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SPECIAL INPUT: Todd Shepard

Dekolonisierung als produktives Vergessen

Von 1954 bis 1962 führte Frankreich einen blutigen Krieg in Algerien, vor allem gegen die Algerische Nationale Befreiungsfront (FLN). Frankreichs Niederlage im Algerienkrieg gilt als Schlüsselmoment der Dekolonisierungsprozesse im 20. Jahrhundert. Im Interview mit te.ma spiegelt Todd Shepard, einer der führenden Frankreichhistoriker, den russisch-ukrainischen Krieg im Lichte der algerischen Erfahrung. Ein Gespräch über falschen Optimismus, die nachträgliche Erfindung der Dekolonisierung und die produktive Kraft des Vergessens in Nachkriegsgesellschaften.

Ukraine: Krieg

Die Fragen stellten Friedrich Asschenfeldt, Doktorand am History Department der Princeton University, und Sebastian Hoppe aus der Fachkuration des Kanals Ukraine: Krieg.

FA: Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine wird oft als Dekolonisierungskrieg dargestellt. Was kann man aus Ihrer Forschung zur Dekolonisierung Frankreichs nach dem Algerienkrieg über den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine lernen?

TS: Bis vor kurzem war ich zurückhaltend, was die Übertragbarkeit des Begriffs „Dekolonisierung“ (décolonisation) auf Prozesse über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus angeht. Besonders wichtig erschien mir immer, dass der Begriff zu einem bestimmten Zeitpunkt entstand. In meinem Buch versuche ich unter anderem zu zeigen, dass der Begriff „Dekolonisierung“ unter anderem dazu diente, einige der schwierigsten Aspekte der Kolonialgeschichte Frankreichs und anderer europäischer Länder zu verschweigen. Im französischen Kontext wurde Dekolonisierung als eine Art unvermeidliche Entwicklung dargestellt, die angeblich mit der Französischen Revolution begonnen hatte. Dabei war Dekolonisierung der Versuch, etwas, das für die Franzosen (genauso wie für die Niederländer, die Briten und die Belgier) eine Niederlage war, in eine gute Sache und etwas Beruhigendes zu verwandeln. Die Anwendung des Konzepts auf andere Kontexte jenseits der Mitte des 20. Jahrhunderts würde, so habe ich noch bis vor kurzem gedacht, dazu führen, dass die Spezifität des Begriffs verloren geht und seine Widersprüche verdeckt würden. Gleichzeitig gibt es neuere wissenschaftliche Arbeiten, etwa über den Zerfall des spanischen Imperiums infolge der napoleonischen Kriege im frühen 19. Jahrhundert, die in wichtigen Punkten Entwicklungen aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts vorwegnehmen. Beispielsweise war diese Zeit radikaler als angenommen, Menschen waren anschließend sehr enttäuscht und warfen in der Folge Fragen auf, die oft rassistisch motiviert waren.

„Dabei war Dekolonisierung der Versuch, etwas, das für die Franzosen (genauso wie für die Niederländer, die Briten und die Belgier) eine Niederlage war, in eine gute Sache und etwas Beruhigendes zu verwandeln.“

Daher halte ich mittlerweile die breitere Anwendung des Begriffs Dekolonisierung für durchaus nützlich. Mir scheint, dass der ukrainische Fall, und vielleicht der postsowjetische Moment im weiteren Sinne, in vielerlei Hinsicht Parallelen mit der algerischen Situation aufweist.

SH: Die Parallelen scheinen offensichtlich zu sein. Wie die „Revolution der Würde“ 2013/14 auf dem Maidan war auch die Algerische Revolution das Ergebnis eines langwierigen Kampfes um die Unabhängigkeit von der französischen Metropole. Der Topos , dass Algerien und Frankreich eine Nation sind, die sogar in der französischen Verfassung von 1958 verankert ist, ähnelt Putins Rhetorik.  Ihm zufolge seien Russland und die Ukraine „ein Volk“, wie er in einem Artikel vom Juni 2021 behauptete. Zudem leben in der Ukraine ethnische Russen – eine Parallele zu einer Million sog. Pieds-noirs in Algerien. Ergeben sich hieraus fruchtbare Vergleiche zwischen beiden Episoden?

