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Entscheidungszwang: Wie Improvisation die EU handlungsfähiger macht

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Luuk van Middelaar2020
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Entscheidungszwang: Wie Improvisation die EU handlungsfähiger macht

»Alarums & Excursions. Improvising Politics on the European Stage«

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 28.09.2023

te.ma DOI 10.57964/1bmg-km02

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 28.09.2023
te.ma DOI 10.57964/1bmg-km02

Der Historiker Luuk van Middelaar sieht die Europäische Union am Scheideweg: 70 Jahre lang habe sie sich auf den Ausbau des Binnenmarktes konzentriert. Die Gegenwart konfrontiere die EU jedoch mit Krieg, neuen wirtschaftlichen Konflikten und Entscheidungszwängen. Ein Wandel habe eingesetzt – von der technokratischen Politik der Regulierung zu einer robusten Krisenpolitik des Improvisierens.

Seit der Veröffentlichung seines Hauptwerks Vom Kontinent zur Union – Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa (2016) gehört van Middelaar zu den meistdiskutierten und -kritisierten Beobachtern der europäischen Integration.1 Sein zweites, 2020 erschienenes Europa-Buch Alarums & Excursions. Improvising Politics on the European Stage beschäftigt sich ausführlich mit den politischen Entwicklungen, die die EU seit den 2010er Jahren genommen hat. Wo andere der Gemeinschaft, geplagt von Dysfunktionalität und immer größeren Herausforderungen, den Weg in den Untergang prophezeien,2 sieht van Middelaar zwar keinen Grund für Optimismus – aber doch eine Union, die politisch lernfähig ist, notwendige Reformen angeht und zunehmend selbstbewusstere Entscheidungen trifft. 

Wie kommt man in Anbetracht einer nach wie vor anhaltenden Serie von Krisen, die mit der Globalen Finanzkrise 2008 begann, zu einer solchen Einschätzung? Van Middelaars Denken kreist um eine Reihe von Begriffen, die man verstehen muss, um wie er in den vielen Umbrüchen der Gegenwart eine positive Weiterentwicklung der EU zu erkennen. Akzeptiert man jedoch diese Perspektive für einen Moment, so werden Prozesse des Wandels sichtbar, die anderen Deutungsangeboten entgehen.

Die wichtigste Veränderung der EU-Politik seit den 2010er Jahren beschreibt van Middelaar als Wandel von der „Politik der Regulierung“ zur „Politik der Ereignisse“ (event-politics). Traditionell habe sich die EU auf die Ausgestaltung des „regulatorischen Staates“ beschränkt: Wie können der Binnenmarkt vertieft, das europäische Bildungssystem harmonisiert, Gelder zwischen reichen und armen Regionen umverteilt werden? Statt harter Eingriffe seien Verrechtlichung und (De-)Regulierung die Mittel der Wahl gewesen.3

Die Eurokrise der Jahre 2010 bis 2012, der Konflikt um die Ukraine 2013 bis 2015, die Flüchtlingskrise 2015 und die „atlantische Krise“ in Form von Donald Trump und dem Brexit seit 2016 hätten nun aber dafür gesorgt, dass von der EU mehr verlangt werde als die der Alltagspolitik enthobene Verwaltung von Waren, Personen und Dienstleistungen. Immer mehr einschneidende, transformative Ereignisse, die der Historiker William H. Sewell Jr. als Dinge, Taten und Handlungen beschrieben hat, die den „Lauf der Geschichte verändern“4, würden der EU zunehmend harte Entscheidungen abfordern. 

Damit hänge eine zweite Veränderung zusammen. Die DNA der EU, so van Middelaar, beruhe seit jeher auf der Entpolitisierung von Entscheidungen, die meist in langen, mehrtägigen Sitzungen im Europäischen Rat unter den Regierungschefs ausgehandelt werden. Zwar gehören schlaflose Nachtsitzungen nach wie vor fest zum Instrumentarium Brüsseler Politik, allerdings würden die Krisenentscheidungen des 21. Jahrhunderts die Gesellschaften der Mitgliedstaaten zunehmend politisieren. Das ist van Middelaar zufolge nichts Schlechtes. Vielmehr zeige es, dass sich Europäer zunehmend als politische Gemeinschaft verstünden. Dass die Brüsseler Entscheidungen so kontrovers diskutiert werden, wirke politisch integrierend.5

Bringen also Entscheidungszwang und Politisierung das europäische Projekt voran? Im Hintergrund scheint hier der Geist des umstrittenen Juristen und politischen Philosophen Carl Schmitt mitzuschwingen, für den Dezisionismus, also die Unausweichlichkeit von Entscheidungen, zum Wesenskern des Politischen gehört.6 Doch im Gegensatz zu Schmitts Vision eines autoritären Führerstaates sieht der Liberale van Middelaar, der selbst von 2010 bis 2014 als Chef-Redenschreiber und enger Berater des Präsidenten des Europäischen Rates Herman Van Rompuy die Politik der EU von innen erlebte, in diesen Entwicklungen demokratisches Potenzial.7

So spiele der Europäische Rat mittlerweile bei allen wichtigen Entscheidungen „die erste Geige“. Und das sei aus demokratischer Perspektive auch zu begrüßen, denn nur er habe die Autorität und Legitimität, vermittelt über die gewählten Regierungschefs, im Namen aller Europäer zu sprechen. Da der Rat seit Beginn der 2010er Jahre immer weitreichendere Entscheidungen treffe, gleichzeitig aber auch das Europäische Parlament gestärkt worden sei, entfalteten sich nun erstmals wirkliche demokratische Konflikte innerhalb der EU-Institutionen.8 Diese drehten sich nicht mehr um die EU an sich, sondern um deren konkrete Politiken. So habe der Europäische Rat mittlerweile die Rolle einer kritisierbaren Regierung inne. Die von außen herrührende Notwendigkeit harter Entscheidungen und die interne Politisierung der EU hängen für van Middelaar demnach eng zusammen.

