Der russische Historiker und Ethnologe Pain, der von 1996 bis 1999 Boris Jelzin in Nationalitätenfragen beriet, stellt sich die Frage, wie das Imperiale im Nationalen überleben konnte. Für den russischen Fall liegt diese Frage für ihn auf der Hand: Obwohl der „Schatten des Imperiums“ noch wirkmächtig bleibt,
Pain erfasst diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen mit dem Begriff des „imperialen Syndroms“: eine Konstellation aus imperialer Ordnung, imperialem Körper und imperialem Bewusstsein. Eine im Zarenreich und der Sowjetunion geformte, zentralisierte und personalisierte politische Ordnung bildet die Grundlage des postsowjetischen Autoritarismus. Zudem sieht Pain in dem in Nationen zerfallenen imperialen Körper der ehemaligen Sowjetunion die Möglichkeit, stets territoriale Ansprüche im Namen des einstmaligen Imperiums außerhalb seiner eigenen Grenzen zu erheben. Zuletzt erlaube es das nie ganz verschwundene imperiale Bewusstsein in Teilen der Elite und Gesellschaft Russlands, politische Projekte zu formulieren, die auch auf Resonanz in der Bevölkerung stoßen.
Der intensivierten Re-Imperialisierung Russlands seit 2014, so Pain, gingen zwei miteinander verschränkte Krisen des russischen Nationalismus voraus. Die eine – internationale – wurde ausgelöst durch den Euromaidan in der Ukraine 2013/2014, der für einen zivilen und demokratischen Nationalismus stand und sich gegen das russisch-imperiale Erbe richtete. Für die russische Staatselite war der Euromaidan ein Wiedergänger eines demokratischen, anti-imperialen und nationalistischen Gegenprojektes, das ihnen bereits 2011/12 begegnet war: die
Pains Perspektive erweitert die für Russland umfänglich diskutierten so genannten imperial
Die russische Invasion vom 24. Februar 2022 erscheint in diesem Licht jedoch als vorläufiger Höhepunkt einer Intensivierung des imperialen Syndroms: ein Kampf um den imperialen Körper, eine Verhärtung des imperialen Regimes und eine Radikalisierung des imperialen Bewusstseins.