TS: Es ist wichtig, diese Gemeinsamkeiten zu sehen. Ich bin sicher, dass die historischen Beziehungen zwischen beiden Ländern noch enger waren als zwischen Frankreich und Algerien. Aber auch Frankreich hat in den 132 Jahren, in denen Algerien eine französische Kolonie war, sehr starke Bindungen aufgebaut. Wie der Anspruch Moskaus auf die Ukraine findet man auch in den französischen Quellen Verweise auf die Einheit zwischen Frankreich und Algerien, begründet durch eine weit zurückreichende gemeinsame Vergangenheit, insbesondere mit Rückgriff auf Augustinus und die katholische Kirche. Die arabischen Invasionen Algeriens wurden so interpretiert, als hätten sie die tiefen, ethnischen, kulturellen und religiösen Verbindungen zwischen Frankreich und Algerien gestört. Diese Denkmuster sind typisch für den Kolonialismus des späten 19. Jahrhunderts.

FA: Wie kam es zu der Idee, dass Algerien und Frankreich zwei Teile einer Nation sind?

TS: Man muss sich klarmachen, dass Algerien unter den kolonialen Besitztümern Frankreichs insofern herausragt, als es zum Teil des nationalen Territoriums erklärt wurde. Denn als Algerien in den 1830er Jahren französisch wurde, war die Idee des Kolonialismus infolge der Unabhängigkeitsbewegungen lateinamerikanischer Staaten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts diskreditiert. Algerien wurde daher nicht als Kolonie, sondern als Teil Frankreichs gesehen und Algerier zu französischen Staatsbürgern erklärt. Ein gewisser Anteil der algerischen Bevölkerung besaß die aktive französische Staatsbürgerschaft. Die Stimmen der Algerier zählten, es gab algerische Künstler und algerische Politiker, die in Frankreich eine wichtige Rolle spielten. Gleichzeitig wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, um den Anteil der europäischen Bevölkerung zu erhöhen, mit dem Ziel, dass diese die algerische Bevölkerung „übertreffen“ werde.

Das Bemerkenswerte am algerischen – und vielleicht auch am ukrainischen – Fall ist: Es ist der koloniale Raum, der im Prozess der Dekolonisierung fast die gesamte Aufmerksamkeit des Zentrums auf sich zieht. Der französische Anspruch auf Algerien intensivierte sich genau zu dem Zeitpunkt, als der Imperialismus in weiten Teilen der restlichen Welt als verlorenes Unterfangen galt. Hier liegt möglicherweise eine Parallele zu Russlands Umgang mit der Ukraine im Vergleich zum russischen Umgang mit anderen ehemaligen Sowjetrepubliken.

„Das Bemerkenswerte am algerischen – und vielleicht auch am ukrainischen – Fall ist: Es ist der einzige unter allen ehemaligen kolonialen Räumen, der die gesamte Aufmerksamkeit des Zentrums auf sich zieht.“

FA: Wie hat sich das Verhältnis zwischen Frankreich und Algerien verändert, als die großen europäischen Imperien nach 1945 zerfielen?

TS: In den 1950er Jahren wurden enorme Anstrengungen unternommen, um Algerien „französischer“ zu machen. Und zwar genau dann, wie wir aus heutiger Sicht wissen, als für einen Großteil der Welt der Imperialismus eine gescheiterte Sache war. Zu einer Zeit, als Indien bereits unabhängig war, Ghana kurz vor der Unabhängigkeit stand und Kambodscha und Vietnam schon nicht mehr französisch waren, bestanden die meisten Beobachter innerhalb und außerhalb Frankreichs immer noch darauf, dass Algerien ein integraler Bestandteil Frankreichs sei. Selbst die französische Linke war damals nur insofern antikolonial eingestellt, als dass sie von den Folterungen und Misshandlungen durch französische Soldaten und Beamte schockiert war. Gleichzeitig leugnete sie eine eigenständige algerische Identität. Vor 1961 konnte sich so gut wie niemand in der französischen Verwaltung und nur wenige französische Intellektuelle – Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir sind nennenswerte Ausnahmen – mit dem Gedanken anfreunden, dass Algerien kein Teil Frankreichs sein werde. Französische Kommentatoren waren überzeugt, dass richtig sei, dass Algerien zu Frankreich gehöre, und dass jeder Versuch, es Frankreich zu entreißen, etwa durch die USA oder die UdSSR, einer Katastrophe für Algerien und Frankreich gleichkäme.

