Bidenomics und neuer Washington Consensus: Muss sich Europa warm anziehen?

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Max Krahé2023
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Bidenomics und neuer Washington Consensus: Muss sich Europa warm anziehen?

»Frischer Wind in Washington«

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 25.09.2023

te.ma DOI 10.57964/138z-3798

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 25.09.2023
te.ma DOI 10.57964/138z-3798

Mit Joe Bidens Amtsantritt im Januar 2021 hat sich die Wirtschaftspolitik der USA gewandelt. Für den Politökonomen Max Krahé steht fest: „Bidenomics“ bedeutet einen Paradigmenwechsel. Statt Neoliberalismus und des Rückzugs des Staates stehen staatliche Investitionen und massive Subventionen für die heimische Industrie auf der Tagesordnung – mit tiefgreifenden Konsequenzen für Europa und den Rest der Welt.

Was Bidenomics genau bedeutet, wurde vom Sicherheitsberater des Weißen Hauses Jake Sullivan erstmals in einer Rede am 27. April 2023 in der Washingtoner Brookings Institution dargelegt: Ein „neuer Washington Consensus“ präge nun das Denken der US-Regierung, so Sullivan. Das Ziel sei nichts Geringeres als die Wiederbelebung der US-amerikanischen Industrie, die Reduzierung der Ungleichheit und die Transformation hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft.

Mit dem Infrastructure Investment and Jobs Act, dem CHIPS and Science Act und dem Inflation Reduction Act (IRA) hat das Kabinett Biden seit 2021 eine ganze Reihe wirtschaftspolitischer Maßnahmen vorgelegt, die die Bedingungen verändern, unter denen Unternehmen in den USA investieren können. Die Programme vereinfachen und beschleunigen den Bau neuer Infrastruktur, erweitern die nationale Chip- und Hochtechnologie-Produktion und subventionieren auch für Privathaushalte massiv den Weg in nachhaltiges Wohnen und E-Mobilität. Wie Max Krahé, Geschäftsführer des Think Tanks Dezernat Zukunft, argumentiert, hat der „frische Wind in Washington“ aber auch massive Auswirkungen auf die europäische und globale Politik.

Die europäischen Reaktionen auf Bidens Wirtschaftsoffensive nahmen zunächst die Form deutlicher Kritik an. Bidenomics sei vor allem geopolitisch motiviert, gegen China, aber auch gegen Europa gerichtet und schädige die globale Ordnung. Konservative kritisieren den „verschwenderischen“ Umgang mit Steuergeld in Form von massiven Subventionen. Die Wirtschaftsminister Deutschlands und Frankreichs fühlten sich gar gezwungen, im Rahmen eines Besuchs in den USA für mehr Rücksicht auf die europäische Wirtschaft zu werben. Robert Habeck warnte, man dürfe mit den USA nicht in einen neuen „Handelskrieg“ geraten.

Doch statt pauschaler Kritik, fordert Krahé, bedürfe der Paradigmenwechsel in den USA einer ernsthaften Diskussion in Deutschland und der EU. Denn die vier Herausforderungen, auf die Bidenomics reagiere und die Sullivan in seiner Brookings-Rede erläuterte, betreffen die USA und Europa gleichermaßen. 

Hier wäre zunächst das Scheitern des marktliberalen Paradigmas zu nennen. Die Liberalisierung der US-amerikanischen Wirtschaft und des Welthandels seit den 1980er Jahren hätten für viele Menschen Arbeitsplatzverlust und sozialen Abstieg bedeutet.1 Zweitens reagiere die neue Wirtschaftspolitik der USA auf die Notwendigkeit, die Abhängigkeiten von den geopolitischen Rivalen China und Russland zu reduzieren und dadurch Risiken zu minimieren. Drittens lasse sich eine grüne Transformation der Wirtschaft nicht ohne Wachstum und neue Jobs erreichen. Und schließlich helfe Bidenomics dabei, die gravierende soziale Ungleichheit im Land zu verringern, die seit dem Aufstieg des Neoliberalismus in den 1970er Jahren nicht nur die amerikanische Demokratie gefährdet habe.2

