War die Nato-Osterweiterung die Hauptursache für Russlands Überfall auf die Ukraine und ist diese Konfrontation in Wirklichkeit ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen? Sind es vielmehr innerrussische Faktoren wie etwa der vom Osteuropahistoriker Martin Aust betonte russische Wunsch nach Re-Integration des ehemals imperialen Raums, die die Kriegsentscheidung bedingten? Oder machte das Scheitern des
Die ukrainischen Psychologieprofessoren Serhey Harkavets und Sergey Yakovenko analysierten 2014 den sich zuspitzenden Konflikt zwischen Moskau und Kiew als ein psycho-emotionales Phänomen, das aus dem Gefühl einer tiefen Kränkung
Auf der ersten Ebene empfinden die Menschen in Russland Groll darüber, dass die „undankbaren“ Ukrainer sich von ihnen ab- und dem Westen zuwenden, indem sie Teil Europas und nicht der sogenannten „
Durch psychologische Mechanismen wie Suggestion und Nachahmung samt entsprechender Kommunikationsmittel kann die Kränkung vom individuellen zum gesamtgesellschaftlichen Phänomen werden. So sei der Ärger Putins und anderer russischer Politiker gegenüber den Menschen in der Ukraine durch eine konstante anti-ukrainische Berichterstattung im russischen Fernsehen für viele Russinnen und Russen auch zu ihrer persönlichen Kränkung geworden.
Auf der zweiten Ebene ruft es laut Harkavets und Yakovenko in den Ukrainern Unmut hervor, dass Russland sich das Recht anmaßt, schicksalhafte Entscheidungen für sie treffen zu wollen. Der Groll gegen die Russen rührt daher, dass diese ihre Souveränität nicht akzeptieren und nicht verstehen wollen, dass die Ukraine ihre eigene Geschichte hat. Diese ist zwar mit der Geschichte Russlands verflochten, geht aber weit darüber hinaus. Obwohl Kyjiw als die Mutter aller russischen Städte gilt, ist es die Hauptstadt eines anderen Landes, und obwohl man dort oft Russisch hört, ist es keine russische Stadt. Die Ukrainer haben ihre eigene Sprache und Kultur und bestehen darauf, ihre eigene Identität zu bilden.
Die gegenseitigen Ressentiments zeigen sich, so die beiden Autoren, nicht nur im bewaffneten Konflikt im Donbass, sondern auch an den intensiven Kämpfen im Internet, wo Beleidigungen, Spott und Drohungen ausgetauscht werden – Russen gegen Ukrainer und umgekehrt. Es komme zu einer völligen Entmenschlichung der gegnerischen Seite. Das Ergebnis: Konstruktiver Dialog sei kaum möglich und die unversöhnliche Konfrontation zwischen den Bürgern beider Länder vertiefe sich.
Die Wissenschaftler kommen zum Schluss, dass eine vollständige Vergebung oder zumindest eine formale Versöhnung der Parteien notwendig sei, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Andernfalls, so ihre warnende Prognose von 2014, sei eine Konfrontation bis zur völligen Zerstörung einer der beiden Konfliktparteien unvermeidlich. Der russisch-ukrainische Konflikt sei auch Teil eines neuen Kalten Krieges, der von einem hybriden Krieg zu einem Dritten Weltkrieg oder einem Atomkrieg zu eskalieren drohe.
Mit Stand von heute ist das düstere Szenario eingetreten, vor dem Harkavets und Yakovenko in ihrem gemeinsamen Artikel eindringlich gewarnt hatten. Von einer Versöhnung, geschweige denn Vergebung, sind beide Länder heute so weit entfernt wie nie zuvor. Für die Zeit nach dem Krieg können die im Text geäußerten Gedanken dennoch einen Orientierungsansatz bei der Aufarbeitung der Kriegskatastrophe und der graduellen Wiederherstellung der gesellschaftlichen Kontakte zwischen Russland und der Ukraine bieten. Denn Sensibilität und Verständnis für kulturell-psychologische Mechanismen hinter einer Konfliktsituation sind wichtige Voraussetzungen für eine nachhaltige Konfliktlösung.