Dennis Yücel stellt vor:

Im neuen Turm zu Babel

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Im neuen Turm zu Babel

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Geschrieben von Dennis Yücel

Bei te.ma veröffentlicht 09.02.2023

Geschrieben von Dennis Yücel
Bei te.ma veröffentlicht 09.02.2023

Gefährden Gendersterne und andere sprachliche Markierungen den sozialen Zusammenhalt? Diese Frage wird in den letzten Jahren verstärkt in deutschen Feuilletons diskutiert. Sie steht auch im Zentrum eines ausführlichen Gesprächs, das Katharina Raabe und Olga Radetzkaja im August 2021 geführt haben und das der Deutschlandfunk eigens als Hörspiel nachproduziert hat. 

Ausgangspunkt bildet die Sorge der beiden Gesprächspartnerinnen, dass durch neue sprachliche Markierungen – seien es Gendersterne, neue Pluralformen oder veränderte Groß- und Kleinschreibung von Adjektiven (etwa „Schwarz“ statt „schwarz“) – das Gemeinsame in der Sprache verloren gehe und die Sprache in ihrer „kommunikativen Funktion“ geschwächt werde. Raabe und Radetzkaja gewinnen den Eindruck eines wachsenden Anspruchs von immer mehr gesellschaftlichen Gruppen, die einforderten, in der Sprache repräsentiert zu werden, und versuchten, die Sprache mit eigenen Zeichen zu prägen. Dabei machten diese Gruppen zunehmend das subjektive Befinden zum Maßstab angemessener sprachlicher Darstellung. Die Sprache, so die Sorge von Raabe und Radetzkaja, drohe sich dadurch zunehmend um sich selbst zu drehen und die Fähigkeit einzubüßen, in einem gesellschaftsübergreifenden Verständnis auf die Welt zu verweisen. 

Die Gesprächspartnerinnen wollen ihre Sprachkritik nicht als eine politisch konservative Kritik an gesellschaftlichen Emanzipationsprojekten verstanden wissen. Raabe positioniert sich als Feministin gegenüber zeitgenössischen Diskursen der Gender- und Queerstudies. Radetzkaja argumentiert aus der Position eines humanistischen Universalismus. Sie trauere, sagt sie, dem generischen Maskulinum nach, weil es ihrer Ansicht nach eine Funktion erfülle, die Alternativen nicht erfüllen könnten. Wer statt vom „Bürger“ von „Bürgerinnen und Bürgern“ oder „Bürger:innen“ spreche, adressiere Menschen nicht mehr in ihren sozialen und politischen Rollen, sondern als „konkrete einzelne, sexuell markierte Personen“. Beide werfen die Frage auf, ob dem politischen Ziel von Emanzipationsbewegungen – das Ende von Diskriminierung und Marginalsierung – eine  „umgreifende und verbindende“ Sprache nicht dienlicher wäre als eine „trennende, auf Distinktionen bedachte“. 

Die Linie zwischen sich und den von ihnen kritisierten gesellschaftlichen Bewegungen ziehen Raabe und Radetzkaja also nicht anhand unterschiedlicher politischer Ziele. Stattdessen entwickeln sie im Gespräch die These einer Sozialisierung in unterschiedlichen Sprachkulturen. Einer „traditionellen, analogen, mono- und dialogischen, auf Hierarchien von Sendern und Empfängern gründenden Schreib- und Lesekultur“ stellt Raabe eine „digitale, multimediale, stark visuell geprägte, interaktive, enthierarchisierte und entkontextualisierte Kultur“ gegenüber. In diesen unterschiedlichen Medienkulturen, so die These, entwickle sich ein grundlegend anderes Verständnis von Sprache. Während die Sprache der traditionellen Schreib- und Lesekultur sozialen Prozessen lediglich folge, herrsche auf der anderen Seite der Anspruch, „durch Sprache performativ Wirklichkeit herzustellen und zu formen“. (Radetzkaja) Auf der einen Seite die historisch gewachsene Sprache mit universalem Geltungsanspruch. Auf der anderen Seite der Anspruch, Sprache aktiv im Namen der eigenen Gruppe zu modernisieren. 

Raabes und Radetzkajas These von zwei Sprachkulturen – beziehungsweise unterschiedlichen Mediensystemen, die diese Sprachkulturen hervorbringen – könnte einen Anhaltspunkt liefern, warum gegenwärtige Diskurse um Sprache derzeit allzu oft die Form von Generationenkonflikten annehmen. Sie wirft jedoch Implikationen auf, die von den beiden Gesprächspartnerinnen im Anschluss nicht diskutiert werden. Sollte die These zutreffen und gegenwärtige Bewegungen in der Sprache durch eine Sozialisierung in einem bestimmten Mediensystem bedingt sein, stellt sich die Frage, inwiefern sich diese Bewegungen noch als selbstreferentielle, aktive Modernisierungen der Sprache durch einzelne Sprecher*innen beschreiben lassen. Markierungen wie Gendersterne ließen sich dann vielmehr als Folgen weitreichender gesellschaftlicher und technologischer Verschiebungen verstehen, die in der Sprache zum Ausdruck kommen. Gerade wenn man die in dem Gespräch aufgeworfene These ernst nimmt, wäre eine Unterscheidung zwischen einem „natürlichen“ oder „künstlichen“ Sprachwandel, einem passiven Folgen oder einer aktiven Modernisierung nicht mehr so leicht zu ziehen. 