Dass sich die USA als Reaktion auf diese vier Großtrends und insbesondere den Aufstieg Chinas bereits seit Jahren zunehmend auf das Wohlergehen der eigenen Wirtschaft konzentrieren, wurde von einigen Beobachtern als Wandel von einem „Globalismus der offenen Tür“ zu hartem Wirtschaftsnationalismus beschrieben.3 Schaut man genau hin, sind die außenpolitischen Unterschiede zwischen Trump und Biden geringer, als man erwarten würde. Somit stellen paradoxerweise die USA jene politische und wirtschaftliche globale Ordnung infrage, die sie seit 1945 selbst errichtet haben.4

Bidenomics hat auf beiden Seiten des Atlantiks in den verschiedenen politischen Lagern kontroverse Debatten ausgelöst. Linke und Post-Keynesianer diskutieren etwa darüber, ob die Maßnahmen tatsächlich das Ende der neoliberalen Ära bedeuten und die Ungleichheit in der US-amerikanischen Gesellschaft reduzieren.5 Krahé selbst gehört zu den optimistischen Stimmen dieses Lagers und begrüßt den Abschied von der jahrelangen neoliberalen Hegemonie im ökonomischen Denken des Westens. Andere loben zwar den allgemeinen Ansatz, anstatt auf „Trickle-Down Economics“ wieder mehr auf das breite Einkommenswachstum und nicht nur das Wohlergehen von Eliten zu setzen, kritisieren aber, dass auch das neue Paradigma immer noch zu wenig ambitioniert sei, um die Menschheitsaufgabe des Klimawandels zu bewältigen.

Wie Europas Antwort auf Bidenomics letztendlich ausfallen sollte, ist Gegenstand heftiger Debatten und wird auch die Neuausrichtung der EU-Politik beeinflussen. Bereits im Februar 2023 hatte Brüssel aus Angst vor der Abwanderung von Unternehmen die Subventionen für grüne Investitionen erhöht. Doch viele Fragen sind nach wie vor offen: Sollte Europa – gegen den Zeitgeist – an umfassenden multilateralen Freihandelsabkommen festhalten oder doch den eigenen Wirtschaftsprotektionismus ausbauen?6 Oder reichen auch gezielte, sektorspezifische Subventionen, um die Abwanderung europäischer Unternehmen in die hochdynamische US-Wirtschaft zu verhindern? Zudem herrscht in der EU Unsicherheit darüber, ob Bidenomics auch nach der Ära Biden noch Bestand haben wird und inwiefern langfristige Kompromisse und Vereinbarungen mit deutlich protektionistischeren USA zukünftig möglich sind.

Unabhängig davon, wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, macht Bidenomics deutlich: Auch wenn die USA relativ gesehen an Einfluss verlieren und China sowie andere Staaten zunehmend globale Ambitionen entwickeln, sind nach wie vor zahlreiche Länder gezwungen, die in Washington erdachte Wirtschaftspolitik zu berücksichtigen.7 Ein neuer globaler Consensus wird daraus aber wohl nicht erwachsen.

Fußnoten
7

Monica Prasad: The Politics of Free Markets. The Rise of Neoliberal Economic Policies in Britain, France, Germany, and the United States. University of Chicago Press, Chicago, Ill. 2006, ISBN 9780226679020; Christopher Kollmeyer: Trade union decline, deindustrialization, and rising income inequality in the United States, 1947 to 2015. In: Research in Social Stratification and Mobility. Band 57, 2018, S. 1–10. https://doi.org/10.1016/j.rssm.2018.07.002

Jacob M. Grumbach: Laboratories of Democratic Backsliding. In: American Political Science Review. Band 117, Nr. 3, 2023, S. 967–984. https://doi.org/10.1017/S0003055422000934; Thomas M. Flaherty und Ronald Rogowski: Rising Inequality As a Threat to the Liberal International Order. In: International Organization. Band 75, Nr. 2, 2021, S. 495–523. https://doi.org/10.1017/S0020818321000163

Bastiaan van Apeldoorn, Jaša Veselinovič und Naná. de Graaff: Trump and the Remaking of American Grand Strategy. The Shift from Open Door Globalism to Economic Nationalism. Springer International Publishing; Imprint Palgrave Macmillan, Cham 2023, ISBN 978-3-031-34691-0.

