Europäische Souveränität auf Kosten der Demokratie?

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Stefan Auer2022
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Europäische Souveränität auf Kosten der Demokratie?

»European Disunion: Democracy, Sovereignty and the Politics of Emergency«

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 06.12.2023

te.ma DOI 10.57964/a7v1-m378

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 06.12.2023
te.ma DOI 10.57964/a7v1-m378

Seit ihrem Bestehen schien die Europäische Union aus Krisen oft gestärkt hervorzugehen. Stefan Auer sieht diese Fortschrittsgeschichte im 21. Jahrhundert an ihr Ende gekommen. Der Versuch, nationale Souveränität durch einen europäischen Superstaat zu überwinden, lasse das demokratische Versprechen der EU erodieren.

Die Diskussion um den Zustand Europas im Lichte von Pandemie, Krieg und Populismus durchzieht eine Kontroverse: Hat die EU die Kraft und die Mittel, aus den politischen und wirtschaftlichen Krisen der Zeit gestärkt hervorzugehen und damit als politisches Projekt weiterzubestehen?1 Oder führen die inneren und äußeren Zentrifugalkräfte zum langsamen, aber steten Verfall der „europäischen Gemeinschaft“ und zu einer immer größeren Dysfunktionalität der gemeinsamen Institutionen? 

Während prominente Autoren wie Luuk van Middelaar eine Union sehen, die sich durch immer besseres Improvisieren bei der Entscheidungsfindung und institutionelles Lernen in den Krisen der Gegenwart zu einem handlungsfähigen Akteur in der Weltpolitik entwickelt, lautet die Botschaft des Politikwissenschaftlers Stefan Auer anders: Das demokratische Fundament Europas habe begonnen zu erodieren. Der tiefere Grund sei in den von der EU verfolgten Lösungen für die Herausforderungen der Zeit zu suchen. Denn diese würden die Rolle und Funktionsfähigkeit von demokratisch legitimierten Nationalstaaten abwerten und damit dem „demokratischen Impuls“ des europäischen Einigungsprozesses zuwiderlaufen.

Anschauungsmaterial liefert Auers empirische tour de force durch Europas langes Krisenjahrzehnt. Mit der globalen Wirtschafts-, Euro- und Flüchtlingskrise, dem Brexit, Russlands Invasion der Ukraine und einem ungebrochenen „democratic backsliding“ in Ungarn und Polen sei die EU einer Kaskade an fundamentalen Herausforderungen ausgesetzt gewesen, die zu immer schnelleren, weitreichenderen und undemokratischeren Entscheidungen geführt habe.2 Besonders problematisch sei die Tendenz, die Lösung für die vielfachen Krisen durch mehr Supranationalismus, also die Verlagerung politischer Kompetenzen auf die europäische Ebene, erreichen zu wollen. Zwar gelinge es auf diese Weise, wie von Vertretern der Theorie des Neo-Funktionalismus in den Europastudien bereits seit den 1950er Jahren beschrieben, das institutionelle Gefüge der EU zu festigen und die Bürokratie den jeweiligen Herausforderungen der Zeit anzupassen.3 Kritiker des Ansatzes wenden jedoch ein, dass durch die Fixierung auf technische Problemlösungen die innerhalb der Nationalstaaten jahrzehntelang gefestigten demokratischen Kulturen unterlaufen werden, denn die neu geschaffenen EU-Kompetenzen und -Institutionen seien dem parlamentarischen Zugriff der Mitgliedstaaten entzogen.

Hinter Auers historischer und sozialwissenschaftlicher Frage nach den Dysfunktionalitäten der EU steht letztendlich ein Politikum: Wie verhält es sich mit der Souveränität, einem Konzept, das im 21. Jahrhundert ein – zumindest aus liberaler Perspektive – unerwartetes Comeback feiert?4 Auer stellt sich hier auf die Seite prominenter Kritiker der gegenwärtigen EU. So plädiert etwa der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Wolfgang Streeck seit Jahren dafür, den Nationalstaat und die national verfasste Demokratie gegen die Angriffe des sog. Globalismus zu verteidigen.5 Anders jedoch als Streeck, der hinter der Aufwertung der EU-Ebene vor allem neoliberale Politik am Wirken sieht, nutzt Auer den Begriff des „Souveränitätsparadoxes“ und greift hierzu auf das Denken der einflussreichen politischen Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) zurück. Diese vertrat einen „liberalen Nationalismus“ und warnte davor, die identitätsstiftende Funktion nationaler politischer Gemeinschaften zu unterschätzen.6 Das Selbstverständnis der EU hingegen, moniert Auer, baue auf dem Prinzip der „geteilten Souveränität“ (shared sovereignty) auf, demzufolge es die Herausforderungen einer immer komplexeren und vernetzteren Welt notwendig machten, Souveränität auf europäischer Ebene zu bündeln.

In der Politikwissenschaft wird geteilte Souveränität als wichtiger Bestandteil der sog. Global Governance diskutiert, also einem politischen und rechtlichen Rahmen, der von verschiedenen Institutionen, Organisationen und gesellschaftlichen Gruppen getragen wird und auf die Lösung globaler Probleme zielt.7 Geht es den Vertretern des Global-Governance-Paradigmas also in erster Linie um die bestmögliche Problemlösungskompetenz, dreht sich das Denken von Auer und seinen mitstreitenden EU-Kritikern um die demokratische Legitimität von Politik. Diese, so ihr Argument, müsse zuweilen auch gegen technisch sinnvolle Problemlösungen eingefordert und verteidigt werden.8 Technokratie und der von außen herangetragene Zwang, Entscheidungen treffen zu müssen, sollten in dieser Logik nicht gegen demokratische Prozesse ausgespielt werden.