Denn die pragmatische Entscheidungsfindung im Angesicht neuartiger Krisen – van Middelaar nennt dies Improvisation – mute den europäischen Öffentlichkeiten einiges zu. Europas Demokratien stünden jedoch nicht kurz vor dem Zusammenbruch, sondern würden es im Gegenteil erst ermöglichen, dass die sozialen und politischen Konflikte sichtbar werden, die die Entscheidungen der EU verursachten. Dissens, Opposition und Protest gegen das Missmanagement der Euro-Krise, den Umgang mit Migration und die Positionierung der Union gegenüber Russland und China sieht van Middelaar als Zeichen der Wiederbelebung europäischer Politik nach Jahrzehnten der Technokratie.

Kritiker wenden hingegen ein, dass der Fokus van Middelaars auf die Entscheidungsfähigkeit der EU problematische Entwicklungen innerhalb der Gemeinschaft ausblende. Diese würden durch eine Re-Politisierung der europäischen Öffentlichkeit vielleicht sichtbarer, seien dadurch aber noch lange nicht behoben. 

Tatsächlich sind es gerade die tiefen wirtschaftspolitischen Konflikte, deren destruktives Potenzial van Middelaar möglicherweise unterschätzt. Der Anfang der 2010er Jahre denkbare Ausstieg Griechenlands aus der Eurozone oder die Verhandlungen über ein Post-Brexit-Abkommen sind nur zwei Beispiele, die die Union in den vergangenen Jahren immer wieder an den Rand der Handlungsfähigkeit gebracht haben. Zu den strukturellen Problemen der Eurozone haben sich mittlerweile noch eine humanitäre Dauerkrise an den europäischen Außengrenzen sowie ein Hinterherhinken Europas gegenüber den USA und China bei Zukunftstechnologien und Industriepolitik gesellt. Somit ist fraglich, ob van Middelaars Appell an die europäischen Gesellschaften für „mehr Verständnis gegenüber den Entscheidungen der Union“ ausreicht, um die EU tatsächlich als globalen Player aufzustellen.

Fußnoten
8

Als einer der härtesten und hartnäckigsten Kritiker van Middelaars hat sich der langjährige Herausgeber (1962–1982, 2000–2003) der New Left Review und marxistische Historiker Perry Anderson erwiesen. Siehe Perry Anderson: The European Coup. In: London Review of Books. Band 42, Nr. 24, 2020. Perry Anderson: Ever Closer Union? In: London Review of Books. Band 43, Nr. 1, 2021.

Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Suhrkamp, Berlin 2015, ISBN 9783518297339 ; Stefan Auer: European Disunion. Democracy, Sovereignty and the Politics of Emergency. Hurst & Company, London 2022, ISBN 9780197683460 .

Giandomenico Majone: The rise of the regulatory state in Europe. In: West European Politics. Band 17, Nr. 3 1994, S. 77–101. https://doi.org/10.1080/01402389408425031

William H. Sewell Jr.: Three Temporalities. Toward an Eventful Sociology. In: William H. Sewell Jr. (Hrsg.). Logics of History. Social Theory and Social Transformation. University of Chicago Press, Chicago 2005, S. 81–123, ISBN 9780226749181 .

Sara B. Hobolt und Catherine E. de Vries: Public Support for European Integration. In: Annual Review of Political Science. Band 19, Nr. 1, 2016, S. 413–432. https://doi.org/10.1146/annurev-polisci-042214-044157 . Die integrierende Funktion sozialer Konflikte beschreibt Lewis A. Coser: The Functions of Social Conflict. Free Press of Glencoe, New York 1964, ISBN 0-02-906810-X .

Carl Schmitt: Politische Theologie: Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Duncker & Humblot, München/ Leipzig 1922.

Zur Kritik exekutiver EU-Entscheidungsfindungen in Krisenzeiten siehe Christian Kreuder-Sonnen: Beyond Integration Theory. The (Anti-)Constitutional Dimension of European Crisis Governance. In: JCMS: Journal of Common Market Studies. Band 54, Nr. 6, 2016, S. 1350–1366. https://doi.org/10.1111/jcms.12379 

Johannes Müller Gómez, Wolfgang Wessels und Johannes Wolters: The European Parliament and the European Council. A Shift in the Balance of Power? In: Olivier Costa (Hrsg.). The European Parliament in Times of EU Crisis. Dynamics and Transformations. Palgrave Macmillan, Cham 2019, S. 53–76; Richard Corbett: The Evolving Roles of the European Parliament and of National Parliaments. In: Andrea Biondi (Hrsg.). EU Law After Lisbon. Oxford University Press, Oxford 2012, S. 248–262, ISBN9780199644322. https://doi.org/10.1093/acprof:oso/9780199644322.003.0012  

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