SH: Vor der Dekolonisierung stand also eine letzte Intensivierung der Integrationsbemühungen?

TS: Ganz genau. Bis 1961 war die Anerkennung der algerischen Unabhängigkeit für die meisten Franzosen einfach undenkbar. Da Algerien nie als richtige Kolonie betrachtet wurde, gab es nach dem Zweiten Weltkrieg Bestrebungen, alle Algerier zu vollwertigen Bürgern Frankreichs zu erklären. Als 1954 der Krieg begann, ging sogar die Algerische Nationale Befreiungsfront (FLN) davon aus, dass Algerien seine Unabhängigkeit als Teil einer Föderation mit anderen Maghreb- oder afrikanischen Staaten, vielleicht sogar mit Frankreich selbst erreichen würde. Herrschaftsräume wie die Sowjetunion oder die Vereinigten Staaten waren zu diesem Zeitpunkt wichtige Vorbilder.

Heute hingegen wird oft so getan, als habe die Ära der Dekolonisierung unausweichlich zu Nationalstaaten geführt. Doch wie Frederick Cooper und andere Historiker gezeigt haben, sahen viele Menschen damals die Zukunft ganz anders. Richtig ist, dass sie auf die nationale Selbstbestimmung fixiert waren. Das bedeutete jedoch nicht zwangsläufig einen nationalstaatlichen Rahmen: So wurden mit der Verfassung von 1958 alle bestehenden rechtlichen Unterschiede zwischen Algeriern und Franzosen beseitigt. Ein Teil der Geschichte der algerischen Dekolonisierung ist die völlig unerwartete Niederlage der föderalistischen Vision.

„Indem man den Verlust Algeriens als Teil einer unvermeidlichen historischen Entwicklung darstellte, konnte man vermeiden, sich mit diesem Verlust auseinanderzusetzen.“

SH: In einem denkbaren Szenario erkennt die russische Elite irgendwann an, dass die Ukraine ein unabhängiger Staat ist. Wie kam es dazu, dass die französischen Eliten Algerien nicht mehr als unverzichtbar, sondern als einen von Frankreich unabhängigen Staat ansahen?

TS: In The Invention of Decolonization versuche ich zu zeigen, wie Algerien zum paradigmatischen Fall der Dekolonisierung wurde, obwohl es zuvor eher als absolute Ausnahme unter den französischen imperialen Besitztümern galt. Was ich als Erfindung der Dekolonisierung bezeichne, ist der Schock, als man Ende 1961 feststellte, dass es keine Erklärung für das eigene Handeln gibt. Die französische Regierung beschloss einfach, dass das Imperium zu Ende ist; man legte einfach fest, dass das Imperium nun nicht mehr existierte. Der Begriff, auf den die Beteiligten immer wieder zurückgriffen, war der Lauf der Geschichte (courant de l'histoire) – so als gäbe es nichts, was man gegen die Dekolonisierung tun könne. Das Argument lautete, dass alle dekolonisiert würden, deshalb müsse man sich auch selbst diesem Prozess fügen. Man hatte keine logische Erklärung, warum Frankreich seinen Anspruch auf Algerien aufgab. Die Figur der Dekolonisierung ließ es zu, den Verlust als Sieg darzustellen.

