Neutralität als Überlebensstrategie

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Roy Allison2022
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Neutralität als Überlebensstrategie

»Russia, Ukraine and state survival through neutrality«

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 14.02.2023

te.ma DOI 10.57964/025k-hp18

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 14.02.2023
te.ma DOI 10.57964/025k-hp18

Könnte die ukrainische Neutralität Kernelement einer sicherheitspolitischen Beilegung des laufenden militärischen Konfliktes sein? Um diese Frage zu beantworten, analysiert der Politikwissenschaftler Roy Allison die Erfahrungen europäischer Staaten aus dem 20. Jahrhundert, die für die aktuelle Situation in der Ukraine potenziell relevant sein könnten.

Vorschläge zum neutralen Status der Ukraine als Zugeständnis an Russland tauchten bereits kurz vor dem russischen Überfall auf. Der US-Ökonom Jeffrey Sachs schrieb zum Beispiel im Februar 2022, dass Neutralität die ukrainische Souveränität am besten schützen würde. Einen Monat zuvor schlug der Politikwissenschaftler Anatol Lieven den österreichischen Staatsvertrag als Modell für die Ukraine vor. Und auch in den Verhandlungen zwischen den Delegationen Russlands und der Ukraine nach Beginn des Krieges war der Neutralitätsstatus ein Kernpunkt des diskutierten, aber nicht zustande gekommenen Friedensabkommens von Istanbul

Der britische Politikwissenschaftler Roy Allison von der Universität Oxford argumentiert hingegen, dass die Neutralitätsoption für die Ukraine in der Anfangsphase des Krieges wenig vielversprechend war. Denn Putins Rhetorik ließ erkennen, dass er die Ukraine nicht in eine Form der Neutralität, sondern zurück in die russische Einflusssphäre oder gar in eine Position der Unterwerfung zwingen wollte.1

Nachdem aber das Ziel der Beseitigung der ukrainischen Regierung und Souveränität im ersten Kriegsjahr gescheitert ist, geht der Autor davon aus, dass die Neutralitätsoption als Kompromisslösung neu aufgegriffen werden könnte. Denn die wahrscheinlichsten sicherheitspolitischen Alternativen zu einer Form der Neutralität bestünden für die Ukraine entweder in einem langwierigen militärischen Konflikt mit Russland oder in einem eingefrorenen Konflikt mit einem militarisierten und geteilten ukrainischen Staat. 

Seine Thesen über die Ausgestaltung dieser Neutralität leitet Allison aus der Analyse der Erfahrungen anderer europäischer Staaten mit Neutralität und Bündnisfreiheit ab. Als konkrete Beispiele bezieht sich der Autor auf Finnland und Österreich nach 1945 sowie die Republik Moldau nach 1991. Der Text verortet sich entsprechend in der wissenschaftlichen Literatur zu bündnisfreien Staaten, die ihre Souveränität nach einem Konflikt mit Großmächten aufrechterhalten konnten.2

Aus seiner Untersuchung schlussfolgert Allison, dass der Ukraine im Falle einer Neutralitätslösung große, moderne und gut ausgerüstete Streitkräfte zugestanden werden müssten, auch wenn Stützpunkte oder Übungen der Nato auf ihrem Boden ausgeschlossen wären. Eine stärkere Integration von Nato-Standards in die ukrainischen Streitkräfte würde das bereits gewährleisten. Die einzigen Beschränkungen für die Ukraine könnten sich auf die Anzahl von Langstreckenraketen und Marschflugkörpern über einer bestimmten Reichweite, Hyperschallraketen und Massenvernichtungswaffen beziehen. 

Seiner Meinung nach könnte Kiew die Verhandlungen über den künftigen Status der Krim von einer allgemeinen Regelung und den Bedingungen der Neutralität abkoppeln und in den kommenden Jahren separat in einem bilateralen Format mit Russland behandeln. Russland wiederum müsste für wirksame Verhandlungen mit Kiew seine ursprünglichen nicht-territorialen Forderungen aufgeben.3 Damit einhergehen sollte zudem die ausdrückliche russische Bestätigung, dass die Ukraine keinen Militärbündnissen beitrete, was sowohl für westliche als auch für russisch geführte Bündnisse gelte. 

