„Gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit ist viel beständiger, als wir dachten.“ Ein Gespräch mit Nicholas Mulder und Janis Kluge

In den vergangenen 100 Jahren haben sich Sanktionen zu einem festen Bestandteil der Außenpolitik entwickelt. Neben Waffenlieferungen sind sie das wichtigste Instrument, mit dem westliche Regierungen auf Russlands Einmarsch in die Ukraine reagiert haben. Im Gespräch mit te.ma werfen der Historiker Nicholas Mulder und der Ökonom Janis Kluge einen ausführlichen Blick auf die Bilanz der Sanktionen, die Bedeutung weltwirtschaftlicher Großlagen und die Unterschiede zwischen Wissenschaft und Politikberatung.

Ukraine: Krieg

Die Fragen stellte Sebastian Hoppe aus der Fachkuration des Kanals Ukraine: Krieg

Sebastian Hoppe (SH): Mehr als ein Jahr nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine herrscht Uneinigkeit darüber, ob die daraufhin erlassenen Sanktionen als Erfolg zu werten sind. Haben die Maßnahmen ihr Ziel erfüllt? Und was ist dieses Ziel überhaupt?

Nicholas Mulder (NM): Es ist zu früh, die Geschichte dieses Kriegs zu schreiben. Jedoch erscheinen mir die Ereignisse auf dem Schlachtfeld, die Logistik des Kriegs und das Teilen von Geheimdienstinformationen wichtiger für den Ausgang des Konflikts zu sein als Sanktionen. Das bedeutet nicht, dass Sanktionen keine Rolle spielen, aber ich würde sie nur als dritt- oder vielleicht viertwichtigsten Faktor einstufen. Allerdings spricht einiges dafür, dass die Auswirkungen der Sanktionen mit der Zeit an Bedeutung gewinnen werden.

Die Einschätzung von Sanktionen ist eng mit unseren Erwartungen verbunden. Nur wenige haben damit gerechnet, dass dieser Krieg überhaupt ausbricht. Viele dachten gar, er wäre mit einem russischen Sieg innerhalb weniger Wochen zu Ende. Als dann schnell umfangreiche Sanktionen verhängt wurden und sich zahlreiche Länder beteiligten, waren wir im Westen davon beeindruckt und hatten unrealistische Erwartungen. Jetzt, nach einem Jahr, erkennt man das längerfristige historische Muster: Die meisten Sanktionen, die nicht schnell wirken, wirken am Ende entweder gar nicht oder brauchen sehr lange, um Wirkung zu entfalten.

Janis Kluge (JK): Sanktionen scheinen oft eine intuitive Reaktion zu sein. Erst später beginnt man, nach greifbaren Zielen zu suchen und diese an bestimmte Rationalitäten zu knüpfen. Diese Rationalisierung ist meist defizitär, weil bei der Verhängung von Sanktionen deren Wirkung nicht absehbar ist. Insofern waren die politischen Erklärungen der ersten Kriegswochen sehr vage. Sanktionen sind aber auch ein Instrument der Kommunikation gegenüber dem Rest der Welt und der eigenen Bevölkerung. Viele Wähler*innen in Deutschland beispielsweise wollen Russlands Krieg nicht finanzieren. Sanktionen erlauben, diesen Willen umzusetzen, indem sie dafür sorgen, dass die Deutschen mit dem Gang zur Tankstelle keine russischen Panzer finanzieren.

Wir haben erst nach der Verhängung von Sanktionen begonnen, nach greifbaren Zielen zu suchen und diese an bestimmte Rationalitäten zu knüpfen.

Eine wichtige Funktion von Sanktionen besteht nicht zuletzt darin, unsere Glaubwürdigkeit zu wahren, denn wir haben Sanktionen vor dem Krieg als Drohkulisse benutzt. Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges ging es dann darum, mit einem ökonomischen Schock möglicherweise auf Putins Kalkül einzuwirken. Vielleicht haben auch einige gehofft, dass die Sanktionen innerhalb Russlands zu mehr Widerstand gegen den Krieg führen. Eine solche Wirkung bezweifle ich aber.

Russlands Kriegsführung hingegen wäre ohne Sanktionen viel einfacher. Sanktionen sind eine Bürde, etwa für den russischen Haushalt. Auch für die Rüstungsindustrie sind sie ein Problem. Das räumt auch der Chef des militärisch-industriellen Konglomerats Rostec, Sergey Chemezov, öffentlich ein. Ich stimme Nicholas zu, dass langfristig die wirtschaftlichen Ressourcen, die Russland zur Verfügung stehen, eine größere Rolle spielen werden. Und an dieser Stelle werden Sanktionen wichtiger.