„Was ich als ‚Erfindung der Dekolonisierung‘ bezeichne, ist der Schock, als man Ende 1961 feststellte, dass es keine Erklärung für das eigene Handeln gibt. Die französische Regierung beschloss einfach, dass das Imperium zu Ende ist.“

Indem man den Verlust Algeriens als Teil einer unvermeidlichen historischen Entwicklung darstellte, konnte man vermeiden, sich mit diesem Verlust auseinanderzusetzen. Man entledigte sich so der Vorstellung, dass Frankreich besiegt worden war, obwohl dies eindeutig der Fall gewesen war. Ab dem Zeitpunkt, als Algerien nicht mehr Teil des Imperiums war, wurde die koloniale Vergangenheit Frankreichs totgeschwiegen. Der Umstand wiederum, dass Frankreich nun nicht mehr über Algerien herrschte, ermöglichte es dem Land, sich als weiße europäische Nation darzustellen. Und zwar viel deutlicher als in der Vergangenheit!

SH: Lassen Sie uns auf die Rolle der Gewalt in diesem Prozess schauen. Sie schreiben, die französischen Eliten hätten im Verlauf des militärischen Konflikts in Algerien Dekolonisierung als unvermeidlich und Teil des universellen historischen Fortschritts angesehen. Frankreich verlor in dieser Zeit 75.000 Soldaten in Vietnam und 17.000 Soldaten in Algerien. Welche Bedeutung hatte die Gewalt für den Prozess der Dekolonisierung? Wirkte sich das Soldatensterben auf die öffentliche Meinung aus? Inwiefern trug die öffentliche Empörung über die Gräueltaten französischer Soldaten zur Delegitimierung französischer Herrschaft in Algerien bei?

TS: Angesichts des Ausmaßes der französischen Repression wäre die Algerische Nationale Befreiungsfront (FLN) ohne Gewaltanwendung sicher nicht erfolgreich gewesen. Die explizite Anwendung anti-imperialer Gewalt, etwa in Form von Terror, war eine Reaktion auf französische Angriffe gegen Zivilisten. Sie inspirierte anti-koloniale Nationalisten in der gesamten arabischen Welt und darüber hinaus. Der Sieg der Algerischen Revolution war auch der Strategie der permanenten Gewalt zu verdanken, die zu willkürlichen französischen Reaktionen führte, etwa der systematischen Anwendung von Folter. Die Gewalt sowohl der FLN als auch der französischen Behörden war also für die Herausbildung des algerischen Nationalstaats von ganz entscheidender Bedeutung.

Die Gewaltakte lenkten die internationale Aufmerksamkeit auf Algerien. Und die FLN nutzte die Gewalt unglaublich effektiv, um einen internationalen Konsens darüber herzustellen, dass Algerien unabhängig sein müsse. Dadurch wurde Frankreich in Zugzwang gebracht. Militärisch war Frankreich der FLN weitgehend überlegen. Allerdings war letztere in der Lage, einen anhaltenden paramilitärischen Kampf zu führen, der internationale Aufmerksamkeit erzeugte und Frankreich somit unter Druck setzte.

FA: Kann man sagen, dass die menschlichen Kosten des Krieges und der französischen Herrschaft in Algerien für Frankreich letztlich zu hoch wurden?

TS: Nein. Das Ausmaß der Gewalt in Algerien ist auch in keiner Weise mit dem in der Ukraine heute zu vergleichen. Wir sprechen hier von 17.000 französischen Opfern. Das ist durchaus beachtlich. Aber was die Situation in Algerien zu einem schwerwiegenden politischen Thema in Frankreich machte, waren weniger die toten Soldaten als vielmehr die Einberufung französischer Bürger aus der Großstadt zum Militärdienst in Algerien. Fast alle männlichen Franzosen einer Generation waren in den späten 1950er Jahren in Algerien. Alle Klassenbesten Frankreichs wurden automatisch nach Algerien gebracht, um dort an Schulen zu unterrichten. Eine ganze Generation junger Intellektueller und Spitzenbeamter wurde nach Algerien geschickt. Jede französische Familie hatte plötzlich eine tiefe Verbindung zu diesem Teil der Welt. Die Regierung musste also ihren Bürgern erklären, was ihre Söhne oder Ehemänner dort taten, und sie musste dem Ganzen einen Sinn geben.

