Die Mitgliedstaaten der EU haben die russische Invasion unmittelbar nach Kriegsbeginn verurteilt. Zudem haben sie Maßnahmen ergriffen, die Russland politisch und ökonomisch bestrafen und der Ukraine helfen sollen, ihre Souveränität und territoriale Integrität zu verteidigen – Prinzipien, denen sich europäische Staaten seit langem verschrieben haben. Gleichzeitig gibt es auch in Europa eine langjährige Tradition der Neutralität in Kriegszeiten.
Als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg sind offiziell bisher nur Finnland und Schweden von ihrem neutralen Status abgerückt. Selbst ohne eine Einigung über ihren endgültigen Beitritt zum Bündnis
Pignal schenkt insbesondere der neutralen Position der Schweiz große Aufmerksamkeit. Er erkennt zwar an, dass es keinen großen Unterschied für das Kriegsgeschehen machen würde, wenn das kleine Alpenland mit nur neun Millionen Einwohnern seine Neutralität ablegen und militärisch für Kyjiw Partei ergreifen würde. Ein Aspekt wäre für die Ukraine dennoch von Relevanz: Die Schweizer Neutralität bedeute nämlich, dass keine dort hergestellten Waffen in Kriegsgebiete geliefert werden dürfen. Ländern, die Schweizer Waffen besitzen, sei es verboten, diese ohne eine Genehmigung zu exportieren. So erging es seit Kriegsbeginn etwa Deutschland, Dänemark und Spanien.
Österreich wird vom Economist-Kolumnisten dafür kritisiert, dass es wie die Schweiz seinen neutralen Status beibehalten wolle, um zum Beispiel als Vermittler bei zukünftigen Friedensgesprächen zwischen Russland und der Ukraine zu fungieren. Laut dem Neutralitätsforscher Pascal Lottaz haben neutrale Staaten traditionell diese Rolle übernommen. Ungeachtet großer öffentlicher Kritik machte der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer im Mai 2022 nach den Ankündigungen Schwedens und Finnlands, der Nato beizutreten, klar: „Österreich war neutral, ist neutral und bleibt neutral.“ Jedoch hat sich die Ausgestaltung dieser Neutralität seit Februar 2022 gewandelt: Wien weigert sich zwar nach wie vor, Waffen in die Ukraine zu liefern, ist aber in geplante EU-weite Initiativen hin zu einer Verteidigungsstrategie sowie, gemeinsam mit der Schweiz, in die europäische Luftverteidigung mit eigenen Raketen und Drohnen eingebunden.
Auch im Falle des offiziell neutralen Irlands bemängelt Pignal, es habe statt Waffen lediglich Erste-Hilfe-Pakete in die Ukraine geliefert. Was hier unerwähnt bleibt, ist, dass es in Irland seit Kriegsbeginn durchaus eine Diskussion über die Zukunft seines neutralen Status gibt. Zuletzt fand in Dublin im Juni 2023 eine Debatte zwischen der Regierungskoalition und der linken Opposition über die Frage statt, ob das Land seine neutrale Politik ändern solle. Auch andere Gegenbewegungen werden vom Economist-Artikel unterschlagen: So hat beispielsweise Dänemark angesichts des Krieges in der Ukraine im Juni 2022 in einem historischen Referendum für die Teilnahme an der EU-Sicherheitspolitik gestimmt und damit eine 30-jährige Ausnahmeregelung aufgehoben. Nun können sich auch dänische Truppen an EU-Militäreinsätzen beteiligen.
Russlands Angriff auf die Ukraine hat eine Doppelbewegung in der Neutralitätsfrage ausgelöst: Während die meisten Länder des Globalen Südens, darunter Brasilien, Indonesien und Indien, versuchen, eine unparteiische Position einzunehmen, brechen europäische Staaten wie Finnland und Schweden sowie in geringerem Maße auch Dänemark mit ihrer traditionellen neutralen Haltung.
Trotz einiger Auslassungen in seiner Analyse ist die Botschaft von Pignal klar: Inmitten eines europäischen Kriegs können sich einzelne Staaten Neutralität nicht mehr leisten. Am Beispiel der USA zeigt er, es ist historisch nichts Neues, dass Staaten ihre Position zur Neutralität ändern: Die USA hätten in den 1930er Jahren