Der Krieg und das offene Ende der Geschichte

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Adam Tooze2022
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Der Krieg und das offene Ende der Geschichte

»War at the End of History«

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 05.12.2022

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 05.12.2022

Ist die von Francis Fukuyama Ende der 1980er Jahre aufgestellte These vom Ende der Geschichte mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine endgültig entkräftet? Hat die Geschichte am 24.02.2022 neu begonnen? Über diese Fragen reflektiert der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze und legt dar, wie schwierig eine eindeutige Antwort ist.

Im Jahr 1989 erschien Francis Fukuyamas berühmter Essay „The End of History?“, gefolgt 1992 vom Buch „The End of History or the Last man“. Bereits damals wurde Fukuyamas These vom unaufhaltsamen Sieg des politischen und ökonomischen Liberalismus kritisiert.1 Seine Kritiker/innen behaupteten, Fukuyama habe sich geirrt, als er die liberale Demokratie als ultimative Regierungsform feierte. Der Überfall Russlands auf die Ukraine lieferte einen neuen Impuls für diese Diskussion. 

Adam Tooze betont in der Einleitung seines Essays, dass die Errungenschaft des Endes der Geschichte nicht nur im Triumph des liberalen Modells als solchem bestand, sondern auch darin, dass es  unblutig vonstatten ging. Es sei bedeutsam gewesen, dass der Westen den militärischen Wettstreit des Kalten Krieges gewonnen hätte, ohne einen Schuss abzugeben. Im Mittelpunkt steht bei Tooze die Frage: Hat Russlands Krieg in der Ukraine das Paradigma vom Ende der Geschichte nun sowohl politisch als auch militärisch durchbrochen?

Zunächst wendet sich Tooze der Interpretation von Vladimir Putins Motiven zu und stellt fest, dass dieser sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nie abgefunden und das Ende der Geschichte nie akzeptiert hat, genauso wenig wie den Anspruch der USA und anderer liberaler Demokratien, die internationale Ordnung zu bestimmen. Seit 2007 und seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz habe Putin auf den richtigen Moment gewartet, um diese Ordnung und die Bedingungen für die Unabhängigkeit der Ukraine zu revidieren. 

Tooze erinnert daran, dass die Bereitschaft zum Krieg einige Analysten dazu brachte, Putin als einen Mann des 19. Jahrhunderts zu bezeichnen oder ihn, wie der Historiker Stephen Kotkin, in der Tradition des russischen Expansionismus zu sehen, der ein halbes Jahrtausend bis ins Zeitalter von Iwan dem Schrecklichen zurückreicht. Dem entgegnet Tooze, dass es für Putin ursprünglich nicht um ein existenzielles Kräftemessen in der Ukraine ging. Vielmehr schien, zumindest am Anfang, das Gegenteil der Fall zu sein: Der Einmarsch in eines der größten Länder Europas mit mehr als 40 Millionen Einwohnern wurde geradezu leichtsinnig in Angriff genommen. Putin stellte sich den Krieg als Bagatelle vor – asymmetrisch, schnell, erfolgreich, wie Georgien im Jahr 2008 oder die Krim im Jahr 2014. In dieser Lesart ist Putin somit weit davon entfernt, das Paradigma vom Ende der Geschichte zu durchbrechen und eine Rückkehr zu Konflikt- und Kriegsmustern des 19. Jahrhunderts herbeizuführen. Vielmehr ging es ihm darum, die Ukraine vom Weg der westlichen Integration abzubringen, den sie nach dem Sturz der Regierung von Viktor Janukowitsch im Jahr 2014 eingeschlagen hat. 

Für Tooze ist es daher nicht Putin, sondern eher der mutige Widerstand von Selenskyj und seinem Volk im Kampf um Souveränität und Selbstbestimmung, der das Paradigma vom Ende der Geschichte durchbricht. Insofern geht Tooze davon aus, dass erst der Ausgang des Krieges die Frage bezüglich des Endes vom „Ende der Geschichte'' beantworten kann. Sollte Putin beispielsweise wegen militärischer Misserfolge und wirtschaftlicher Probleme gestürzt und sein Regime durch ein friedliches und pro-westliches ersetzt werden, wären alle Kritiker/innen Fukuyamas eines Besseren belehrt. Denn das wäre die überraschendste Bestätigung seiner Vorhersage, nach der das westliche Modell triumphieren würde, und zwar mit anderen Mitteln als dem offenen Krieg.

Wenn Putins Regime jedoch nicht zusammenbricht (und der Krieg nicht zu einem Dritten Weltkrieg eskaliert), bleibt den Konfliktparteien nichts anderes übrig, als sich dem schwierigen Geschäft der Verhandlungsdiplomatie zu stellen. In den anschließenden Kompromissen und den damit verbundenen Zukunftsvisionen – für die Ukraine und Russland, für Europa und die Nato – würde sich letztlich die historische Bedeutung dieses Krieges erweisen.

Fußnoten
1

Siehe den Artikel „More Responses to Fukuyama“ von Timothy Fuller, David Satter, David Stove, Frederick L. Will, in: The National Interest, Nt. 17, 1989, S. 93-100

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Die politischen Ereignisse des Jahres 1989 wurden von Fukuyama als eine deutliche Entwicklung hin zur liberalen Demokratie interpretiert. Inspiriert von diesem Gedanken stellte er die Frage, ob die liberale Demokratie das „Ende der Geschichte“ im Hegelschen Sinne sein könnte. Zunächst in seinem Essay, später in seinem Buch versuchte er, auf der Ebene der Politik, der Wirtschaft und der Philosophie Argumente für seine Theorie zu finden.

Fukuyamas Argumentation basiert auf Hegels Definition von Geschichte als einem kohärenten evolutionären Prozess, der die Erfahrungen aller Menschen aller Zeiten einschließt. Das „Ende der Geschichte“ stellt somit den Endpunkt dar, der erreicht wäre, wenn die Evolution der Ideologie nach einem langen Prozess historischer Auslese zu einem Ende gekommen wäre. Das Ergebnis wäre ein System, das am besten zu den Bedürfnissen der Menschen passt. Für Fukuyama stellt die liberale Demokratie solch ein System dar.

Die Teilnahme Wladimir Putins war der erste Auftritt eines russischen Präsidenten auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Den USA unterstellte er in seiner Rede das Streben nach Weltherrschaft, die Nato warnte er vor „ungezügelter Militäranwendung“. Nato und Europäische Union würden anderen Ländern ihren Willen aufzwingen und auf Gewalt setzen, so Putin. Auch die Nato-Osterweiterung kritisierte er massiv.

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