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Martin Krohs stellt vor:

Ist die Gender-Grammatik biologisch vorherbestimmt? Eine Antwort auf Josef Bayer

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Ist die Gender-Grammatik biologisch vorherbestimmt? Eine Antwort auf Josef Bayer

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Geschrieben von Martin Krohs

Bei te.ma veröffentlicht 07.12.2022

Geschrieben von Martin Krohs
Bei te.ma veröffentlicht 07.12.2022

Sind die tiefen grammatischen Strukturen unserer Sprache biologisch festgelegt und damit nicht modifizierbar? Oder handelt es sich um Konventionen, die auch umgelernt werden können? Und was bedeutet das eine oder das andere für die Problematik des Genderns? Ein Schlagabtausch zwischen zwei maßgeblichen deutschen Linguisten.

Seit vielen Jahrzehnten schwelt in der Linguistik ein Streit zwischen den Vertretern einer Universalgrammatik à la Noam Chomsky und ihren Gegnern. Er dreht sich im Kern um die Frage, ob grundlegende sprachliche Regeln auf ererbte kognitive Strukturen zurückgehen oder ob sie von jedem Menschen neu erlernt werden. Ein wichtiger Hinweis auf das Erste ist die Geschwindigkeit, mit der Kinder beliebige Sprachen lernen: Ohne einen bereits vorhandenen, den Spracherwerb vorstrukturierenden „Sprachinstinkt“ wäre diese Leistung kaum vorstellbar.1 

Beispiel für eine universelle und ggf. kognitiv / biologisch vorgegebene Regel, die nach Chomsky (Phrasenstrukturgrammatik) für alle Sprachen gelten müsste: die Satzbildung aus Nominalphrase (NP) und Verbalphrase (VP).

Andererseits sprechen die gravierenden Unterschiede zwischen den Grammatiken der existierenden Sprachen und die Tatsache, dass die menschliche Sprache relativ spät in der Evolution auftauchte (vermutlich beginnend vor ca. 150.000 Jahren), gegen eine starke genetische Fixierung der sprachlichen Strukturen.

Für das Gendern werden diese Fragen dann relevant, wenn man auch sprachliche Kategorien wie Kasus, Numerus und vor allem Genus als universell und genetisch vorbedingt betrachtet. Es hätte dann wenig Sinn, mit einer geschlechtergerechten Sprachreform an ihrem Funktionieren rütteln zu wollen.

Einen solchen Ansatz der natürlichen Vorgegebenheit der Sprachstrukturen vertrat 2019 in einem kämpferischen Aufsatz in der NZZ der Konstanzer Linguist Josef Bayer. Er schrieb: „Dass beim grammatischen Geschlecht die maskuline Form dominiert, ist eine Eigengesetzlichkeit der Sprache, die mit Männern, Frauen, Herrschaft und Dominanz nichts zu tun hat.“ Es sei zwar richtig, dass Sprache sich wandle, aber „niemals in Richtung Unfug“. Die Idee, dass wir Menschen eine Grammatik oder ein phonologisches System selbst aktiv umgestalten oder gar neu erfinden könnten, sei „etwa so absurd, wie zu sagen, dass der Mensch das Schultergelenk oder den Haarwuchs erfunden habe.“

Auf Bayers Artikel antwortete zwei Tage später auf seinem Blog der Linguist Martin Haspelmath, der unter anderem den Weltatlas der Sprachstrukturen mitverantwortet. Er kritisiert Bayers physiologische Metapher: „Schultergelenk und Haarwuchs sind biologisch bedingt, aber ebenso wie Jacken und Haartracht sind auch die grammatischen Regeln weitgehend kulturell variabel. [...] Was das grammatische Genus angeht, so wissen wir sehr wenig über seine kulturelle oder gar biologische Bedingtheit. Es gibt in keiner Ecke der Linguistik eine erklärende Theorie des Genus – was wir wissen, besteht im wesentlichen darin, dass es in allen Erdteilen Sprachen mit Genus gibt, aber die Variation ist enorm.“

Sprachen mit geschlechtsbasiertem Genussystem (rot), nicht-geschlechtsbasiertem Genussystem (blau) und ohne Genussystem (weiß). Sprachen mit nicht-geschlechtsbasiertem Genussystem nutzen Genus zum Beispiel, um zwischen „belebt“ und „unbelebt“ zu unterscheiden. Quelle: World Atlas of Language Structures

