Die Schweiz ist ein Land mit vier Amtssprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. Es handelt sich hier um eine sogenannte „territoriale Mehrsprachigkeit“, denn die Sprachen sind über die Regionen ungleich verteilt und nicht alle Menschen, die in der Schweiz leben, sprechen alle vier Sprachen. Die meisten Kantone sind einsprachig. So wird im Südwesten typischerweise Französisch gesprochen, z.B. im Kanton Genf, während man im Nordosten verschiedene Dialekte des Schwyzerdütschen
Die Stadt präsentiert sich nach außen als zweisprachig. Bezüglich der Amtssprachen ist die Bevölkerung zu 57 Prozent deutschsprachig und zu 43 Prozent französischsprachig. Eine Stichprobenerhebung der tatsächlich genutzten Sprachen aus dem Jahr 2018 fand jedoch heraus, dass die Hauptsprachen der Stadt diverser und wie folgt verteilt sind: 48,6 Prozent Deutsch, 43,7 Prozent Französisch, 9,6 Prozent Italienisch und 31,1 Prozent andere Sprachen (Mehrfachnennungen möglich). Scarvaglieri bemerkt in Bezug auf die Menschen, die eine „andere“ Sprache sprechen: „Diese Gruppe ist also fast so groß wie die frankophone, bleibt in der Selbstdarstellung der Stadt jedoch unerwähnt.“
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Bei genauerer Beobachtung der Kommunikation in Geschäften der Stadt Biel/Bienne wird deutlich, dass Französisch zwar vor allem auf Hinweis- und Willkommensschildern sichtbar ist, aber spontane Äußerungen und Texte (wie temporäre Änderungen der Öffnungszeiten) zumeist nur auf Deutsch produziert werden. Als Fallbeispiel wird ein Friseursalon herangezogen, in dem der Autor das alltägliche Geschäft beobachtete und Interviews mit Mitarbeitenden führte:
„So wird auch auf die Frage eines frankophonen Vertreters für Haarprodukte nach Französischkenntnissen auf Deutsch reagiert („Nein. Äh, Deutsch? Ein bisschen?“), das Verkaufsgespräch findet anschließend auf Deutsch, mit einigen englischen Einsprengseln, statt. Französisch wird also in diesem Fall nach außen hin sichtbar gemacht, für konkrete Interaktionen hingegen wird das Deutsche verwendet.“
Dass der Inhaber und mehrere Mitarbeitende des Salons auch Albanisch sprechen und die Sprache untereinander nutzen, fand der Autor erst durch mehrmaliges Nachfragen heraus, da Albanisch vorwiegend hinter verschlossenen Türen verwendet werde. Offenbar werden Sprechende anderer Sprachen nicht dazu ermutigt, diese hör- und sichtbar zu machen. Im Gegenteil: In medialen Diskursen würden zusätzliche Sprachen (wie z.B. Englisch oder Sprachen von Migrant*innen) oftmals als Bedrohung für die Zweisprachigkeit dargestellt.
In Biel/Bienne sei die Unterstützung der Zweisprachigkeit gleichzusetzen mit der Förderung von nur einer Sprache, nämlich der französischen, stellt Scarvaglieri fest. Dies geschieht z.B. durch das Forum für die Zweisprachigkeit (Forum du bilinguisme). An seiner konsequenten Schreibweise in Anführungszeichen („die Zweisprachigkeit“) wird deutlich, dass der Autor das Konzept der Zweisprachigkeit als ideologisches Konstrukt kennzeichnen möchte. Er kritisiert, dass die tatsächliche sprachliche Diversität der Stadt durch die sprachpolitische Förderung und Vermarktung der Zweisprachigkeit versteckt werde.
Eine Ideologie der Zweisprachigkeit wird also laut Scarvaglieri der Realität der Bevölkerung nicht unbedingt gerechter als eine Ideologie der Einsprachigkeit. In beiden Fällen werden zusätzliche Sprachen ausgeklammert, um eine Einheit der Bevölkerung zu suggerieren. Es stellt sich die Frage, ob dieses Fazit auch für andere bilinguale Städte zutreffend sein könnte. Ein Vergleich mit anderen Städten in Ländern mit mehreren Amtssprachen, z.B. Luxembourg (Stadt) oder Moncton in Kanada könnte aufdecken, welche Rolle die Geschichte des jeweiligen Landes und die sozio-politischen Bedingungen für die Sprachideologien spielen.