SPECIAL INPUT: Lizaveta Lysenka

Belarussische Musik in Zeiten des Krieges

Seit den 1980er Jahren wird untersucht, wie populäre Musik als Mittel zur Konstruktion und Ausübung kollektiver Identitäten genutzt wird. Musik dient als politischer Raum zur Repräsentation, zum Ideentransfer und zur Selbstvergewisserung der Gemeinschaft. Lizaveta Lysenka untersucht in ihrem Beitrag, welche Auswirkungen die politische Repression in Belarus auf die belarussische Musikszene hat. Diese ist gezwungen, zwischen Emigration oder Assimilation an Russland zu wählen und ihr bürgerliches Engagement zu verteidigen.

Ukraine: Krieg

Seit den 1980er Jahren wird untersucht, wie populäre Musik als Mittel zur Konstruktion und Ausübung kollektiver Identitäten genutzt wird. Musik dient als politischer Raum zur Repräsentation, zum Ideentransfer und zur Selbstvergewisserung der Gemeinschaft. Es ist auch ein wirtschaftliches Feld mit spezifischen Beziehungen zwischen Künstlern und Publikum. In Belarus hat Musik bei den nationalen Protesten im Jahr 2020 eine wichtige Rolle gespielt und beeinflusste auch die Konstruktion der nationalen Identität während der Sowjetära. Der Krieg in der Ukraine und die politische Repression in Belarus haben Auswirkungen auf die belarussische Musikszene, die gezwungen ist, zwischen Emigration oder Assimilation an Russland zu wählen und ihr bürgerliches Engagement zu verteidigen.

Im Februar 2023 veröffentlichte Siarhei Budkin, der Vorsitzende der belarussischen Kulturrada, eine „schwarze Liste“ von Musikern, deren Lieder bei Veranstaltungen der offiziell registrierten Kultureinrichtungen in Belarus nicht gespielt werden dürfen. Solche Listen sind keine neue Praxis – die ersten „schwarzen Listen“ für belarussische Musiker erschienen bereits kurz nach Lukaschenkos Machtübernahme. In der UdSSR gab es ähnliche Verbote für Musiker, die „antisowjetische Ideen“ verbreiteten. In Belarus beziehen sich die Verbote jedoch nicht auf den Inhalt der Texte oder die Ästhetik, sondern ausschließlich auf die politische Haltung der Musiker. Die belarussische „schwarze Liste“ von Musikern zeigt den Stand der Musikindustrie in Russland, Belarus und der Ukraine sowie die sich verändernde Kulturlandschaft in diesen Ländern. Sie zeigt auch das Ausmaß des russischen Einflusses auf den kulturellen Apparat von Belarus.

Die in der Liste genannten Namen lassen sich in vier Gruppen einteilen: 

  • Ukrainische und russische Musiker, die sich aktiv gegen den Krieg oder gegen das belarussische Regime aussprachen 

  • Belarussische Rockmusiker, die in den vergangenen Jahren auf der schwarzen Liste standen 

  • Belarussische Popmusiker, die mit dem Staat kooperierten, aber 2020 ihre Position änderten 

  • Belarussische Musiker, die immer noch mit dem Staat kooperieren und Russland im Krieg unterstützen (es gibt nur wenige von ihnen, und sie wurden wahrscheinlich versehentlich in die Liste aufgenommen). 

Für die Zensoren spielen Genre und Popularität der Künstler keine Rolle. Sogar die belarussische Kult-Punkrockband Neuro Dubel wurde aufgelistet, obwohl die Band nach dem Tod der beiden Sänger 2018 und 2020 praktisch nicht mehr existiert. Lady Gaga und Cher sind ebenfalls auf der Liste, aber als Ausnahmen. Sie sind die einzigen westlichen Künstlerinnen auf der Liste. Dies könnte ein Beweis dafür sein, dass die Liste mit Blick auf russische Beamte erstellt wurde, da sich Lady Gaga und Cher öffentlich für die Ukraine ausgesprochen, aber sich nicht zur politischen Lage in Belarus geäußert haben. Diese Entscheidung bestätigt, dass die ästhetischen Merkmale der Musik für die Behörden keine Rolle spielen. Musiker werden willkürlich unter das Verbot gestellt, unabhängig von ihren künstlerischen Ausdrucksformen. Dazu ist die Liste nicht vollumfassend: Es gibt mehrere regierungskritische Musiker, die nicht erwähnt wurden, obwohl sie de facto auch nicht mehr auftreten können in Belarus.