SH: Es war von Beginn der russischen Invasion an klar, dass Nato-Staaten nicht direkt militärisch eingreifen würden. Sind Sanktionen also das letzte verbliebene „zivile“ Instrument der Kriegsführung?

NM: Man kann Sanktionen nicht isoliert von der Weltwirtschaft verstehen. Ein kontrafaktisches Beispiel: Die USA verfolgten im Krieg gegen den Irak 2003 zwar nicht die gleichen Ziele wie Wladimir Putin in der Ukraine, aber auch der Irakkrieg begann mit einer für alle sichtbaren Verletzung der territorialen Integrität eines Staates. Man kann sich fragen: Hätte es ein internationales Gremium gegeben, das tatsächlich Sanktionen gegen die USA hätte verhängen können? Wären solche Sanktionen technisch überhaupt umsetzbar gewesen? Gibt es beispielsweise umfangreichen Auslandsbesitz oder Auslandsvermögen der USA, die als Sanktionsgegenstände in Frage kämen? Macht man dieses Gedankenexperiment, stellt man sehr schnell fest, dass Sanktionen eine genuin westliche Waffe sind. Selbstverständlich setzen auch China und Russland Wirtschaftssanktionen ein. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass sie jemals die Sanktionsfähigkeit des Westens erreichen werden. Denn die Infrastruktur der Weltwirtschaft wurde maßgeblich von den USA und europäischen Ländern geschaffen. Aus dieser Perspektive ist es naheliegend, dass wir Sanktionen nutzen. 

Die Infrastruktur der Weltwirtschaft wurde maßgeblich von den USA und europäischen Ländern geschaffen.

Das Erstaunliche ist, dass Putin – wie wir mittlerweile durch die Berichte der Financial Times und anderer Zeitungen wissen – im Januar 2022 ein Treffen mit German Gref, dem Chef der Sberbank, und Elvira Nabiullina, der Gouverneurin der Russischen Zentralbank, hatte. Sie legten in allen Einzelheiten dar, welche Schäden die Sanktionen anrichten würden. Putin entschied sich dennoch für Krieg.

Ich habe oft den Eindruck, dass wir unsere eigenen Maßstäbe auf Russland projizieren. Unsere Gesellschaften würden mit gutem Recht die Art von wirtschaftlichem Druck und den Schaden, den wir mit den Sanktionen in Russland verursachen, als unerträglich empfinden. Im Falle Russlands haben wir jedoch ein wirklich eindrucksvolles Gegenbeispiel. Alles, was Putin von seinen Berater*innen wissen wollte, war, wie der Schaden verringert werden kann.

SH: Herr Mulder, in Ihrem Buch stellen Sie die These auf, dass sich westliche Sanktionen und das Streben von Autokraten nach Autarkie in der Vergangenheit gegenseitig verstärkt haben. Haben es die vergleichsweise schwachen Sanktionen von 2014 Russland ermöglicht, sich auf umfassendere Maßnahmen vorzubereiten?

NM: In der Zwischenkriegszeit, insbesondere in den 1930er Jahren, gab es einen Teufelskreis zwischen Sanktionen und Autarkiebestrebungen. Zwar war es auch damals nicht gelungen, das faschistische Italien durch Androhung von Sanktionen vom Einmarsch in Äthiopien abzuhalten. Es war dennoch beeindruckend, als 1935 mit dem Völkerbund das erste Mal eine internationale Organisation Sanktionen gegen einen Aggressor verhängte. Das Sanktionsregime war sogar viel hermetischer als das heutige gegen Russland, da sich 52 der damals 60 souveränen Staaten der Welt angeschlossen hatten.

Heute stellt sich die Situation anders dar: Im Unterschied zur Großen Depression der 1930er Jahre wächst die Weltwirtschaft, wenn auch langsam. Im Vorlauf des Zweiten Weltkriegs hingegen hatten revisionistische Mächte wie Deutschland, Italien und Japan viele Gründe, die bestehende Ordnung in Frage zu stellen. Ein sich massiv verschlechterndes globales Handelsumfeld und die wahrgenommene Möglichkeit, autark zu werden, beschleunigten die Aufrüstung und die Bereitschaft zu militärischen Risiken.

