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Warum Neutralität in Europa ein Auslaufmodell ist

Re-Web
Stanley Pignal2023
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Warum Neutralität in Europa ein Auslaufmodell ist

»Europe’s “neutral” countries are having to adapt to the new world«

Inhalte

Intro

Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 11.09.2023

te.ma DOI 10.57964/mv9c-qh89

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 11.09.2023
te.ma DOI 10.57964/mv9c-qh89

Russlands Angriff auf die Ukraine hat in Europa eine Diskussion über staatliche Neutralität entfacht. Länder wie Finnland und Schweden haben ihre Neutralitätspolitik überdacht und sich für einen Nato-Beitritt entschieden. Für Stanley Pignal ist klar: In der neuen sicherheitspolitischen Lage sollten auch andere traditionell neutrale Staaten Europas diesen Weg gehen. 

Die Mitgliedstaaten der EU haben die russische Invasion unmittelbar nach Kriegsbeginn verurteilt. Zudem haben sie Maßnahmen ergriffen, die Russland politisch und ökonomisch bestrafen und der Ukraine helfen sollen, ihre Souveränität und territoriale Integrität zu verteidigen – Prinzipien, denen sich europäische Staaten seit langem verschrieben haben. Gleichzeitig gibt es auch in Europa eine langjährige Tradition der Neutralität in Kriegszeiten.1 Die neutrale Position einiger EU-Mitgliedstaaten steht jedoch in einem Spannungsverhältnis zu den gegen Russland verhängten Maßnahmen und der militärischen Unterstützung der Ukraine. Stanley Pignal behauptet, dass Neutralität inmitten der russischen Aggression gegen einen Nachbarstaat eine viel zu einfache Antwort auf eine komplexe geopolitische Situation sei. Eine neutrale Position einzunehmen bedeute in letzter Konsequenz, gleichgültig gegenüber der eigenen Sicherheit zu sein. Denn in der Ukraine werde auch die Sicherheit Europas verteidigt. Der Neutralitätsansatz wirke dadurch im besten Fall naiv. 

Als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg sind offiziell bisher nur Finnland und Schweden von ihrem neutralen Status abgerückt. Selbst ohne eine Einigung über ihren endgültigen Beitritt zum Bündnis2 stand laut Pignal mit Kriegsbeginn schnell fest, dass beide Länder ihre Neutralität aufgeben und sich unmissverständlich für eine Seite entscheiden würden. Finnland erklärte zum Beispiel bereits vor seiner offiziellen Aufnahme ins Militärbündnis im Januar 2023, zusammen mit anderen Verbündeten der Ukraine moderne Leopard-2-Kampfpanzer zur Verfügung zu stellen. Schweden unterzeichnete gemeinsam mit Finnland noch 2022 ein Abkommen über gegenseitige Sicherheitsgarantien mit dem Nato-Mitglied Großbritannien. 

Pignal schenkt insbesondere der neutralen Position der Schweiz große Aufmerksamkeit. Er erkennt zwar an, dass es keinen großen Unterschied für das Kriegsgeschehen machen würde, wenn das kleine Alpenland mit nur neun Millionen Einwohnern seine Neutralität ablegen und militärisch für Kyjiw Partei ergreifen würde. Ein Aspekt wäre für die Ukraine dennoch von Relevanz: Die Schweizer Neutralität bedeute nämlich, dass keine dort hergestellten Waffen in Kriegsgebiete geliefert werden dürfen. Ländern, die Schweizer Waffen besitzen, sei es verboten, diese ohne eine Genehmigung zu exportieren. So erging es seit Kriegsbeginn etwa Deutschland, Dänemark und Spanien.3 Der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck kritisierte daraufhin die strikte Neutralitätspolitik der Schweiz und wies im Einklang mit Pignals Argumentation darauf hin, diese hätte vor allem Russland begünstigt.4 

