Zwei Erklärungsmuster dominieren die Debatte rund um die Ukraine-Krise und den Ausbruch des Krieges am 24.02.2022. Das erste geht davon aus, dass Russland eine imperialistische Außenpolitik betreibt und die Existenz eines unabhängigen ukrainischen Staates nie anerkannt hat. Die zweite Hypothese, deren prominenter Vertreter der US-Politikwissenschaftler John Mearsheimer ist, sieht die Verantwortung in erster Linie beim Westen und seiner unbedachten Politik gegenüber postsowjetischen Staaten. Keiner der beiden Ansätze besitze vollständige kausale Erklärungskraft – so die Ausgangsthese von Charap und Colton, die sich allerdings vor allem auf die Ereignisse von 2014 bezieht.
Die zentrale Behauptung ihres Buches ist, dass die
Die Ukraine-Krise ist in der Sichtweise der Autoren also das Produkt eines sich selbst verstärkenden feindseligen Verhaltens im postsowjetischen Teil Eurasiens. Die multidimensionalen Rivalitäten, die sich dort abspielten, umfassen nach den Autoren drei „Geos”, die von Staaten und Staatenblöcken verfolgt wurden:
Das Buch beginnt mit der Untersuchung des Zeitraums vom Ende der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre. In jener Phase seien viele Gelegenheiten verpasst worden, die bisherigen Trennlinien aus dem Kalten Krieg auf dem europäischen Kontinent zu beseitigen. Was wir heute erlebten, seien die Folgen dieser seit 1989 unerledigten diplomatischen Aufgaben.
Die damals erzielte politische Lösung basierte auf einem sogenannten vorgefertigten Wandel – einer Methodik, die auf der mechanischen Ausweitung bestehender Formeln und Strukturen beruht, statt auf der Aushandlung von für alle Seiten akzeptablen Lösungen
Das geschah, obwohl Moskau durchaus Gegenvorschläge einbrachte, wie zum Beispiel das
Doch auch wenn das Fehlen einer umfassenden globalen Sicherheitsarchitektur für die Zeit nach dem Kalten Krieg eine Voraussetzung für die Ukraine-Krise war, hätte dieser ruinöse Ausgang sogar verhindert werden können, wenn die Grundlagen der europäischen Regionalordnung intensiver überdacht worden wären. Es war laut den Autoren der Streit um die sogenannten „In-Betweens”, also die Gebiete zwischen Russland und der Europäischen Union, der die Spannungen außer Kontrolle geraten ließ und zur Eskalation in der Ukraine führte.
Die Entwicklung dieser „
Zurecht weisen die Autoren darauf hin, dass es zwischen 2009 und 2014 eine mehrjährige Phase gab, in der diese Nullsummenpolitik etwas abnahm. Es ergaben sich sogar Gelegenheiten für den Aufbau einer konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Westen. Beispielsweise hatte die Kooperation zwischen Moskau und Washington einen wichtigen stabilisierenden Effekt in der
Das Buch vermittelt an mehreren Stellen die Einschätzung, dass das mangelnde Entgegenkommen des Westens gegenüber Russland das verhängnisvolle Nullsummenspiel erheblich befördert hätte. Es wird etwa betont, dass es keine richtigen Verhandlungen mit Russland über den Prozess der Nato-Erweiterung gegeben habe. Angesichts des unprovozierten Überfalls Russlands auf die Ukraine am 24.02.2022 darf allerdings rückblickend hinterfragt werden, ob ein anderes Handeln des Westens tatsächlich entscheidend gewesen wäre, um diese Entwicklung zu verhindern. Darüber hinaus hat Russland selbst bereits 1995 unmissverständlich erklärt, dass das Territorium der GUS-Länder „in erster Linie ein Gebiet von russischem Interesse ist.”
Um den ruinösen geostrategischen Wettbewerb zu entschärfen und die Russland-West-Konfrontation zu beenden, sei es notwendig, das Tabu eines ergebnisoffenen, vorurteilsfreien Dialogs über die regionale Ordnung zu brechen. Damit dies gelinge, müssten alle Parteien ihre maximalistischen Ziele zurückschrauben und zu Kompromissen bereit sein. Im Lichte der neuesten Ereignisse und angesichts der aktuell unüberbrückbaren Differenzen ist allerdings fraglich, ob dieser vor sechs Jahren geäußerte Vorschlag in naher Zukunft umsetzbar ist.
Dennoch schildert das Buch von Charap und Colton ausgewogen und detailreich die komplexe innen- wie außenpolitische Gemengelage im postsowjetischen Eurasien. Es kann als eine mahnende Erinnerung gelesen werden, dass eine konstruktive, durchdachte Politik in dieser Region über drei Jahrzehnte die Regel und nicht die Ausnahme hätte sein müssen, um Stabilität und Frieden zu garantieren. Stattdessen haben alle Seiten die meiste Zeit über die Durchsetzung ihrer eigenen Ziele priorisiert, auf Kosten der anderen Akteure. Die fatalen Folgen davon haben wir heute vor Augen.