektur gewünscht, die von allen Beteiligten gemeinsam entworfen werden sollte. Stattdessen sei Russland jedoch mit zwei Entwicklungen konfrontiert worden, die langfristig zu neuen Spannungen geführt hätten. Zum einen kam es zum Weiterbestehen und zur Expansion der Nato, obwohl die Ursachen ihrer Gründung mit dem Ende des Kalten Kriegs obsolet geworden waren. Andererseits entstand durch die Gründung und Erweiterung der EU ein neuer mächtiger Akteur im westlichen Institutionengefüge, der zwar militärisch ambitionslos war, aber ökonomische Anziehungskraft entfaltete. Zwar seien beide Prozesse nicht gegen Russland gerichtet gewesen. Sie hätten jedoch innerhalb der russischen Elite zunächst zu Enttäuschung, später zu Entfremdung und letztendlich zu einer deutlich konfrontativen Außenpolitik gegenüber dem Westen geführt.2

Hill, ein langjähriger außenpolitischer Berater wie auch Russlandhistoriker, zeigt, dass es durchaus eine Wachstumsdynamik westlicher Institutionen gab, die eine ernstzunehmende Wirkung auf Russland hatte. Die Konsolidierung und Ausweitung exklusiver westlicher Institutionen wurde im Kreml gezielt benutzt, um den „kollektiven Westen“ als Feindbild zu etablieren und damit innenpolitisch zu punkten. Ob die NATO und die EU tatsächlich feindlich gesinnt waren oder nicht, spiele dabei keine Rolle. Im Mittelpunkt des „subjektiven Sinns“ (Max Weber), den man in Moskau den europäischen Sicherheitsinstitutionen zuschrieb, stand fortan die ewige Konfrontation Russlands mit dem Westen.3

Dass sich diese Wahrnehmung zu einer harten anti-westlichen Identität verdichtete, könne jedoch nicht einzig der Nato und der EU angelastet werden, so Hill, sondern habe viel mit innerrussischen Entwicklungen zu tun. Das Tragische der vergangenen 25 Jahre sei dabei, dass viele der Abkommen, Gipfel und Organisationen durchaus sinnvoll für alle Beteiligten erschienen. Langfristig seien die Hoffnungen auf beiden Seiten jedoch regelmäßig enttäuscht worden – letztendlich eine Folge unterschiedlicher Ziele und Wahrnehmungen der durchaus vorhandenen gemeinsamen Errungenschaften. Eine vorzeitige Zäsur sei mit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 erreicht worden: Während diese Russlands endgültigen Bruch mit der europäischen Sicherheitsordnung markierte, hauchte sie der Nato und damit der von der russischen Führung als maßgebliches Feindbild dargestellten Organisation neues Leben ein.

Darüber hinaus zeigt Hill, dass sich Sicherheitsorganisationen wie die OSZE, auf die sich westliche Staaten und Russland zunächst einigen konnten, nicht als tragbare Alternative erwiesen haben. Durch das interne Konsensgebot der OSZE und die divergierenden Positionen der Mitgliedsstaaten sei die Organisation oft unfähig gewesen, weitreichende und stabilisierende Entscheidungen zu treffen. Dies habe auf russischer Seite zu Resignation und auf westlicher Seite zur Stärkung „eigener“ Institutionen und Organisationen geführt, insbesondere der Nato und der EU. Die Kooperationsmechanismen, die letztere mit Russland entwickelten, beispielsweise den Nato-Russland-Rat oder Russlands Mitgliedschaft im Europarat, bildeten keinen adäquaten Ersatz für das Fehlen Russlands in den westlichen Kerninstitutionen. James Steinberg, der von 1994 bis 1996 die strategische Planung im US-Außenministerium leitete, machte dies deutlich, als er sagte, die Beziehungen zwischen Russland und der Nato bzw. EU dienten dazu, dass Russland „eine Stimme, aber kein Veto“ habe.4