Belarussische Musiker und ihre Unterstützung für die Ukraine: Emigration oder Gefängnis

Viele belarussische Musiker haben sich nicht nur zur Unterstützung der belarussischen Proteste, sondern auch gegen die militärische Aggression Russlands in der Ukraine ausgesprochen. Diese Haltung setzt die Künstler täglich einem Risiko aus, wenn sie in Belarus bleiben, was oft eine Auswanderung in die EU-Länder erforderlich macht. Leider gibt es viele Beispiele dafür, wie die Unterstützung der Ukraine für belarussische Musiker zu einer großen Gefahr wird. Etwa die Sängerin Meriam Gerasimenko, die für das Singen des ukrainischen Widerstandsliedes Obijmy („Umarme mich“) von Okean Elzy in einer Bar zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Sogar erfolgreiche Künstler wie die Mitglieder der Band Litesound, die Belarus beim Eurovision Song Contest 2012 vertraten, und die Autoren der Protesthymne „Wir sind Belarussen“ der Rockband TOR BAND sitzen derzeit im Gefängnis. Viele belarussische Musiker haben sich deshalb für ein Leben im Exil entschieden, und die musikalische Unterstützung für die Ukraine ist daher hauptsächlich in den Aktivitäten von Künstlern in der Diaspora zu finden. Dabei handelt es sich bei der musikalischen Unterstützung meist gerade nicht um Lieder, sondern um Geldsammlungen zur Unterstützung ukrainischer Stiftungen bei Konzerten, kollektive oder individuelle Stellungnahmen in den sozialen Medien und bei Konzerten sowie die Aufführung von Coversongs ukrainischer Künstler.

TOR Music Band: „Wir sind Belarussen“

Obwohl es in Belarus kaum Antikriegslieder gibt, die die protestierenden Belarussen im Kampf vereinen, wie es ukrainische Lieder tun, haben belarussische Musiker dennoch Wege gefunden, ihre Solidarität auszudrücken. Ein weiterer Aspekt ist die schwierige moralische Situation der Belarussen. Während Belarus am Krieg teilnimmt und die belarussischen Behörden die russische Invasion unterstützen, drücken belarussische Musiker nicht nur ihre Solidarität mit der Ukraine aus, sondern fühlen sich auch schuldig für die Aktionen ihres Landes. Aus diesem Grund helfen ihnen Covers oder neue Versionen alter Lieder, ihren Standpunkt darzulegen. Lavon Volski, einer der bekanntesten Rockmusiker des Landes, der seine musikalische Karriere noch in der UdSSR begann, nahm eine belarussische Version des Liedes Where Have All the Flowers Gone auf. Das ursprüngliche Lied wurde 1955 von Pete Seeger geschrieben und als Antikriegshymne begriffen, auch durch Marlene Dietrichs Darbietung des Liedes in deutscher Sprache. Diese musikalische Aussage ist eindeutig und löst den moralischen Konflikt zwischen Solidarität und Schuld auf. Eine andere Lösung dieses Konflikts bietet das Lied Herojam Slava („Ruhm den Helden“) in ukrainischer Sprache, das von der ersten Generation belarussischer Rockmusiker aufgenommen wurde, darunter Volski. Ein weiteres Beispiel ist die Indie-Band Navi Band, die ihren Song Biazhy („Renn“) aus dem Jahr 2017 mit der ukrainischen Sängerin TAYANNA neu aufgenommen und einige Strophen ins Ukrainische übersetzt hat. Sie haben auch kurz nach Kriegsbeginn eine Coverversion von Obijmy von Okean Elzy aufgenommen. Das Lied gilt in den Zeiten des Krieges in der Ukraine als Ausdruck der Hoffnung, da es mit den Wörtern „Eines Tages wird der Krieg vorbei sein“ beginnt. Die ukrainische Sprache war auch eine Möglichkeit für die Rockband J:MORS, ihre Solidarität auszudrücken, indem sie ihren Song Nie Pamirai („Stirb nicht“) ins Ukrainische übersetzte.