Judith Goldstein und Robert Gulotty: America and the Trade Regime. What Went Wrong? In: International Organization. Band 75, Nr. 2, 2021, S. 524–557. https://doi.org/10.1017/S002081832000065X

Insbesondere in der politischen Linken wird darüber gestritten, inwiefern Bidens Wirtschaftspolitik progressive Züge trägt. So wird in der Flaggschiff-Zeitschrift der anglophonen Linken, der New Left Review, seit geraumer Zeit diskutiert, ob Bidenomics einen Wandel vom liberalen zum sog. politischen Kapitalismus eingeläutet hat. Siehe Dylan Riley und Robert Brenner: Seven Theses on American Politics. In: New Left Review. Nr. 138, 2022, S. 5–27; Aaron Benanav: A Dissipating Glut? In: New Left Review. Nr. 140, 2023, S. 53–81; Tim Barker: Some Questions about Political Capitalism. In: New Left Review. Nr. 140, 2023, S. 35–51; Lola Seaton: Reflections on 'Political Capitalism'. In: New Left Review. Nr. 142, 2023, S. 5–27.

Die EU wird von lateinamerikanischen Ländern regelmäßig für ihre protektionistische Haltung im Bereich der Landwirtschaft kritisiert.

William Kindred Winecoff: „The persistent myth of lost hegemony,“ revisited. Structural power as a complex network phenomenon. In: European Journal of International Relations. Band 26, Nr. 1, Beilage, 2020, S. 209–252. https://doi.org/10.1177/1354066120952876

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Der Washington Consensus ist eine Sammlung von Politikempfehlungen, die in den 1980er und 1990er Jahren von den USA, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) sowie der Weltbank an Entwicklungsländer gerichtet und oft auch unter hohem politischen Druck der USA umgesetzt wurden. Der Begriff an sich wurde erstmals 1989 in einem Artikel des Ökonomen John Williamson verwendet. Die empfohlenen Reformmaßnahmen enthielten unter anderem umfassende Handelsliberalisierungen, Privatisierung, Liberalisierungen des Finanzsektors, eine ausgeglichene Haushaltspolitik sowie Inflationsbekämpfung. Der Washington Consensus entstand vor allem im Kontext der Schuldenkrise in Lateinamerika Ende der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre. Die Maßnahmen verschärften in Lateinamerika allerdings die sozioökonomische Krise und begünstigten den späteren Aufstieg anti-neoliberaler politischer Kräfte in der Region.

Unter Post-Keynesianismus werden ökonomische Ansätze zusammengefasst, die Unsicherheit, die Irrationalität von Märkten und die Einkommensverteilung in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellen. Entsprechende Ansätze bauen auf den Arbeiten von John Maynard Keynes (1883-1946) auf und entwickelten sich insbesondere in Abgrenzung zur nach wie vor dominanten neoklassischen Lehre, die ihren Modellen individuelle Nutzenmaximierung und die selbstregulierende Kraft von Märkten zugrunde legt.

Trickle-Down Economics ist ein Begriff, der als Kritik an neoliberaler Wirtschaftspolitik seit den 1980er Jahren verwendet wird. Er entstand vor allem in Auseinandersetzung mit den Steuersenkungen und Deregulierungsmaßnahmen unter Ronald Reagan (1981-89) in den USA und Margeret Thatcher (1979-90) in Großbritannien. Die Kritik besteht darin, dass derlei Maßnahmen vor allem auf das Wohlergehen von Unternehmen und Eliten setzen würden und die breite Bevölkerung, wenn überhaupt, lediglich durch das allmähliche "Durch-" bzw. "Nach-unten-Sickern" von Wohlstandsgewinnen an der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung teilhabe.

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