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Imperiales Syndrom ohne Imperium

Re-Paper
Emil Pain2016

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 24.10.2022

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/snjf-x866

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 24.10.2022
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/snjf-x866

Russland ist weder Imperium noch Nation, sagt Emil Pain. Seit dem Zerfall der Sowjetunion verhindere ein „imperiales Syndrom“ die Entstehung einer zivilen und demokratischen russischen Nation. Stattdessen befeuert die herrschende Elite einen imperialen Nationalismus, der sich immer mehr verselbständigt.

Der russische Historiker und Ethnologe Pain, der von 1996 bis 1999 Boris Jelzin in Nationalitätenfragen beriet, stellt sich die Frage, wie das Imperiale im Nationalen überleben konnte. Für den russischen Fall liegt diese Frage für ihn auf der Hand: Obwohl der „Schatten des Imperiums“ noch wirkmächtig bleibt,1 kann nicht mehr von der faktischen Existenz eines russischen Imperiums gesprochen werden. Im Gegenteil: Spätestens seit dem Zerfall der Sowjetunion dominieren diverse Nationalismen.2 

Pain erfasst diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen mit dem Begriff des „imperialen Syndroms“: eine Konstellation aus imperialer Ordnung, imperialem Körper und imperialem Bewusstsein. Eine im Zarenreich und der Sowjetunion geformte, zentralisierte und personalisierte politische Ordnung bildet die Grundlage des postsowjetischen Autoritarismus. Zudem sieht Pain in dem in Nationen zerfallenen imperialen Körper der ehemaligen Sowjetunion die Möglichkeit, stets territoriale Ansprüche im Namen des einstmaligen Imperiums außerhalb seiner eigenen Grenzen zu erheben. Zuletzt erlaube es das nie ganz verschwundene imperiale Bewusstsein in Teilen der Elite und Gesellschaft Russlands, politische Projekte zu formulieren, die auch auf Resonanz in der Bevölkerung stoßen. 

Der intensivierten Re-Imperialisierung Russlands seit 2014, so Pain, gingen zwei miteinander verschränkte Krisen des russischen Nationalismus voraus. Die eine – internationale – wurde ausgelöst durch den Euromaidan in der Ukraine 2013/2014, der für einen zivilen und demokratischen Nationalismus stand und sich gegen das russisch-imperiale Erbe richtete. Für die russische Staatselite war der Euromaidan ein Wiedergänger eines demokratischen, anti-imperialen und nationalistischen Gegenprojektes, das ihnen bereits 2011/12 begegnet war: die Bolotnaja-Proteste. Putin habe auf diese Herausforderungen seiner Herrschaft mit einem imperialen Nationalismus reagiert und sich dabei die beschriebenen Aspekte des imperialen Syndroms zunutze gemacht.  

Pains Perspektive erweitert die für Russland umfänglich diskutierten so genannten imperial legacies.3 Zwar stimmt es, dass der zivile und demokratische Nationalismus in Russland vorerst gescheitert ist. Pain sieht darin jedoch keinen Grund für historischen Fatalismus, dem zufolge sich wiederholende Zyklen von imperialer Expansion und anschließendem Zusammenbruch die russische Geschichte bestimmen.4 Anti-imperiale Gegenprojekte sind möglich – in den anderen Gesellschaften des einstigen imperialen Körpers und in Russland selbst. 

Die russische Invasion vom 24. Februar 2022 erscheint in diesem Licht jedoch als vorläufiger Höhepunkt einer Intensivierung des imperialen Syndroms: ein Kampf um den imperialen Körper, eine Verhärtung des imperialen Regimes und eine Radikalisierung des imperialen Bewusstseins.

Fußnoten
4

Martin Aust: Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991. C.H. Beck, München 2019, ISBN 9783406731624.

Jack Snyder: Nationalism and the Crisis of the Post‐Soviet State. In: Survival. Band 35, Nr. 1, 1993, S. 5–26. https://doi.org/10.1080/00396339308442671

Mark R. Beissinger, Stephen Kotkin (Hrsg.): Historical Legacies of Communism in Russia and Eastern Europe. Cambridge University Press, New York 2014, ISBN 978-1107054172; Andreas Kappeler: Ukraine and Russia. Legacies of the Imperial Past and Competing Memories. In: Journal of Eurasian Studies. Band 5, Nr. 2, 2014, S. 107–15. https://doi.org/10.1016/j.euras.2014.05.005

So etwa bei Stephen Kotkin: A Scholar of Stalin Discusses Putin, Russia, Ukraine, and the West. In: The New Yorker. 11. März 2022. https://www.newyorker.com/news/q-and-a/stephen-kotkin-putin-russia-ukraine-stalin; Ralf Fücks: Die langen Linien des russischen Imperialismus. Zentrum Liberale Moderne, 9. Juni 2022. https://russlandverstehen.eu/russischer-imperialismus-fuecks-vorlesung-uni-kassel/.

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Bolotnaja-Bewegung ist eine oft, aber nicht immer, abwertend gebrauchte Bezeichnung für die Proteste gegen Wahlfälschung und gegen Einiges Russland in den Jahren 2011–13, insbesondere deren Hochphase von Dezember 2011 bis Mai 2012. Der Begriff leitet sich vom Bolotnaja-Platz im Moskauer Stadtzentrum ab, auf dem drei der größten Demonstrationszüge (10.12.2011, 4.2.2012, 6.5.2012) endeten. Ein verwandter Begriff ist der Bolotnaja-Prozess. Dieser bezieht sich auf die Massenverhaftungen und anschließenden Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit dem Marsch der Millionen am 6.5.2012 auf dem Bolotnaja-Platz.

Als legacy bezeichnet man das historische Erbe, das in der Gegenwart nachwirkt und Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur beeinflusst.

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