Hills detailreiche Studie trägt auf vielfältige Weise zum Verständnis der Vorgeschichte des russisch-ukrainischen Krieges seit 2022 bei.5 Zum einen verdeutlicht sie, wie Institutionen und Abkommen, die eigentlich auf die Einhegung von Konflikten zielten, letztendlich zur Entfremdung zwischen den beteiligten Akteuren beitrugen. Der Weg in den Krieg, so könnte man Hills Buch weiterschreiben, war durch Entwicklungen gekennzeichnet, die keiner der Akteure so beabsichtigt hatte. Die Betonung des internationalen und diplomatischen Rahmens, in dem sich die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen abspielten, bedeutet jedoch nicht, dass internationale Strukturen für sich genommen den Krieg des Jahres 2022 erklären können, wie Vertreter*innen der realistischen Schule der Internationalen Beziehungen (IB) behaupten.6 Die Osterweiterungen der EU und der NATO waren keineswegs rein machtpolitisch motivierte Maßnahmen, die sich gegen Russland richteten. Im Gegenteil: Russland war ein aktiver Teil des Verhandlungsprozesses. Insofern sind politische, ökonomische und kulturelle Dynamiken innerhalb Russlands zentral, um dessen regressiven Weg in die Konfrontation des Jahres 2014 und die umfängliche Invasion der Ukraine im Februar 2022 nachvollziehen zu können, wie liberale IB-Autor*innen betonen.7 Hierzu gehört auch, Putins Kriegsentscheidung in den Monaten und Wochen vor der Invasion selbst in eine Erklärung einzubeziehen.8 

Diese innenpolitischen Faktoren bleiben jedoch ohne eine Einbettung in den europäischen und globalen sicherheitspolitischen Kontext seit dem Fall der Berliner Mauer unverständlich. Obwohl 2018 der vier Jahre später stattfindende Angriff Russlands noch nicht absehbar war, rekonstruiert No Place for Russia somit einen wichtigen Ausschnitt der internationalen Diplomatiegeschichte, die Teil des Kriegsursachenkomplexes ist.

Fußnoten
8

 Mary Elise Sarotte: Not One Inch. America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate. Yale University Press, New Haven, London 2021, ISBN 9780300259933.

Richard Sakwa: Russia Against the Rest. The Cold Peace and the Breakdown of the European Security Order. Cambridge University Press, Cambridge UK, New York NY 2017, ISBN 9781316613511.

Klaus Schlichte: 3 x Ukraine. Zur Politischen Soziologie eines Angriffskriegs. In: Leviathan. Band 50, Nr. 3, 2022, S. 413–438. https://doi.org/10.5771/0340-0425-2022-3

James M. Goldgeier: Power and Purpose. U.S. Policy Toward Russia after the Cold War. Brookings Institution Press, Washington, D.C 2003, ISBN 0815731736.

Gwendolyn Sasse: Der Krieg gegen die Ukraine. Hintergründe, Ereignisse, Folgen. C.H. Beck, München 2022, ISBN 9783406793059.

John J. Mearsheimer: The Causes and Consequences of the Ukraine War. In: Horizons: Journal of International Relations and Sustainable Development. Nr. 21, 2022, S. 12–27. https://www.jstor.org/stable/48686693; Roland Czada: Realismus im Aufwind? Außen- und Sicherheitspolitik in der »Zeitenwende«. In: Leviathan. Band 50, Nr. 2, 2022, S. 216–238. http://dx.doi.org/10.5771/0340-0425-2022-2-216

Michael McFaul und Robert Person: What Putin Fears Most. In: Journal of Democracy. Band 33, Nr. 2, 2022, S. 18-27.https://doi.org/10.1353/jod.2022.0015

Greg Miller und Catherine Belton: FSB errors played crucial role in Russia's failed war plans in Ukraine. In: The Washington Post. 19.08.2022. https://www.washingtonpost.com/world/interactive/2022/russia-fsb-intelligence-ukraine-war/

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