Allison berücksichtigt in seiner Analyse jedoch nicht die öffentliche Meinung in der Ukraine zum Thema Neutralität: In einer Umfrage von 2019 lag die Unterstützung für einen Beitritt der Ukraine zur Nato bei 44 Prozent. In einer Umfrage vom Oktober 2022, also acht Monate nach Beginn des Krieges, lag der Anteil der Befragten, die einen Beitritt befürworten, bereits bei 77 Prozent. Angesichts dieser Tendenz ist fraglich, ob die Menschen in der Ukraine einen neutralen Status ihres Landes akzeptieren würden. 

Dem Autor scheint allerdings bewusst zu sein, dass der Neutralitätsansatz in der Ukraine gegenwärtig kaum Zuspruch erhielte. Deswegen betont er, dass die Aussicht darauf in erster Linie von der Wirksamkeit und dem Ausmaß des ukrainischen Widerstands gegen die russischen Angriffe abhänge. Weitere entscheidende Voraussetzungen seien die Fähigkeit der Ukraine, ihr Territorium zurückzuerobern, und dass die russische Führung ihre Erwartungen an den Gebietserwerb aufgebe.4 

Damit setzt sich Allison implizit für die aktuelle Strategie westlicher Staaten ein, die Ukraine mit Waffenlieferungen zu unterstützen, damit sie Gebiete zurückerobern und eine starke Verhandlungsposition erlangen kann. Mit der vorgeschlagenen Neutralitätsoption skizziert er gleichzeitig ein klares strategisches Ziel sowohl für die militärische Unterstützung als auch für die oft thematisierten Friedensverhandlungen.

Fußnoten
4

Laut Allison zeugt davon Putins Ziel der „Denazifizierung“ sowie seine Behauptungen, die Kiewer Regierung sei unrechtmäßig, werde von „Nazis“ beherrscht und solle gestützt werden. Ferner lehnte Putin in seiner Rede kurz vor der Invasion die Existenz der ukrainischen Nation und ihre Staatlichkeit ab mit der Behauptung, Russ/innen und Ukrainer/innen seien ein Volk.

Siehe zum Beispiel Efraim Karsh, Neutrality and small states, New York and London, Routledge, 1988; Gregory A. Raymond, Neutrality norms and the balance of power. In: Cooperation and Conflict, Bd. 32, Nr. 2, 1997, S. 123–146; Christine Agius & Karen Devine, Neutrality: a really dead concept? A reprise. In: Cooperation and Conflict, Bd. 46, Nr. 3, 2011, S. 265–284; Pertti Joenniemi, Neutrality beyond the Cold War. In: Review of International Studies, Bd. 19, Nr. 3, 1993, S. 289–304.

Am 24. Februar 2022 verband Putin den Nicht-Beitritt der Ukraine zur Nato mit dem Ziel, den ukrainischen Staat zu „entnazifizieren“ (d. h. seine politische Unterwerfung zu gewährleisten) und die Ukraine zu „entmilitarisieren“, (d. h. höchstwahrscheinlich die Zerstörung des größten Teils der militärischen Infrastruktur): https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/vladimir-putin-ansprache-am-fruehen-morgen-des-24.2.2022/.

Damit bezieht sich Allison auf mehrere Aussagen Wladimir Putins im Juni 2022, mit denen er das Recht der Ukraine auf ihr Territorium in Frage stellte. Zuerst verglich er sich mit Peter dem Großen und bezeichnete die russische Militäroperation in der Ukraine als „Rückgabe dessen, was uns gehört“, so wie das der russische Kaiser einst gemacht habe: https://www.theguardian.com/world/2022/jun/10/putin-compares-himself-to-peter-the-great-in-quest-to-take-back-russian-lands. Später behauptete er, die Ukraine habe historisch gesehen nichts mit „Noworossija“ zu tun, denn diese Region im Süden der Ukraine als Ergebnis der russisch-türkischen Kriege in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dem Russischen Reich angegliedert worden sei. Die östlichen Gebiete seien der Ukraine bei der Gründung der Sowjetunion geschenkt worden: https://ria.ru/20220617/ukraina-1796319728.html

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Ich persönlich sehe eine “Österreichisierung” als eine in unserem Sinne, also der des Westens, erheblich attraktivere Zukunft als eine “Finnlandisierung”.