Die Kontroverse darüber, auf welcher Ebene maßgeblich politische Souveränität in Europa zu verorten ist, hat eine praktische Dimension: Sollen mehr Entscheidungen lokal, regional, national oder doch supranational getroffen werden? Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen diesen Ebenen, etwa zwischen den energiepolitischen Entscheidungen der EU-Kommission und den Kommunen, die die beschlossenen Maßnahmen umsetzen müssen? Derlei Fragen sind hochpolitisch, geht es doch den betroffenen Akteuren nicht nur um „gute und stabile Lösungen“, sondern auch um die Verteidigung ihrer wirtschaftlichen und politischen Ressourcen. Das Ergebnis, wie auch Auer betont, sind konkurrierende Souveränitätsvorstellungen, die von der EU als einem wohlwollenden und demokratischen Imperium bis hin zum Rückzug ins Nationale oder Lokale reichen.9 Im Falle des Brexit und des sich anschließenden Konflikts zwischen Großbritannien und der EU hat sich gezeigt, welche erheblichen politischen Auswirkungen und Kosten die Umsetzung bestimmter Souveränitätsansprüche haben kann.10

Im Hinblick auf die Zukunft des europäischen Projekts ist Auer pessimistisch: Russlands Krieg gegen die Ukraine habe die Risse in der EU noch einmal verstärkt – zwischen supranationalen Technokraten und Vertretern territorial begrenzter Demokratien, zwischen Mittel- und Osteuropa sowie zwischen dem politischen Anspruch der EU in ihrer Nachbarschaft und den Möglichkeiten seiner Umsetzung. Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2024 werden zeigen, ob sein Pessimismus angebracht ist.

Fußnoten
10

Glyn Morgan unterscheidet zwischen dem politischen Projekt, dem Prozess sowie den Outcomes der europäischen Integration. Siehe Glyn Morgan: The Idea of a European Superstate. Public Justification and European Integration. Princeton University Press, Princeton 2007, ISBN 9780691134123.

Nick Sitter und Elisabeth Bakke: Democratic Backsliding in the European Union. In: William R. Thompson (Hrsg.). Oxford Research Encyclopedia of Politics. Oxford University Press, New York 2014-, ISBN9780190228637; David Waldner und Ellen Lust: Unwelcome Change: Coming to Terms with Democratic Backsliding. In: Annual Review of Political Science. Band 21, Nr. 1, 2018, S. 93–113. http://doi.org/10.1146/annurev-polisci-050517-114628; Licia Cianetti, James Dawson und Seán Hanley (Hrsg.): Rethinking 'democratic backsliding' in Central and Eastern Europe. Routledge, London 2020, ISBN 9780429559815.

Ernst Haas: Uniting of Europe. Political, Social, and Economic Forces, 1950-1957. University of Notre Dame Press, Notre Dame, IN 1958, ISBN 0-268-04346-9.

Paul B. Richardson: Sovereignty, the Hyperreal, and “Taking Back Control”. In: Annals of the American Association of Geographers. Band 109, Nr. 6, 2019, S. 1999–2015. https://doi.org/10.1080/24694452.2019.1587283.

Wolfgang Streeck: Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus. Suhrkamp, Berlin 2021, ISBN 9783518766279.

Hannah Arendt: Menschen in finsteren Zeiten. Piper, München 1989, ISBN 9783492033602.

Thomas G. Weiss und Rorden Wilkinson: Rethinking Global Governance. Polity Press, Cambridge, Medford, MA 2019, ISBN 1509527273.

Siehe für eine konflikttheoretische Kritik am Paradigma der Global Governance Klaus Schlichte: Der Streit der Legitimitäten. Der Konflikt als Grund einer historischen Soziologie des Politischen. In: Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung. Band 1, Nr. 1, 2012, S. 9–43. http://dx.doi.org/10.5771/2192-1741-2012-1-9.

Glyn Morgan: Is the European Union imperialist? In: Journal of European Public Policy. Band 27, Nr. 9, 2020, S. 1424–1440. https://doi.org/10.1080/13501763.2020.1786597.

Christopher S. Browning: Brexit populism and fantasies of fulfilment. In: Cambridge Review of International Affairs. Band 32, Nr. 3, 2019, S. 222–224. https://doi.org/10.1080/09557571.2019.1567461.

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Technokratie bezeichnet eine Herrschaftsform, die davon ausgeht, dass eine Gesellschaft durch den Rückgriff auf wissenschaftliches und technisches Wissen regiert und verwaltet werden kann. Technokratie richtet sich somit gegen eine Vorstellung von Politik, die auf Interessen und Ideologie beruht.

Supranationalismus bezeichnet ein Prinzip von Herrschaft, bei dem die Autorität über Entscheidungen eine Ebene über den Nationalstaaten liegt. Üblicherweise, wie im Fall der EU, wird diese Autorität von einer Organisation oder einem Set von Institutionen ausgeübt.

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