Dementsprechend ist Haspelmath auch, im Gegensatz zu Bayer, der Ansicht, dass sich Grammatik verändern lässt und dass sich in Hinblick auf das Gendern „die Dinge langsam aber beharrlich in die richtige Richtung entwickeln: Es entsteht ein immer größeres Bewusstsein dafür, dass die traditionelle deutsche Sprache Personen sehr oft aus männlicher Perspektive darstellt (wie es Luise Pusch schon in ihrem bahnbrechenden Buch von 1984 gezeigt hat). Und es werden verschiedene Verbesserungen vorgeschlagen, diskutiert und immer mehr auch praktiziert.“

Zwei Argumente prallen aufeinander, die aus der Debatte ums Gendern wohlbekannt sind: das Contra-Argument, das sich auf die Natürlichkeit der Sprache beruft (von selbst Entstandenes modifizieren zu wollen, ist aussichtslos), und das Pro-Argument, das auf ihre Künstlichkeit verweist (was gemacht wurde, kann auch anders gemacht werden). Besser empirisch belegt, das darf man wohl sagen, ist in diesem Fall die zweite Position. Aber hilft das etwas? Auch sie sagt nichts darüber aus, wie wir die Sprache sinnvollerweise zu verändern hätten – und ob überhaupt.

Dennoch ist diese Kontroverse der beiden Linguisten (in der auch Jakobsons Markiertheitstheorie eine Rolle spielt) überaus aufschlussreich, weil sie vor Augen führt, in welch hohem Maße auch fachlich-linguistische Einschätzungen zum Thema Gendern von den jeweiligen Forschungsprogrammen2 beeinflusst werden.3

Haspelmaths Post wirft aber auch ein Licht auf diesen Linguistenstreit selbst: „Tatsächlich aber haben natürlich beide Seiten irgendwie recht“, schreibt der Autor, „­­[...] In der Praxis aber funktioniert die Linguistik leider meistens anders. Die Chomskyaner setzen einfach voraus, dass die wesentlichen Merkmale der Grammatik angeboren ist, und die andere Seite gesteht nicht einmal eine minimale Biogrammatik zu. Zwischen den beiden Seiten besteht eine Sprachlosigkeit, die es schwer möglich macht, in der Sache voranzukommen.“

Mitunter gelingt es gerade älteren Beiträgen der Sprachforschung, ein solches „Irgendwie-Rechthaben“ beider Seiten in eine treffende Metapher zu gießen. So verglich der Schweizer Sprachforscher und Pädagoge Hans Glinz die Sprache mit dem weitverzweigten Gebäudekomplex einer Fabrik, der vor langer Zeit „nach gewissem Plane begonnen und seither unter mehrfacher Änderung des Planes immer weitergebaut worden ist, wobei oft die nicht zum neuen Plan stimmenden früheren Teile nicht abgerissen, sondern nur notdürftig angepaßt wurden und dann in ganz anderem Zusammenhang eine Funktion erhielten, für die sie ursprünglich nicht angelegt waren, und wo umgekehrt auch die neuen Teile selten aus ganz neuem Baumaterial aufgeführt wurden, sondern aus Balken, Fenstern, Türen, ja ganzen Raumeinheiten früherer Bauteile, die man an ihrem alten Platz und in ihrer alten Funktion nicht mehr brauchen konnte.“

Der Sprachwandel präsentiert sich bei Glinz also als ein ständiger, das Bestehende fortwährend zweckentfremdender Sprach-Umbau, bei dem auch eine Kategorie wie das grammatische Genus immer wieder neue Funktionen übernehmen kann. Vielleicht mangelt es gerade der festgefahrenen öffentlichen Debatte an solchen plastischen Vorstellungsbildern, die allen Parteien Anknüpfungspunkte bieten und so zumindest einen gewissen common ground stiften könnten. 

Dass eine öffentliche Diskussion unabdingbar ist, darüber sind sich auch die Linguisten einig. Unter Haspelmaths Blogbeitrag kommentiert die Grammatikerin Gisela Zifonun, die selbst das generische Maskulinum den Praktiken der geschlechtergerechten Sprache vorzieht: „Sozial und politisch motivierte Neuerungen müssen sich erst einmal bewähren; ein sprachsystematischer und kultureller Stresstest ist angesagt.“ Und Haspelmath antwortet: „Ich finde eine politische Diskussion darüber, ob man in staatlichen oder öffentlichen Institutionen wie dem ÖRR diesen Tendenzen folgen sollte, sehr wichtig, denn viele Menschen finden die gendersensible Sprache nicht wichtig oder sind davon genervt. Aber aus der Sicht der Sprachwissenschaft können wir zu dieser politischen Diskussion nicht viel beitragen, denke ich. Das ist eine Frage für die Gesellschaft.“

Fußnoten
3

The Language Instinct: How the Mind Creates Language (1994) ist ein Buch des Linguisten und Kognitionswissenschaftlers Steven Pinker, der ebenso wie Chomsky zu den linguistischen „Nativisten“ zählt, also die These vertritt, dass die Grundzüge der sprachlichen Kognition angeboren sind.