„Was die Situation in Algerien zu einem schwerwiegenden politischen Thema in Frankreich machte, waren weniger die toten Soldaten als vielmehr die Einberufung französischer Bürger aus der Großstadt zum Militärdienst in Algerien.“


SH: In Anbetracht des Verlusts Algeriens begannen französische Eliten ab 1960, über die imperiale Vergangenheit als Teil der französischen Geschichte zu schweigen, obwohl Algerien über 130 Jahre zu Frankreich gehört hatte. Wie funktioniert ein solches „produktives Vergessen“?

TS: Der Begriff des „produktiven Vergessens“ ist meine Reaktion auf die Behauptung einiger Forscher, dass die Franzosen durch die Gewalt des Krieges und insbesondere die französischen Gräueltaten so traumatisiert gewesen seien, dass sie nicht mehr über Algerien sprechen konnten. Ich zeige jedoch, dass die französische Regierung sehr bewusst „Dekolonisierung“ als neues Paradigma einführte. So ermöglichte sie den Menschen, nicht mehr über Algerien sprechen zu müssen und die Verbindungen nach Algerien vergessen zu können. Ein Teil der Anziehungskraft des Begriffs Dekolonisierung bestand darin, dass er den Franzosen erlaubte, die Vorstellung der Niederlage zu tilgen. Produktives Vergessen bedeutet aktives Auslöschen. Es erlaubt den Menschen weiterzuleben, aber es hinterlässt auch viele Leerstellen.

„Ein Teil der Anziehungskraft des Begriffs Dekolonisierung besteht darin, dass er den Franzosen erlaubt, die Vorstellung der Niederlage zu tilgen.“

SH: Uns scheint, dass dies auch ein Szenario für das Nachkriegsrussland sein könnte, obwohl es derzeit wenig diskutiert wird. Intellektuelle wie Alexander Etkind haben maximalistische Zukunftsszenarien entworfen, nach denen Russland einen Prozess der bewussten Dekolonisierung mit allen Konsequenzen durchlaufen müsse. Sie hingegen zeigen, dass eine Möglichkeit darin besteht, das Imperium und die damit einhergehende Gewalt einfach zu vergessen.

TS: Die Betonung von Wahrheit und Versöhnung (truth and reconciliation), die sich nach 1989 vor allem als Lehre aus dem Beispiel Südafrikas herausgebildet hat, ist hier nicht unbedingt hilfreich. Algerier und Franzosen haben sich nie auf solch einen Prozess eingelassen. Frankreich hat die Debatte über die Gräueltaten des Krieges einfach abgebrochen. Auch in Algerien ist es heute nach wie vor illegal, öffentlich über die Gewalttaten zu sprechen, die während des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren verübt wurden.

Im Allgemeinen würde ich sagen, dass keineswegs klar ist, dass Wahrheit und Versöhnung automatisch zu Gerechtigkeit und besseren Gesellschaften führen. Historisch sehen wir, dass es durchaus die Möglichkeit gibt, weiterzuleben, indem man dafür sorgt, dass Menschen nicht mehr über die schrecklichen Dinge sprechen, die geschehen sind.

„Produktives Vergessen bedeutet aktives Auslöschen. Es erlaubt den Menschen weiterzuleben, aber es hinterlässt auch viele Leerstellen.“

FA: In Anlehnung an das Werk des Philosophen Étienne Balibar kritisieren Sie die „falsche Einfachheit der Zwei“ (false simplicity of two bzw. fausse simplicité du deux): die künstliche Trennung von Kolonie und Metropole. In der Russland- und Ukraine-Forschung sehen wir seit 2014 wieder mehr Dichotomien. Im Hinblick auf die Vergangenheit und Gegenwart Russlands und der Ukraine, deren Bevölkerungen und Eliten jahrhundertelang eng miteinander verwoben waren, scheint uns eine der zentralen Herausforderungen zu sein, nicht in solch ein vereinfachendes Denken zu verfallen. Inwiefern kann uns die Warnung vor der „falschen Einfachheit der Zwei“ dabei weiterhelfen?

