Martin Krohs stellt vor:

Das generische Maskulinum im Deutschen. Ein historischer Spaziergang durch die deutsche Grammatikschreibung von der Renaissance bis zur Postmoderne

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Das generische Maskulinum im Deutschen. Ein historischer Spaziergang durch die deutsche Grammatikschreibung von der Renaissance bis zur Postmoderne

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Geschrieben von Martin Krohs

Bei te.ma veröffentlicht 10.10.2022

te.ma DOI 10.57964/cypr-8915

Geschrieben von Martin Krohs
Bei te.ma veröffentlicht 10.10.2022
te.ma DOI 10.57964/cypr-8915

Wo kommt das generische Maskulinum, der liebste Gender-Streitapfel im Deutschen, eigentlich her? Wurde der geschlechtsunspezifisch gemeinte Gebrauch des Maskulinums irgendwann einmal bewusst eingeführt?

So war es nämlich im Englischen, wo 1850 per Gesetz festgeschrieben wurde, dass als generisches Personalpronomen nicht das bis dahin übliche they (das inzwischen seine Rückkehr feiert) zu verwenden sei, sondern das aus dem Maskulinum stammende he. Aus Formulierungen wie „anyone may live their dream“ wurde: „Anyone may live his dream“.1

Ein vergleichbares „patriarchales normatives Ergreifen“ gab es bei uns nicht, stellt Ursula Doleschal in ihrer Rückschau der deutschen Grammatikschreibung vom 16. bis ins 21. Jahrhundert fest. Allerdings war das generische Maskulinum wohl auch nicht seit jeher so in Gebrauch, wie wir es heute kennen. 

Für die generische, also geschlechtsunspezifische Bezugnahme auf Personen kannten die Grammatiker der Renaissance noch ein geschlechtsneutrales „genus commune“. In der Aufklärung ab dem 18. Jahrhundert wurde das Neutrum in ähnlicher Funktion beschrieben. Spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts wurden dann aber Neutrum-Ausdrucksweisen wie „Vater und Mutter sind jedes ein Mensch für sich“ als altmodisch empfunden und der generisch-maskuline Sprachgebrauch setzte sich stärker durch („jeder ein Mensch für sich“). Erst dann finden sich auch systematische Beschreibungen des generischen Maskulinums in den Grammatiken.

Lässt sich aus diesen Befunden etwas über die Beziehung von Genus und Sexus ableiten, die ja ebenfalls in der Diskussion ums Gendern eine Schlüsselrolle spielt? Andere Sprachhistorikerinnen, wie Elisabeth Leiss2 oder Regine Froschauer3, sind der Ansicht, dass Genus ursprünglich gar nichts mit Geschlecht zu tun hatte, sondern zuerst der Quantifizierung diente (nach Kriterien der Zählbarkeit)4. Doleschal hingegen entnimmt den historischen Grammatiken, dass „auch in der Frühzeit der deutschen Grammatikschreibung Genus und Sexus vermischt wurden“. Damit stehen die ersten in der Tradition der Leipziger Schule der Grammatik, die Genus als ein abstraktes Ordnungsprinzip betrachtet, die zweiten in der des „natürlichen Genus“ (als vom außersprachlichen Geschlecht abgeleitet) von Jacob Grimm.

Welche der beiden Schulen auch immer der Wahrheit näher sein mag – einig sind sie sich darin, dass es immer wieder Wandel und Bewegung im deutschen Genus-System gab. Auch das generische Maskulinum ist damit keine ewige Wahrheit der deutschen Sprache, sondern ein Phänomen, das historischen Dynamiken unterliegt und von der sprachlichen Aktualität ständig auf seine Brauchbarkeit getestet wird.

Interessant an Doleschals Beitrag sind neben den zahlreichen Sprachbeispielen aus dem frühen Neuhochdeutschen (die Doctrin als feminin-Form zu Doctor, der & die Gevatter, der & die Gespons als genus commune), als die Grammatikschreibung noch auf Latein stattfand, auch die Hinweise zu den DDR-Grammatiken, die, so die Autorin, ähnliche Regeln formulierten wie die westdeutschen. Die einschlägige Untersuchung von Kirsten Sobotta5 bestätigt diesen Befund. Sobotta weist außerdem darauf hin, dass – entgegen weitverbreiteter Meinung – auch im ostdeutschen Sprachgebrauch das generische Maskulinum nicht alleinbestimmend war: Vor allem in der Tagespresse war auch von Ingenieurinnen und Zimmerfrauen von die Rede, gelegentlich traf sich sogar eine Industriekaufmännin.

Fußnoten
5

Doleschal führt hier ein weitaus komplexeres Sprachbeispiel aus dem 18. Jahrhundert an. Demnach wurde „Can anyone, on their entrance into the world, be fully secure that they shall not be deceived?“ ersetzt durch „on his entrance“ und „that he shall“.

Elisabeth Leiss: Genus und Sexus. Kritische Anmerkungen zur Sexualisie­rung von Grammatik. Linguistische Berichte 152 (1994); dieselbe: Genus im Althochdeutschen. In: Glaser, Elvira, Schlaefer, Michael (Hrsg.): Festschrift für Rolf Bergmann zum 60. Geburtstag, Grammatica lanua Artium (1997)

Froschauer, Regine (2003): Genus im Althochdeutschen. Eine funktionale Analyse des Mehrfachgenus althochdeutscher Substantive

Das Maskulinum wurde gemäß dieser Rekonstruktion für Singulativa verwendet, das Femininum für Kollektiva und das Neutrum für Kontinuativa. Dieser quantifizierende Charakter ließe sich heute noch an Beispielen wie der Huster – die Husterei – das Husten nachvollziehen, die inzwischen allerdings Suffigierung erfordern (siehe Froschauer 2003, komprimiert dargestellt in Martina Werner, Zur Verwendung geschlechtergerechter Sprache – die grammatische Kategorie Genus,  (2007).

Kirsten Sobotta, Sprachpraxis und feministische Sprachkritik. Zu einer sprachlichen Sonderentwicklung in Ostdeutschland, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik Bd. 30, Ausg. 2,  Nov 2002

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Das Genus commune (dt. gemeinsam) ist ein grammatisches Geschlecht, das eine gemeinsame Form für sowohl Maskulinum als auch Femininum bezeichnet. Es wird auch als Genus utrum bezeichnet (dt. welches von beiden [auch immer]). Hierauf geht auch die Bezeichnung des dritten modernen Genus zurück – Neutrum („Ne-utrum“): keines von beiden.

Anliegen der um 1870 an der Universität Leipzig entstandenen Schule der Junggrammatiker („junge Sprachwissenschaftler“) war es, abstrakte Gesetzlichkeiten von Sprache zu formulieren. Der Junggrammatiker Karl Brugmann (1849–1919) nahm an, dass Maskulinum und Femininum keine regelmässige Entsprechung in außersprachlicher Männlichkeit oder Weiblichkeit haben. Damit wandte er sich gegen die Auffassung Jacob Grimms, der Genus als Ausdruck einer „natürlichen Geschlechtlichkeit“ ansah.

Jacob Grimm (1785–1863) war gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm einer der Begründer der germanistischen Sprachwissenschaft und der deutschen Philologie. Jacob Grimm vertrat die Ansicht, das sprachliche Genus sei Ausdruck eines außersprachlichen Geschlechts, das in der gesamten beseelten Natur zu finden sei. So seien maskuline Nomina mit Stärke und Aktivität, feminine mit Feinheit und Passivität verbunden.

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