Klimapolitik in Europa: Ein Brandbeschleuniger für die Ungleichheit?

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Klimapolitik in Europa: Ein Brandbeschleuniger für die Ungleichheit?

»The Green Transition and its Potential Territorial Discontents«

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 19.12.2023

te.ma DOI 10.57964/9pmv-qf29

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 19.12.2023
te.ma DOI 10.57964/9pmv-qf29

Europa ist von sozialen und regionalen Ungleichheiten gekennzeichnet. Bereits jetzt schlägt sich das in einer steigenden Zahl von Protestwählern nieder, die ihrem Frust Luft machen. Den Geographen Andrés Rodríguez-Pose und Federico Bartalucci zufolge könnte sich dieser Trend zukünftig noch verschlimmern. Zahlreiche Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise könnten neue „grüne“ Ungleichheiten entstehen lassen. Die europäische Politik müsse aktiv gegensteuern.

Mit dem europäischen Grünen Deal (European Green Deal) hat die Europäische Union 2020 ein umfassendes und 600 Milliarden Euro schweres Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, das zwei Ziele verfolgt: Zum einen sollen in Europa bis 2050 keine Treibhausgase mehr ausgestoßen werden. Und zum anderen soll die EU-Wirtschaft weiter wachsen, diesmal entkoppelt vom Verbrauch fossiler Ressourcen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die darauf folgende schrittweise Selbstabkopplung Europas von Öl- und Gasimporten aus Russland hat die Dringlichkeit des Ausbaus erneuerbarer Energien noch einmal erhöht.1

Die beiden Wirtschaftsgeographen Andrés Rodríguez-Pose und Federico Bartalucci zeigen in ihrer Forschung, dass die regionalen sozioökonomischen Auswirkungen der Klimamaßnahmen in Europa hochgradig ungleich sind.2 Wirtschaftlich schwache Regionen außerhalb der städtischen Ballungszentren würden überproportional getroffen. Die politischen Konsequenzen seien fatal: Nicht nur drohe eine noch größere Ungleichheit. Auch bestehe die Gefahr, dass sich eine neue „anti-grüne Unzufriedenheit“ im politischen Bereich manifestiert.

Um zu verstehen, auf was für Gesellschaften die Maßnahmen treffen, muss man sich die wirtschaftliche Situation in Europa seit der globalen Finanzkrise von 2008 anschauen. Seitdem, so die Analyse von Rodríguez-Pose und Bartalucci, hätten sich zwar einzelne Länder wirtschaftlich gut entwickelt, z.B. Polen oder auch Deutschland. Andere Regionen, etwa Norditalien, Zentralfrankreich oder Dänemark, konnten ihren Lebensstandard halten, stagnierten aber ökonomisch. Dem stehe ein relativer Abstieg ländlicher und vormals industriell geprägter Regionen entgegen, vor allem in Südeuropa. In der Forschung wird dies als „regionale Entwicklungsfalle“ bezeichnet.3 

Auch die EU-Kommission hat den Zusammenhang zwischen regionalen Ungleichheiten und der politischen Infragestellung des europäischen Projektes erkannt und versucht intensiv, durch eine sog. Kohäsionspolitik gezielte Gegenmaßnahmen einzuleiten. Denn ohne derlei gegensteuernde Regionalpolitik droht das, was der Entwicklungsforscher Gunnar Myrdal bereits in den 1950er Jahren als „zirkulär kausalen“ Mechanismus regionaler Unterentwicklung identifiziert hat: Reiche Regionen werden reicher, arme ärmer und beide Trends verstärken sich gegenseitig.4

Um zu verstehen, wie sich der Ausstieg aus den fossilen Industrien und eine CO2-Besteuerung (direkte Maßnahmen) sowie die Umgestaltung des Arbeitsmarktes und die Umleitung von Kapitalströmen (indirekte Maßnahmen) auf die bereits jetzt hochgradig ungleichen Gesellschaften Europas auswirken, haben Rodríguez-Pose und Bartalucci einen eigenen Index entwickelt, den Regional Green Transition Vulnerability Index. Dieser misst den Grad der Verwundbarkeit einer Region durch die grüne Transition. Er bündelt Faktoren wie die Abhängigkeit von fossiler Energie, die ausgestoßenen CO2-Emissionen, Transport-, Energie- und Tourismusinfrastruktur sowie die Landwirtschafts- und Industriestruktur einer Region.

Der Befund ist glasklar: Städtische Randregionen und ländliche Gebiete sind anfälliger für sozioökonomische Rückschläge durch Klimamaßnahmen. Zwar finden sich auch relativ reiche Orte mit hoher Anfälligkeit, die bis jetzt weniger betroffen sind. Doch die an Fahrt aufnehmenden Maßnahmen gegen den Klimawandel dürften langfristig auch ihnen zu schaffen machen.