Österreich wird vom Economist-Kolumnisten dafür kritisiert, dass es wie die Schweiz seinen neutralen Status beibehalten wolle, um zum Beispiel als Vermittler bei zukünftigen Friedensgesprächen zwischen Russland und der Ukraine zu fungieren. Laut dem Neutralitätsforscher Pascal Lottaz haben neutrale Staaten traditionell diese Rolle übernommen. Ungeachtet großer öffentlicher Kritik machte der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer im Mai 2022 nach den Ankündigungen Schwedens und Finnlands, der Nato beizutreten, klar: „Österreich war neutral, ist neutral und bleibt neutral.“ Jedoch hat sich die Ausgestaltung dieser Neutralität  seit Februar 2022 gewandelt: Wien weigert sich zwar nach wie vor, Waffen in die Ukraine zu liefern, ist aber in geplante EU-weite Initiativen hin zu einer Verteidigungsstrategie sowie, gemeinsam mit der Schweiz, in die europäische Luftverteidigung mit eigenen Raketen und Drohnen eingebunden

Auch im Falle des offiziell neutralen Irlands bemängelt Pignal, es habe statt Waffen lediglich Erste-Hilfe-Pakete in die Ukraine geliefert. Was hier unerwähnt bleibt, ist, dass es in Irland seit Kriegsbeginn durchaus eine Diskussion über die Zukunft seines neutralen Status gibt. Zuletzt fand in Dublin im Juni 2023 eine Debatte zwischen der Regierungskoalition und der linken Opposition über die Frage statt, ob das Land seine neutrale Politik ändern solle. Auch andere Gegenbewegungen werden vom Economist-Artikel unterschlagen: So hat beispielsweise Dänemark angesichts des Krieges in der Ukraine im Juni 2022 in einem historischen Referendum für die Teilnahme an der EU-Sicherheitspolitik gestimmt und damit eine 30-jährige Ausnahmeregelung aufgehoben. Nun können sich auch dänische Truppen an EU-Militäreinsätzen beteiligen. 

Russlands Angriff auf die Ukraine hat eine Doppelbewegung in der Neutralitätsfrage ausgelöst: Während die meisten Länder des Globalen Südens, darunter Brasilien, Indonesien und Indien, versuchen, eine unparteiische Position einzunehmen, brechen europäische Staaten wie Finnland und Schweden sowie in geringerem Maße auch Dänemark mit ihrer traditionellen neutralen Haltung. 

Trotz einiger Auslassungen in seiner Analyse ist die Botschaft von Pignal klar: Inmitten eines europäischen Kriegs können sich einzelne Staaten Neutralität nicht mehr leisten. Am Beispiel der USA zeigt er, es ist historisch nichts Neues, dass Staaten ihre Position zur Neutralität ändern: Die USA hätten in den 1930er Jahren Neutralität proklamiert, sich aber 1941 durch Waffenlieferungen im Rahmen des Lend-Lease-Gesetzes auf die Seite der Alliierten gestellt. Allerdings war es der japanische Angriff auf Pearl Harbor, der die USA dazu gezwungen hat, ihre Neutralität offiziell aufzugeben. Es bleibt zu hoffen, dass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine keine ähnliche Entwicklung nimmt. 

Fußnoten
4

Karen Devine: Neutrality and the development of the European Union’s common security and defence policy. In: Cooperation and Conflict. Band 46, Nr. 3, 2011, S. 334–369. https://doi.org/10.1177/0010836711416958 

Mitte Mai 2022 haben Finnland und Schweden gemeinsam ihre Anträge für einen Nato-Beitritt eingereicht. Eigentlich wollten sie gleichzeitig aufgenommen werden, doch während Finnland bereits Mitglied ist, verzögert sich die Aufnahme Schwedens, auch wenn diese nach wie vor sehr wahrscheinlich ist. Der türkische Präsident Erdogan war lange gegen den Beitritt Schwedens, auf dem Nato-Gipfel in Litauen im Juli 2023 soll er jedoch zugesagt haben, Schwedens Beitritt zu unterstützen. Dieser könnte nun im Herbst erfolgen.