Empirische Belege, die diese und weitere im Gespräch entwickelte Thesen stützen könnten, kommen in dem Gespräch kurz. Raabe und Radetzkaja begründen ihre Zeitdiagnosen vielmehr mit Verweisen auf einen „Eindruck“, eine „Sorge“ oder ein „Gefühl“. So entsteht der Anschein einer Gesellschaft, in der die Sprache von einer beständig wachsenden Anzahl an sozialen Gruppierungen mit immer mehr orthographischen und typografischen Eigenwilligkeiten überfrachtet wird. Doch es bleibt im Gespräch offen, welche Gruppen sich mit welchen Ansprüchen und sprachlichen Markierungen tatsächlich an die Gesellschaft richten. 

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Als generisches Maskulinum wird der Usus bezeichnet, grammatisch maskulin markierte Formen als Oberbegriff für Menschen unabhängig ihres Geschlechts zu verwenden.

Der Universalismus geht von einem allgemeinen Begriff oder Prinzip aus, das die Vielfalt von Erscheinungsformen umfassen kann. Etwa „der Mensch“ oder „der Bürger“. Das humanistische Menschenbild war und ist eine wichtige Quelle für politische Forderungen nach Freiheit und Gleichheit. Kritische Positionen werfen jedoch ein, dass das Menschenbild des Humanismus nicht auf einer abstrakten Allgemeinheit, sondern einer konkreten Erscheinung beruht: einem weißen, nicht-behinderten Mann.

Der Begriff „Performanz“ meint hier die Fähigkeit der Sprache, Wirklichkeit nicht nur abzubilden, sondern selbst aktiv zu schaffen. In den Gender-Studies wird dieser Ansatz prominent etwa von Judith Butler vertreten.

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Hier sehe ich als einen wichtigen Aspekt die vom Jahrhundertphilosophen Wittgenstein analysierte Bedeutung von Sprache, und damit auch ihrer Veränderungen:

Es gibt kein Denken ohne Sprache. Sprache schafft Wirklichkeit, und die Grenzen der Sprache sind die Grenzen des einzelnen Weltbildes.

Der Präzision und Vollständigkeit halber: Interessanterweise sind dies bereits Interpretations-Zuweisungen zu Wittgenstein, die von Wittgenstein selbst so nicht geäussert wurden. Vulgo also Pseudo-Zitate. Seine echte Darlegung war:

“- Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch ‘Bedeutungen’ vor, sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens.

- Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unserer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen garnicht auf den Gedanken, sie abzunehmen”

In meiner persönlichen Wahrnehmung geradezu ehrfurchterweckende Analysen und Theoriebildungen! Insofern haben eben auch die “Gendersterne, neue Pluralformen oder veränderte Groß- und Kleinschreibung von Adjektiven“ eine sehr fundamentale Bedeutung, die von den meisten Interpretatoren (die beiden Autorinnen mal ausgenommen!) garnicht erst erkannt werden.

Es handelt sich insofern auch um eine garnicht zu unterschätzende gesellschaftliche Machtfrage.

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Ja, ein Verständnis davon, dass Sprache nicht einfach ein Mittel ist, mit dem sich Gedanken übertragen oder auf vor- oder außersprachliche Realitäten verweisen lässt, ist für gegenwärtige Diskurse um gendergerechte Sprache sicherlich sehr grundlegend. Und Sie haben Recht: Aus einem solchen Verständnis heraus kommt Gendersternen oder veränderten Schreibweisen eine weitreichende gesellschaftliche Tragweite zu.

Sicherlich ist ein Ringen um diese Zeichen auch eine gesellschaftliche Machtfrage und zwar in doppeltem Sinn.

Gerade die von Ihnen angeführte Kritik Wittgensteins (und andere Sprachtheorien des 20. Jahrhunderts) problematisieren ja ganz grundsätzlich die Frage der Handlungsmacht über Sprache. Insofern würde ich sagen, sollte man die „Machtfrage“ nicht nur als eine politische Frage zwischen gesellschaftlichen Anspruchsgruppen verstehen, sondern immer auch als Frage nach der Macht von und über Sprache überhaupt. Der Philosoph Martin Seel bietet in seinem Vortrag „Macht und Gegenmacht der Sprache“ einen guten Einblick in das Thema: https://www.youtube.com/watch?v=MrAH2aZjjsg

Vielleicht interessiert Sie der Beitrag ja. Ich werde da demnächst auch einen Re-Web dazu verfassen!

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