Die Gruppen, die in Belarus seit langem verboten sind und der alternativen oder „Untergrund“-Szene angehören, finden am leichtesten die Worte, um ihren Standpunkt zum Ausdruck zu bringen. Rockmusiker im Exil treten aktiver auf und sammeln Geld zur Unterstützung der Streitkräfte der Ukraine. Im Jahr 2020 wurden die Proteste auch von einigen staatlich geförderten Popmusikern unterstützt, die ihre Karriere und die Möglichkeit, an staatlichen Veranstaltungsorten und bei offiziellen Anlässen aufzutreten, aufs Spiel setzten. Im Gegensatz zu Rockmusikern haben sie in Russland noch ein Publikum, wo sie seit ihrer Auswanderung bevorzugt auftreten.

Estrada: Sowjetisches Erbe als russische Propaganda

Belarussische Musiker treten nicht nur bei Konzerten zur Unterstützung der Ukraine auf, sondern auch bei solchen, die von der russischen Regierung organisiert werden, um die Militäraktionen in der Ukraine zu popularisieren und zu rechtfertigen. Die meisten dieser Musiker gehören einem bestimmten Pop-Genre an – der Estrada, der staatlich geförderten Unterhaltungsmusik. Im Gegensatz zur alternativen Szene ist die Estrada gut institutionalisiert. Es gibt in Belarus zahlreiche Formen der Ausbildung in der „Estradakunst“ sowie staatliche Wettbewerbe, an denen Musiker teilnehmen können, um durch Auftritte im staatlichen Fernsehen und Radio sowie Konzerte in kleineren Städten an Popularität zu gewinnen. Die Texte und Musik für diese Musiker werden oft von professionellen Songwritern geschrieben, und erfolgreiche Popmusiker werden oft zu Sprachrohren der Staatsideologie.

Vor 2020 sangen diese Musiker in der Regel patriotische Lieder mit Refrains wie „Belarus ist stark, Belarus ist schön“ oder „I love Belarus“. Im Jahr 2020 traten sie jedoch bei Kundgebungen und Konzerten zur Unterstützung von Lukaschenko auf. Die Ausrichtung der belarussischen Behörden auf Russland hat dazu geführt, dass staatliche Musiker bei Konzerten in Russland zur Unterstützung der russischen Soldaten auftreten und die Einheit von Belarus und Russland als „brüderliche Nationen“ beschwören.

Anastasiya Vinnikova: „I love Belarus“

Als Reaktion auf die Kritik an diesen Auftritten führen sie zwei Argumente an, die auf der Kulturpolitik von Lukaschenkos Belarus beruhen: Zum einen wird davon ausgegangen, dass Musik „außerhalb der Politik“ steht und dazu dient, den einfachen Hörer zu erfreuen und zu unterhalten, obwohl sie auch bei politischen Veranstaltungen gespielt wird. Zum anderen wird argumentiert, dass Russland, insbesondere Moskau, ein kulturelles Zentrum ist, in dem ein Auftritt ein großer Erfolg ist. Das Narrativ, dass Moskau das kulturelle Zentrum des postsowjetischen Raums ist, wurde vom Lukaschenko-Regime aktiv unterstützt.

Interessanterweise treten einige der Estrada-Künstler auch in einem nostalgischen Modus auf: Die Gruppe Belorusskije Pesnjary, die nach der Auflösung der legendären sowjetischen Pop-Band Pesnjary gegründet wurde, trat 2022 im russischen Fernsehen mit Liedern aus den 1980er Jahren auf. Die Zuhörer assoziieren diese Lieder oft mit der blühenden Zeit der Stabilität und des Wohlstands des Spätsozialismus, wie er in den zeitgenössischen russischen Nostalgiemedien – vor allem im TV und in Museen1 – dargestellt wird.