Den meisten, incl. vielen Österreichern selbst, dürfte nicht einmal wirklich bewusst sein, dass Österreich in Europa einen besonderen Status hat, und welchen.

Wenn man der Meinung anhängt, dass die Ukraine im laufenden Krieg kaum eine Chance eines umfassenden Sieges hat (und leider spricht viel dafür), dann könnte eine Österreichisierung tatsächlich ein attraktives Ziel darstellen. Das weiss allerdings auch Russland, weshalb dieses auch im Fall einer halben Niederlage im Ukraine-Krieg mit aller Gewalt (wörtlich und übertragen) die Finnlandisierung zu erzwingen versuchen dürfte…

Total 1

Wenn es darum geht Szenarien zu skizzieren, die möglicherweise auf breite Akzeptanz stoßen könnten, scheint mir auch Österreichisierung naheliegender als Finnlandisierung. Allein schon aufgrund der negativen historischen Assoziationen, die mit der finnisch-sowjetischen Geschichte verbunden sind.

Ich finde die Beobachtung interessant, dass öffentliches Bewusstsein und staatlich-geopolitisches Selbstverständnis im gegenwärtigen Österreich auseinanderfallen. Möglicherweise erleben wir eine ähnliche Entwicklung in einer Nachkriegsukraine.

Total 0

Zustimmung!

Ich hoffe ja, dass nicht, aber der Liebe Gott (der freundliche weissbärtige Herr mit dem Nachnamen Evolution) hört leider nicht auf den Herrn Kübler, wie dieser schon öfter indigniert feststellen musste… ;-)

Total 0

Möglicherweise erleben wir eine ähnliche Entwicklung in einer Nachkriegsukraine.

Mir fehlen leider historische Kenntnis und Einschätzungsmöglichkeit für die Entwicklung der österreichischen Bevölkerungsstimmung in den Jahren bis zum Ablauf der 60-er.

Heute ist das Aufgehobensein im Westen keinerlei Thema mehr. Aber wie war es nach dem Weltkrieg und im Kalten Krieg? Die Westdeutschen hatten keine Angst, in eine sowjetische Gefährdung zu geraten. Aus mehreren Gründen und auch richtigerweise, denn sie konnten ja sogar Stalins Angebot einer Art von Österreichisierung (drücke ich hier der Einfachheit halber wieder so aus) ablehnen.

Bei den Ukrainern könnte das mMn im Negativfall anders aussehen. Sorge macht mir die Zermürbungstaktik der Russen. Bei den vielen ukrainischen “Toten” an Menschen und Infrastruktur. Irgendwann könnte vielleicht eine grössere Menge an Ukrainern zu dem Gefühl kommen, dass ein schlechter Frieden besser sei als ein mit unendlichem Leid erkaufter glorreicher Krieg. Es wäre reichlich nachvollziehbar, und darauf dürfte die russische Kriegsführung ja auch spekulieren.

Hier müsste man trotz aller Schwierigkeiten von Beschaffung und Interpretation historische Daten aus dem WW II zum Vergleich anwenden: Wann - soweit überhaupt - kippte die (subjektiv ja so empfundene) “Verteidigungsbereitschaft” z.B. einer Dresdner Bevölkerung angesichts der endlosen Zerstörungsanflüge der alliierten Bomberflotten?

Möglicherweise garnicht, denn die deutsche Propaganda konnte das anscheinend auffangen: “Der NS-Propaganda bot die Bombardierung von Dresden noch einmal Gelegenheit, an den Durchhaltewillen der Deutschen zu appellieren.“ Noch 1945!!

Aus anderer Quelle zum Gesamtkonzept des Moral-Brechens:

Doch die erhoffte Wirkung des sogenannten Moral Bombing blieb aus. Massive Schläge gegen dicht besiedelte Innenstädte mochten die heimische Bevölkerung zermürben und die Weltöffentlichkeit beeindrucken, die Deutschen erhoben sich aber nicht gegen das NS-Regime, sondern setzten den Krieg bis zum bitteren Ende fort

Ich selbst kann ja leicht über die Grausamkeit der Russen jammern und Durchhalteappelle schreiben, aber ich tue das auf dem Sofa mit dem Notebook auf dem Schoss und Radiodudeln im Hintergrund…

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