TS: Es kostete Balibar und die politische Tradition, in der er stand, unglaublich viel Mühe und Blut sich dafür einzusetzen, dass Algerien und Frankreich nicht Teil einer Nation sind – dass Frankreich nicht der Souverän in Algerien war und es nicht sein sollte. Balibar nannte den französischen Herrschaftsanspruch, der sich auf der Vorstellung Frankreichs und Algeriens als einer Nation gründete, die „falsche Einfachheit des Einen“ (fausse simplicité du un). Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die Behauptung, es handele sich um zwei voneinander getrennte Nationen mit zwei völlig unterschiedlichen Geschichten, eine Verkennung der Realität sei. Das galt vor allem für Frankreich, das ignorierte, wie tiefgreifend die Besetzung Algeriens und die Mitwirkung der Algerier an der französischen Geschichte waren. Balibar schlug daher vor, die Geschichte Algeriens und Frankreichs als „weder eins noch zwei“ zu betrachten. Die Herausforderung besteht darin anzuerkennen, dass politische Gemeinschaften spezifische Entwicklungswege und Regierungsformen haben können, ohne in die Falle der „falschen Einfachheit der Zwei“ zu tappen, also jene Vorstellung, dass es zwischen diesen beiden Bevölkerungen und diesen beiden Räumen nichts Gemeinsames gebe. Für Historiker stellt sich also die Frage, wie man einen artikulierten Anspruch auf „Nationalstaatlichkeit“ ernst nehmen und gleichzeitig der Idee verpflichtet bleiben kann, dass unterschiedliche Geschichten zusammenwirken.

„Es ist keineswegs klar, dass Wahrheit und Versöhnung automatisch zu Gerechtigkeit und besseren Gesellschaften führen. Historisch sehen wir, dass es durchaus die Möglichkeit gibt, weiterzuleben, indem man dafür sorgt, dass Menschen nicht mehr über die schrecklichen Dinge sprechen, die geschehen sind.“

FA: Sie behaupten, der Begriff der Dekolonisierung verleihe hochgradig kontingenten Ereignissen den Mantel der historischen Unvermeidbarkeit. Derzeit ist die Idee der Dekolonisierung als „Lauf der Geschichte“ wieder weit verbreitet. Der Historiker Serhii Plokhy argumentierte zum Beispiel bei Ausbruch des Krieges: „Wenn uns die Geschichte eines lehrt, dann dass jedes Imperium irgendwann untergehen muss.“ Glauben Sie, dass er Recht hat? Oder gibt es möglicherweise einen falschen Optimismus hinsichtlich des unausweichlichen Endes aller Imperien im 21. Jahrhundert?

TS: Ich fürchte, dieser Optimismus führt ins Leere. Ich verstehe Imperien eher als Staatsform. Und ich bin sehr skeptisch, was die Funktionsweise und Einzigartigkeit von Nationalstaaten angeht. Alle Staaten, ob imperial oder national, sind an der Reproduktion und Stabilisierung von Hierarchie und Herrschaft interessiert. Und alle Staaten scheitern. Einfach zu begrüßen, dass ein weiterer Nationalstaat entsteht oder sich konsolidiert, und dies als unvermeidlich zu betrachten, geht meiner Meinung nach an der zentralen Frage vorbei: Warum passieren Dinge zu bestimmten Zeitpunkten und aus bestimmten Gründen? Ich glaube nicht, dass hier der „Lauf der Geschichte“ am Werk ist. Imperien brechen zusammen, aber einige von ihnen sind sehr, sehr langlebig.

FA: Stellt der Algerienkrieg ein Modell für das Ende eines Imperiums dar?