Die Form der Estrada selbst ist bis zu einem gewissen Grad nostalgisch und trägt zu der für das russische Regime charakteristischen Haltung gegenüber der Vergangenheit bei – einerseits verweist sie auf sowjetische Praktiken und Realitäten, die einem großen Teil der Bevölkerung vertraut sind, hat aber andererseits nichts mit der ideologischen Bedeutung dieser sowjetischen Praktiken zu tun und bewahrt nur ihre Form.

Die Position der Nicht-Wahl

Die Notwendigkeit, in jedem Fall eine Meinung zu vertreten, die wichtiger ist als eine musikalische Aussage, führt zu einem Konflikt mit dem Publikum für Künstler, die auf dem russischen Musikmarkt operieren. Aufgrund der Zentralisierung der Musikindustrie in der UdSSR blieb Moskau der Ort, an dem Musiker aus den postsowjetischen Ländern Geld verdienen und berühmt werden konnten. Der russische Musikmarkt war und ist immer noch der größte Markt im postsowjetischen Raum, während eine Ausrichtung auf den europäischen Markt für Musiker aus den postsowjetischen Ländern keinen Sinn ergibt, da sie dort kaum mit europäischen und amerikanischen Künstlern konkurrieren können. Allerdings traten viele belarussische Musiker nach 2014 sowohl in der Ukraine als auch in Russland auf, und nun sind beide Märkte geschlossen oder an Wertentscheidungen gebunden. 

Ein Beispiel für den Konflikt zwischen politischer Haltung und wirtschaftlichen Interessen auf dem Musikmarkt sind die bekannten belarussischen Musiker Max Korzh und Oleg LSP. Beide sind russischsprachige Hip-Hop-Künstler, die ihren belarussischen Hintergrund pflegen. Sie betonen damit ihr Image als ehrliche und direkte Typen, die bei Null angefangen haben, aber erfolgreich wurden. Ihre Lieder in russischer Sprache über die Probleme des Lebens und die alltäglichen Erfahrungen können überall dort verstanden werden, wo Russisch gesprochen wird. Beide Künstler hatten vor dem Krieg in Russland und der Ukraine eine große Fangemeinde und gaben Konzerte vor rund 35.000 Menschen. Ihr Image beruht auf ihrer Authentizität: Sie kommunizieren informell und direkt mit ihren Fans und zeigen, dass sie zugängliche Menschen sind, die die gleichen Emotionen wie ihre Fans teilen. Als die russische Invasion begann, verurteilten beide Musiker die militärische Aggression Russlands. Im Gegensatz zu Estrada-Künstlern, die sich angeblich aus der Politik heraushalten, legt ein authentisches Image nahe, dass Prominente eine Meinung zu wichtigen öffentlichen Themen haben sollten. Max Korzh forderte das belarussische Militär auf, die mögliche Offensive in der Ukraine aufzugeben, während Oleg LSP den Erlös seines Liedes Uragany („Wirbelstürme“) zur Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge spendete und in der Präambel des Musikvideos sein Mitgefühl für die Ukrainer und seine Verurteilung des Krieges zum Ausdruck brachte. Max Korzh veröffentlichte auch das Lied Swoj Dom („Sein Zuhause“) mit dem Refrain „Der Frühling weint, die Ukraine brennt ... Hey, Bruder, wir kennen unser Schicksal nicht, aber wer sein Zuhause verteidigt, hat Recht“. Obwohl es kein Musikvideo dazu gab, wurde das Lied auf YouTube 9,2 Millionen Mal aufgerufen, und Hörer aus der Ukraine, Russland und Belarus dankten dem Musiker in den Kommentaren für seine ehrliche Aussage. Beide Musiker sagten ihre Konzerttourneen in Russland nach Kriegsbeginn ab, und sowohl Max Korzh als auch Oleg LSP erhielten ein Auftrittsverbot in Belarus. 