Das Interessante an der Arbeit von Rodríguez-Pose und Bartalucci ist, dass sie die Verbindung zur Politik hinter der grünen Transition herstellt.5 Denn blende man die Anliegen abgehängter Regionen aus, so ihre Warnung, könne eine verhängnisvolle, sich selbst verstärkende Dynamik entstehen: Einerseits verschlimmere sich die Lage betroffener Gebiete weiter, andererseits würde die Fähigkeit, Klimapolitik sozialverträglich zu gestalten, durch Protestwahlverhalten erschwert oder gar verunmöglicht.6 Um dies zu verhindern, müsse auf eine breite Palette an Instrumenten zurückgegriffen werden. Neben umfangreichen finanziellen und Beratungshilfen (etwa für staatliche Umschulungen oder Unterstützungsleistungen) für betroffene Regionen müssten neue Formen der Partizipation entwickelt werden, um betroffenen Regionen auch eine politische Stimme innerhalb jenes politischen Konsenses zu geben, der aktiv gegen die Klimakrise arbeitet.

Rodríguez-Poses und Bartaluccis Analyse macht somit deutlich, dass es bei der Wirtschaftspolitik hinter den Maßnahmen gegen die Klimakrise eines Umdenkens bedarf. Bisher liegt der Fokus vor allem auf der Kompensation von betroffenen Gebieten. Nimmt man die Ergebnisse der beiden Geographen jedoch ernst, müsste vielmehr nach alternativen regionalen Entwicklungsmodellen gesucht werden.7 Ein reines Ausgleichen des verloren gegangenen Wohlstands reicht nicht, um den nachhaltigen Umbau der Wirtschaft für die Breite der europäischen Bevölkerungen politisch nachhaltig zu gestalten.

Fußnoten
7

Ben McWilliams et al.: How would the European Union fare without Russian energy? In: Energy Policy. Band 174 2023, S. 113413, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0301421522006322.

Die ungleichen Auswirkungen von Klimaschutzmaßnahmen werden in der Forschung auch für außereuropäische Regionen diskutiert. Siehe Elizabeth Marino und Jesse Ribot: Adding insult to injury. Climate change and the inequities of climate intervention. Special Issue Introduction. In: Global Environmental Change. Band 22, Nr. 2 2012, S. 323–32. https://doi.org/10.1016/j.gloenvcha.2012.03.001; Ameyali Ramos-Castillo, Edwin J. Castellanos und Kirsty Galloway McLean: Indigenous peoples, local communities and climate change mitigation. In: Climatic Change. Band 140, Nr. 1, 2017, S. 1–4.  https://doi.org/10.1007/s10584-016-1873-0.

Andreas Diemer et al.: The Regional Development Trap in Europe. In: Economic Geography. Band 98, Nr. 5, 2022, S. 487–509. https://doi.org/10.1080/00130095.2022.2080655.

Gunnar Myrdal: Economic Theory and Underdeveloped Regions. Harper and Row, New York 1957.

Ian Scoones, Melissa Leach und Peter Newell (Hrsg.): The Politics of Green Transformations. Routledge Taylor & Francis Group, London, New York 2015, ISBN 978-1-138-79289-0.

Andrés Rodríguez-Pose: The revenge of the places that don’t matter (and what to do about it). In: Cambridge Journal of Regions, Economy and Society. Band 11, Nr. 1, 2018, S. 189–209. https://doi.org/10.1093/cjres/rsx024.

Amitrajeet A. Batabyal und Peter Nijkamp: Sustainable development and regional growth revisited. In: Roberta Capello und Peter Nijkamp (Hrsg.). Handbook of Regional Growth and Development Theories. Edward Elgar Publishing, Cheltenham, UK, Northampton, MA 2019, ISBN 9781788970020, S. 344–365; Markus Grillitsch und Markku Sotarauta: Trinity of change agency, regional development paths and opportunity spaces. In: Progress in Human Geography. Band 44, Nr. 4, 2020, S. 704–723. https://doi.org/10.1177/0309132519853870.

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Durch starke Deregulierung der Finanzmärkte in den USA konnten Banken immer mehr Risiken eingehen und damit hohe Gewinne erzielen. Es wurden massenhaft Kredite, insbesondere zum Kauf von Häusern, an Personen ohne finanzielle Sicherheiten vergeben. Diese Kredite wurden zu neuen Finanzprodukten gebündelt und weiterverkauft. Diese „faulen“ Kredite kamen somit in Umlauf und es entstand eine Immobilienblase, die 2008 platzte, als immer mehr Kredite nicht zurückbezahlt werden konnten.

Der Kohäsionsfond der EU wurde bereits 1994 eingerichtet. Er unterstützt EU-Mitglieder, deren Bruttonationaleinkommen pro Kopf bei unter 90 Prozent des EU-Durchschnitts liegt. Der Fonds fördert vor allem Projekte in den Bereichen Umweltschutz und Infrastruktur.

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