Die 2012 veröffentlichte Analyse
Kindler arbeitet mit dem Ansatz des historischen Vergleichs, integriert in seine Analyse grundlegende erinnerungstheoretische Erkenntnisse
Kasachstan hat nach dem Zerfall der Sowjetunion das kommunistische Bild des Landes übernommen: Kasachstan als Laboratorium der Völkerfreundschaft. Die politische Führung preist die Multiethnizität des Landes, erkennt die Gewaltgeschichte dahinter aber nicht an. Die eigene Geschichte während der Sowjetunion sollte – aufgrund eines Verlustes von Überlieferung und Erinnerungsorten im Rahmen der Sowjetisierung – kontinuierlich und positiv gedeutet werden. Dazu passt, dass die Erinnerung an die Hungersnot für die Zivilgesellschaft nahezu gar keine Rolle spielt. Bis heute hält die Regierung ritualisierte jährliche Gedenkveranstaltungen ab und behält damit die Deutungshoheit.
Die Ukraine hingegen hat die als Holodomor bezeichnete Hungersnot nach dem Ende der Sowjetunion als einen gezielten Gewaltakt mit Vernichtungsabsicht, und damit als eine Gewalt von Außen gedeutet, nicht zuletzt, um ihre nationalstaatliche Existenz zu legitimieren. Der Umgang der ukrainischen Regierung mit Russland in dieser Frage hat in der jüngeren Vergangenheit auch die Zivilgesellschaft bewegt: So waren es zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich für die Erinnerung an den Holodomor und die Aufarbeitung des Stalinismus einsetzten, als Wiktor Janukowytsch eine Kehrtwende in der Erinnerungspolitik 2010 einläuten wollte.
Robert Kindler ergänzt durch den historischen Vergleich die Beiträge von Alexander Motyl und Georgiy Kasianov, die beide die ukrainische Erinnerungskultur ganz direkt mit der Haltung zu Russland verknüpft sehen. Er erweitert so den Kontext der postsowjetischen Nationenbildung der beiden Länder und beschreibt, wie die jeweilige Erinnerung an den Holodomor in das erinnerungspolitische Narrativ beider Länder integriert wurde.