Josef Bayer hat ebenfalls noch einmal auf Haspelmaths Kritik geantwortet. In seiner Replik macht er klar, dass auch er selbst keine Position der absoluten, vom Menschen nicht beeinflussbaren Natürlichkeit von Sprache vertritt. Er weist aber darauf hin, dass sich bezüglich des Sprachvergleichs sein eigenes Forschungsprogramm von dem des Typologen Haspelmath unterscheide und stärker die Gemeinsamkeiten zwischen Sprachen in den Blick rücke: „Dass Sprache, weil vom Menschen in vielfältigster Hinsicht gebraucht, sich anders darstellt als eine externe natürliche Art, ist jedem klar. Daraus zu schließen, dass der Mensch die Sprache geschaffen hat und sie nach Belieben ändern kann, muss grundfalsch sein. Ein Indiz dafür ist u.a., dass sich Sprachen viel zu ähnlich sind. Schriftsysteme sind dagegen kulturell. Es sind geniale Erfindungen der Menschheit, und sie unterscheiden sich dramatisch. Typologen sehen gerne die sprachliche Verschiedenheit. Ich sehe dagegen für ein wissenschaftliches Programm gerne die sprachliche Gemeinsamkeit.“

Genauer aufgeschlüsselt wurde das kürzlich auf dem Blog Linguistische Werkstattberichte.

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Verwandte Artikel

Das Genus oder deutsch das grammatische Geschlecht ist eine besonders auffällige Kategorie des deutschen Sprachsystems, da es die Substantive betrifft und Substantive diejenigen Wörter sind, mit denen wir die Dinge beim Namen nennen. Die Genera des Deutschen sind das Femininum, Maskulinum und Neutrum.

Noam Chomsky (*1928) ist einer der bekanntesten Linguisten der Gegenwart und hat sich auch als Medientheoretiker und politischer Aktivist einen Namen gemacht. In Abgrenzung zu behavioristischen Theorien des Spracherwerbs, die annahmen, dass der Mensch keine besondere genetische „Sprachausstattung“ mitbringt, entwickelte er seit den 1950er Jahren seine These der Universalgrammatik und verschiedene Versionen der Generativen Grammatik. Chomskys Modelle sind rein syntaktisch und abstrakt, was in den 1970er Jahren zu den Linguistic Wars mit Vertretern der stark semantisch-inhaltsorientierten kognitiven Linguistik geführt hat (etwa George Lakoff).

Die Markiertheitstheorie des russischen Linguisten Roman Jakobson (1896 – 1982), der dem Strukturalismus zuzurechnen ist, ist ein anderer immer wiederkehrender Streitpunkt in der Debatte ums Gendern. Laut ihr ist die männliche Form der meisten personenbezogenen Substantive, etwa „Kunde“, die unmarkierte, einfachere, „natürlichere“ Form, die von ihr (durch Movierung) abgeleitete weibliche Form „Kundin“ die markierte. Josef Bayer argumentiert, dass unmarkierte Formen wie „Kunde“ zur Bezeichnung aller außersprachlichen Geschlechter verwendet werden können.

Hans Glinz (1913–2008) war Ordinarius für Deutsche Philologie an der RWTH Aachen und Mitglied des Wissenschaftlichen Rats des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim. Sein Hauptwerk Die innere Form des Deutschen. Eine neue deutsche Grammatik (1952), aus dem auch das angeführte Zitat stammt, hat beträchtlichen Einfluss auf die deutsche Grammatikschreibung ausgeübt. Da Sprache weder regelhaft (systematisch) noch regellos (unsystematisch) ist, nannte Glinz sie ein Systemoid. Hier lassen sich Anklänge an die Theorie des Sprachwandels von Rudi Keller finden, derzufolge die Sprache ein Phänomen dritter Art ist, das weder gänzlich „künstlich“ ist noch gänzlich „natürlich“. Auf Keller nimmt Haspelmath in seinem Blogpost ebenfalls Bezug. 

Zu Hans Glinz siehe die Dissertationsschrift von Marta Zlobinska-Görtz an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf von 2018.

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