Deutschland wollte der Ukraine Munition für den Gepard-Flugabwehrpanzer weitergeben. Dänemark hatte vor, die in der Schweiz hergestellten Piranha-III-Schützenpanzer zu liefern, und Spanien hatte angekündigt, zwei Schweizer Flugabwehrkanonen zu exportieren. Der Schweizer Bundesrat hat dem jedoch eine Absage erteilt. Denn erstens verbietet das Schweizer Kriegsmaterialgesetz direkte Lieferungen an Kriegsländer, inklusive der Weitergabe von früher exportiertem Material. Zweitens schreibt das Schweizer Neutralitätsrecht vor, dass die Schweiz alle Kriegsparteien gleich behandeln müsse und folglich im Falle einer Exportfreigabe an die Ukraine auch einer solchen Freigabe an Russland nicht im Weg stehen dürfte. Am 2. Juni 2023 stimmte das Schweizer Parlament mehrheitlich gegen einen Antrag, eine Ausnahmeregelung für die Ukraine zu treffen. 

Allerdings erwähnt Pignal, dass die Schweiz die Ukraine unterstützt, indem sie die von der EU verhängten Sanktionen gegen Russland weitgehend übernahm. Unter anderem hat sie den Handel mit russischem Öl eingestellt, auch wenn teilweise Zweifel an der Einhaltung von Sanktionen bestehen.  

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In den Jahren 1935, 1936, 1937 und 1939 erließ die Regierung der Vereinigten Staaten Gesetze - die sog. Neutrality Acts - die verhindern sollten, dass die USA in einen ausländischen Krieg verwickelt werden. Darin wurden die Bedingungen für die Neutralität der USA klar festgelegt. Im Oktober 1941, als sich die Vereinigten Staaten verpflichteten, den Alliierten durch Lend-Lease zu helfen, versuchte Präsident Franklin D. Roosevelt, bestimmte Teile des Gesetzes aufzuheben. Letztendlich wurden die Bestimmungen des Neutralitätsgesetzes irrelevant, als sich die Vereinigten Staaten im Dezember 1941 den Alliierten im Kampf gegen Nazideutschland und Japan anschlossen.

Mit dem sog. Leih- und Pachtgesetz unterstützten die Vereinigten Staaten ihre Verbündeten im Zweiten Weltkrieg mit Kriegsmaterial. Präsident Franklin D. Roosevelt hatte die USA bereits im Juni 1940 verpflichtet, dem Vereinigten Königreich Material zu liefern, aber nach geltendem US-Recht musste das europäische Land seine Waffenkäufe bei den USA mit Bargeld bezahlen. Im Sommer 1940 warnte der neue britische Premierminister Winston Churchill, dass sein Land das nicht mehr lange werde tun können. Daraufhin schlug Roosevelt am 8. Dezember 1940 das Konzept des Lend-Lease vor, im März 1941 wurde es als Gesetz verabschiedet. Es gab dem US-Präsidenten die Befugnis, jedem Land zu helfen, dessen Verteidigung für die Vereinigten Staaten wichtig war, und dafür eine Rückzahlung in Form von Sachleistungen oder anderen direkten oder indirekten Vorteilen zu akzeptieren. Obwohl das Lend-Lease-Gesetz in erster Linie zur Unterstützung des Vereinten Königreichs erlassen worden war, wurde es im April 1941 auf China und im September 1941 auf die Sowjetunion ausgedehnt.

Am 7. Dezember 1941 griff eine japanische Kriegsflotte den US-amerikanischen Marinestützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii mit Bomben und Torpedos an. Das Ziel der japanischen Führung bestand darin zu verhindern, dass die USA gegen die japanischen Pläne vorgehen konnte, Gebiete in Asien zu erobern. Insgesamt kamen bei dem Angriff mehr als 3.500 Menschen ums Leben oder wurden verletzt. Die Vereinigten Staaten erklärten Japan daraufhin umgehend den Krieg. Weniger Tage später folgte die Kriegserklärung Hitlers an die USA. Von nun an kämpften die USA gemeinsam mit den Allierten gegen Nazideutschland.

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