Oleg LSP: „Uragany“

Allerdings scheint die Position der beiden Musiker nicht endgültig zu sein. Im Herbst 2022 trat Oleg LSP weiterhin in Russland auf, kündigte diese Konzerte jedoch nicht öffentlich an. Er wurde von Belarussen und Ukrainern für diese Entscheidung kritisiert und erwähnte in den sozialen Netzwerken nicht mehr den Krieg oder Aktionen zur Unterstützung der Ukraine. Er arbeitete auch weiterhin mit russischen, nicht aber mit ukrainischen Musikern zusammen. Die Entscheidung des Künstlers war wirtschaftlich motiviert: Der russische Markt bleibt für ihn die einzige Möglichkeit, seine Karriere fortzusetzen. Eine Neuformatierung für die Diaspora in europäischen Ländern ist weniger rentabel als ein Kompromiss und die Fortsetzung der Auftritte in Russland.

Max Korzhs Position wurde von ukrainischen Zuhörern als oberflächlich kritisiert, da seine Aussagen auf Instagram sowie seine Songtexte Raum für Interpretationen lassen. Korzh bezeichnet Russland nicht als Aggressor und nennt auch nicht die Konfliktparteien. Seine Sympathie steht der Position „der Krieg hat die brüderlichen Völker gespalten“ nahe, die auch in der russischen Propaganda ausgenutzt wird. Gleichzeitig hat Max Korzh die Möglichkeit verloren, in Russland, Belarus und der Ukraine aufzutreten, und war in letzter Zeit in den Medien wenig präsent. Ob er in der Lage sein wird, sich der Musikszene der belarussischen Diaspora anzuschließen oder seine musikalische Karriere wieder aufzunehmen, bleibt abzuwarten.

Belarussische Musik über Belarus: sich selbst bewahren

Die belarussische Musikerin Svetlana Ben singt auf ihrem Ende 2022 in Berlin erschienenen Album: „Um zu überleben, muss ich alles vergessen (...), vergessen, um nicht zu leiden – das scheint nicht möglich.“ Das zentrale Thema der Reflexion in der belarussischen Musik ist der Zwang, die Heimat zu verlassen, das Trauma einer brutal unterdrückten Revolution und einen ermordeten Traum von Freiheit zu bewältigen. Bei jedem Protestmarsch und jeder Kundgebung im Herbst 2020 wurden regelmäßig Lieder gespielt, doch fast alle der beliebtesten Lieder wurden vor 2020 geschrieben. Zu dieser Zeit besannen sich die Belarussen auf ihre Protesterfahrungen und die Kulturgeschichte ihres Landes und aktualisierten die Lieder, die zuvor geschrieben worden waren. Neue Lieder entstanden erst 2021-2022 infolge der tragischen Erfahrung der Emigration und Protestunterdrückung. Die belarussische Sprache ist für die Belarussen ein wichtiger Weg, um ihre Kultur im Exil zu bewahren, ähnlich wie die Solidarität mit der Ukraine durch die ukrainische Sprache zum Ausdruck gebracht wird. Die Navi-Band, die ihre Karriere auf Russisch begann und recht erfolgreich war, führte 2022 ein Programm in belarussischer Sprache auf. Viele Interpreten, die hauptsächlich auf Russisch gesungen haben, finden es schwierig, auf Belarussisch zu schreiben, wechseln jedoch teilweise die Sprache. Die Popsängerin Anna Sharkunova nahm das Lied Doroga domoj („Der Weg nach Hause“) auf, bei dem nur der Refrain auf Belarussisch gesungen wird, aber es ist dennoch ein beachtlicher Schritt für eine Künstlerin, die bisher ausschließlich auf Russisch gesungen hat.

