Vorschläge zum neutralen Status der Ukraine als Zugeständnis an Russland tauchten bereits kurz vor dem russischen Überfall auf. Der US-Ökonom Jeffrey Sachs schrieb zum Beispiel im Februar 2022, dass Neutralität die ukrainische Souveränität am besten schützen würde. Einen Monat zuvor schlug der Politikwissenschaftler Anatol Lieven den
Der britische Politikwissenschaftler Roy Allison von der Universität Oxford argumentiert hingegen, dass die Neutralitätsoption für die Ukraine in der Anfangsphase des Krieges wenig vielversprechend war. Denn Putins Rhetorik ließ erkennen, dass er die Ukraine nicht in eine Form der Neutralität, sondern zurück in die russische Einflusssphäre oder gar in eine Position der Unterwerfung zwingen wollte.
Nachdem aber das Ziel der Beseitigung der ukrainischen Regierung und Souveränität im ersten Kriegsjahr gescheitert ist, geht der Autor davon aus, dass die Neutralitätsoption als Kompromisslösung neu aufgegriffen werden könnte. Denn die wahrscheinlichsten sicherheitspolitischen Alternativen zu einer Form der Neutralität bestünden für die Ukraine entweder in einem langwierigen militärischen Konflikt mit Russland oder in einem eingefrorenen Konflikt mit einem militarisierten und geteilten ukrainischen Staat.
Seine Thesen über die Ausgestaltung dieser Neutralität leitet Allison aus der Analyse der Erfahrungen anderer europäischer Staaten mit Neutralität und Bündnisfreiheit ab. Als konkrete Beispiele bezieht sich der Autor auf
Aus seiner Untersuchung schlussfolgert Allison, dass der Ukraine im Falle einer Neutralitätslösung große, moderne und gut ausgerüstete Streitkräfte zugestanden werden müssten, auch wenn Stützpunkte oder Übungen der Nato auf ihrem Boden ausgeschlossen wären. Eine stärkere Integration von Nato-Standards in die ukrainischen Streitkräfte würde das bereits gewährleisten. Die einzigen Beschränkungen für die Ukraine könnten sich auf die Anzahl von Langstreckenraketen und Marschflugkörpern über einer bestimmten Reichweite, Hyperschallraketen und Massenvernichtungswaffen beziehen.
Seiner Meinung nach könnte Kiew die Verhandlungen über den künftigen Status der Krim von einer allgemeinen Regelung und den Bedingungen der Neutralität abkoppeln und in den kommenden Jahren separat in einem bilateralen Format mit Russland behandeln. Russland wiederum müsste für wirksame Verhandlungen mit Kiew seine ursprünglichen nicht-territorialen Forderungen aufgeben.
Allison berücksichtigt in seiner Analyse jedoch nicht die öffentliche Meinung in der Ukraine zum Thema Neutralität: In einer Umfrage von 2019 lag die Unterstützung für einen Beitritt der Ukraine zur Nato bei 44 Prozent. In einer Umfrage vom Oktober 2022, also acht Monate nach Beginn des Krieges, lag der Anteil der Befragten, die einen Beitritt befürworten, bereits bei 77 Prozent. Angesichts dieser Tendenz ist fraglich, ob die Menschen in der Ukraine einen neutralen Status ihres Landes akzeptieren würden.
Dem Autor scheint allerdings bewusst zu sein, dass der Neutralitätsansatz in der Ukraine gegenwärtig kaum Zuspruch erhielte. Deswegen betont er, dass die Aussicht darauf in erster Linie von der Wirksamkeit und dem Ausmaß des ukrainischen Widerstands gegen die russischen Angriffe abhänge. Weitere entscheidende Voraussetzungen seien die Fähigkeit der Ukraine, ihr Territorium zurückzuerobern, und dass die russische Führung ihre Erwartungen an den Gebietserwerb aufgebe.
Damit setzt sich Allison implizit für die aktuelle Strategie westlicher Staaten ein, die Ukraine mit Waffenlieferungen zu unterstützen, damit sie Gebiete zurückerobern und eine starke Verhandlungsposition erlangen kann. Mit der vorgeschlagenen Neutralitätsoption skizziert er gleichzeitig ein klares strategisches Ziel sowohl für die militärische Unterstützung als auch für die oft thematisierten Friedensverhandlungen.