TS: Sicherlich bietet die Dekolonisierung Frankreichs ein Modell für einen Ausstieg aus dem Imperium. Sie basierte vor allem auf Lügen und der Bereitschaft der übrigen Welt, diesen Prozess zuzulassen. Sie ist zudem eine fruchtbare Möglichkeit, über den Umgang mit einer Niederlage nachzudenken: Die Algerier bekamen, was sie wollten, und die Franzosen konnten weiterziehen. Tatsächlich nutzte de Gaulle die Dekolonisierung Frankreichs, um den Staat neu zu gestalten: Große Teile der Institutionen der heutigen Französischen Republik bildeten sich parallel zur Unabhängigkeit Algeriens und waren beeinflusst vom rechtlichen Prozess der Abspaltung Algeriens von Frankreich. Was Frankreich schließlich half, seine imperiale Nostalgie zu überwinden, waren die Trente Glorieuses, die dreißig „glorreichen“ Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs, der Ende der 1950er Jahre begann. Hierdurch wurden viele Probleme gelöst. Die Probleme zwischen Frankreich und Algerien blieben zwar bestehen, trotzdem sind die Beziehungen zwischen den beiden Ländern nach wie vor eng. Die algerische Bevölkerung ist auch heute noch an Frankreich interessiert und eng mit dem Land verbunden.

„Ich hoffe sehr, dass Russland seine imperialen Ambitionen aufgibt. Eine Niederlage wäre hierfür sehr hilfreich.“

SH: Die Niederlage in Algerien war entscheidend, um Frankreichs imperialen Kurs zu beenden, ohne dass das Land sein Selbstverständnis als Grande Nation aufgeben musste. De Gaulle behielt seine Macht und Frankreich spielte auf der Weltbühne weiterhin eine Rolle als „kleine Großmacht“. Muss auch Russland besiegt werden, damit es eine Großmacht bleiben kann? Ist der Schock der Niederlage notwendig, um imperiale Ambitionen aufzugeben und dennoch weiterhin als Großmacht ernst genommen zu werden?

TS: Ich hoffe sehr, dass Russland seine imperialen Ambitionen aufgibt. Eine Niederlage wäre hierfür sehr hilfreich. Gleichzeitig scheinen es aber die imperialen Denkweisen auf russischer Seite unmöglich zu machen, die ukrainischen Positionen ernst zu nehmen und nicht als zutiefst bedrohlich aufzufassen. Ein deutlicher Rückschlag wäre also für Russland notwendig. Ich bin sehr skeptisch gegenüber vielen meiner Freunde aus bestimmten Teilen der Linken oder aus Algerien. Ihre vernünftige Kritik an den Vereinigten Staaten führt nicht selten dazu, dass sie die Ukraine für einen Marionettenstaat halten, der einen Stellvertreterkrieg im Namen der USA führt. Ich denke, das ist schlichtweg unzutreffend. Gleichzeitig ist Russland nicht das erste Land, das gegen das Völkerrecht verstößt. So wie die Franzosen nicht die ersten waren, die massive Gewalt gegen Zivilisten eingesetzt haben.

Gleichzeitig scheint es mir aber auch wichtig zu sein, dass Russland als Akteur auf der Weltbühne bestehen bleibt. Russland verfügt zweifellos über die Ressourcen, um ein Land zu sein, das auch jenseits des Imperiums überleben kann. Es könnte viel mehr aus sich machen, wenn es seine Energie auf die innere Entwicklung konzentrieren würde. Das Land verfügt über einen reichen Schatz an kulturellen, historischen und politischen Erfahrungen, die auf der Weltbühne durchaus von Nutzen sein könnten, würden sie friedlich zum Tragen kommen.

Aus dem Englischen von Sebastian Hoppe und Friedrich Asschenfeldt.

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Als Kontingenz bezeichnet man in der Soziologie die Offenheit historischer Prozesse und menschlicher Lebenserfahrungen. Der Begriff bringt zum Ausdruck, dass etwas nie vollkommen notwendig oder absolut unmöglich ist, sondern prinzipiell auch anders möglich ist.

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