Die belarussische Folklore dient als besondere Inspirationsquelle für verschiedene Bands wie Kriwi und Shuma, die belarussische Volksmusik mit Techno und anderen Stilen der elektronischen Musik kombinieren. Die in Polen ansässige Band Shuma nutzt ein belarussisches Volkslied, das von der Liebe zum Nachbarland handelt, um die Sehnsucht der in Polen lebenden Belarussen nach ihrer Heimat auszudrücken, die für sie nun zum Nachbarland geworden ist. Svetlana Ben, die bereits französisches Chanson, Kabarett und die Lyrik russischer Dichter des frühen 20. Jahrhunderts in ihren Werken kombiniert hat, arrangierte ein belarussisches Volkslied über einen Vogel, der seine Heimat verlassen hat. Unabhängig vom Genre thematisieren belarussische Musiker das Verlangen nach Rückkehr in die Heimat. In einem ironischen Lied der Band Rasbitaje serca pazana („Diggas gebrochenes Herz“) wird die nackte Rückkehr auf dem Fahrrad in das geliebte Heimatland thematisiert.

Rasbitaje serca pazana: „Diggas gebrochenes Herz“

Fazit

Über einen langen Zeitraum hinweg war es für belarussische Musiker von entscheidender Bedeutung, „außerhalb der Politik“ zu handeln. Diese Stellung war Teil eines bedingten Gesellschaftsvertrags, der vorsah, dass Kulturschaffende keine politische Handlungsfähigkeit zeigen und sich nicht öffentlich gegen das Regime von Lukaschenko aussprechen sollten. Stattdessen konnten sie in einem geschlossenen Kreis von Gleichgesinnten frei agieren. Musiker lebten „abseits“ („living vnye“), ähnlich wie Alexej Jurtschak in seiner Studie über die spätere sowjetische Kultur beschreibt: Sie widersetzten sich nicht dem Staat und nutzten seine Ressourcen, aber gleichzeitig unterstützten sie das Regime nicht und existierten parallel zu ihm. Die Unterdrückung der Proteste von 2020 hat jedoch den Spielraum, der die Existenz von zwei parallelen Lebenswelten ermöglicht hatte, zerstört. Nun, da der Raum „außerhalb der Politik“ nicht mehr besteht, stehen belarussische Musiker und andere Vertreter der Kultur vor einer schwierigen Wahl: Emigration, Repression, Schweigen oder Kollaboration mit dem Regime. Diese Entscheidung betrifft alle, auch die Regimetreuen. Eine neutrale politische Position wird mit Misstrauen betrachtet und kann auch als Illoyalität angesehen werden. Der Krieg gegen die Ukraine hat diese Situation noch komplizierter gemacht und zwingt die Musiker dazu, zwischen einer erfolgreichen Karriere auf dem russischen Musikmarkt und einer moralischen Haltung zu wählen. Die belarussische Popmusik kann also nicht losgelöst vom politischen Kontext existieren und ist von der politischen Krise, in der sich die Region befindet, in vollem Umfang betroffen.

Allerdings gibt es auch positive Entwicklungen: Die Musik wird zu einem Mittel, um kollektive Traumata zu artikulieren. Sie kann frei und kreativ Texte im weiten Sinne bearbeiten, die für das nationale Selbstverständnis wichtig sind. Folklore, die belarussische Sprache und ethnische Musikinstrumente werden zu etwas, das den Belarussen in der Diaspora ein Gefühl von Heimat und ein Verständnis von sich selbst als Teil einer Gemeinschaft zurückgibt. Zudem bedeutet die Verfolgung von Musikern aufgrund ihrer Meinung nicht, dass es keine Meinung gibt, sondern nur, dass es keinen öffentlichen Raum für musikalische Äußerung gibt. Viele junge Musiker bleiben in Belarus, schreiben Songs und spielen Konzerte im Untergrundmodus. Es ist möglich, in einem Artikel die Künstler aufzulisten, die bereits als Musiker etabliert sind und bestimmte politische Entscheidungen getroffen haben, aber diese Beschreibung betrifft nicht die Zukunft der belarussischen Musikszene, die ebenso Hoffnung auf einen Wandel zum Besseren bewahrt.

Fußnoten
1

Mehr dazu: Kalinina, Ekaterina. „Mediated Post-Soviet Nostalgia“. Södertörn University, 2014. http://www.diva-portal.org/smash/get/diva2:746181/FULLTEXT01.pdf.

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