Wenn man heute also in Moskau oder Peking glaubt, dass die Weltwirtschaft weiterhin jedes Jahr stark wachsen wird, sind die Opportunitätskosten, nicht an ihr teilzunehmen, sehr hoch. In den 1930er Jahren hingegen erschienen die Kosten für die ja oft sehr teuren und ineffizienten Autarkieprogramme verkraftbar. Ich denke allerdings nicht, dass wir in diese zerstörerische Spirale geraten, solange wir ein solides globales Wirtschaftsmanagement aufrechterhalten können. 

Wenn man heute in Moskau oder Peking glaubt, dass die Weltwirtschaft weiterhin jedes Jahr stark wachsen wird, sind die Opportunitätskosten, nicht an ihr teilzunehmen, sehr hoch.

JK: Putin hat viel größeres Vertrauen in die wirtschaftliche Souveränität Russlands als seine Wirtschaftsberater. Ich sehe nicht, dass Russland seit 2014 viel getan hat, was es tatsächlich auf die Sanktionen des Jahres 2022 vorbereitet hätte. Zwar gibt es mittlerweile ein inländisches Äquivalent zu SWIFT. Allerdings hat man viel Zeit damit verbracht, Reserven anzuhäufen, die dann durch Sanktionen eingefroren wurden. Das war also nicht die beste Vorbereitung. Für russische Unternehmen war es sowieso nie attraktiv, eine Politik der Importsubstitution und der wirtschaftlichen Souveränität zu verfolgen – das war bestenfalls eine Möglichkeit, staatliche Mittel zu vereinnahmen. Nimmt man die Statistiken von 2021, so war etwa Russlands Importabhängigkeit vom Westen bei Dienstleistungen in den Bereichen IT und Kommunikation immer noch enorm.

Das Problem des Westens ist weniger die Sanktionspolitik an sich. Es liegt eine Ebene höher. Die allgemeine Wahrnehmung dessen, was für ein Akteur Russland ist, hätte sich viel stärker ändern müssen. Die deutsche Wirtschafts- und Gaspolitik liefen den Absichten der verhängten Sanktionen entgegen.

Im Nachhinein betrachtet war es falsch, 2014 nach der Annexion der Krim kein deutlicheres Signal gesetzt zu haben. Die wirklich schmerzhaften Finanzsanktionen wurden erst drei bis sechs Monate nach der Annexion verhängt, um den Krieg im Donbass zu beenden. Dass damals die Krim nicht zu härteren Folgen geführt hat, war ein massiver Fehler. Russland hat daraus nicht nur den Schluss gezogen, dass Annexionen im 21. Jahrhundert in Europa relativ problemlos möglich sind. Moskau hat auch die behördlichen und politischen Verfahren entwickelt und erprobt, die es jetzt zur Eingliederung besetzter Gebiete erneut anzuwenden versucht. Die gewaltsame Veränderung international anerkannter Grenzen ist für Russland zur Routine geworden.

Im Nachhinein betrachtet war es falsch, 2014 nach der Annexion der Krim kein deutlicheres Signal gesetzt zu haben.

SH: Trotz der russischen Politik und der Sanktionen seit 2014 hat Europa seine Abhängigkeit von Russland weiter erhöht.

JK: Man muss hier auf jeden Fall differenzieren. Es gab einige Staaten wie Deutschland, die das gezielt vorangetrieben haben, während andere Staaten und auch Brüssel in die andere Richtung wollten. Eine Abhängigkeit von Russland teilen aber alle: die vom russischen Erdöl. Wir sind davon abhängig, dass russisches Öl auf den Weltmarkt gelangt, auch wenn wir es nicht mehr direkt importieren. Ohne Russland würde das Angebot schlicht nicht ausreichen und die Preise würden auch bei uns explodieren. Das ist auch eine Folge westlicher Klimapolitik, die zu weniger Investitionen in die Ölförderung jenseits von autoritären Staaten wie Russland oder Saudi Arabien geführt hat. Dieser Faktor schränkt im Moment unsere Sanktionspolitik ein. Das wiederum bedeutet, dass wir nicht den gesamten russischen Handel abschneiden und auch nicht alle Banken von SWIFT ausschließen können. 

NM: Janis spricht eine interessante Entdeckung an. Einige Staaten, allen voran China und Russland, wollen wirtschaftliche Souveränität erreichen, andere die Effektivität von Sanktionen maximieren. Für beide stellt sich derzeit heraus, dass die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit viel beständiger und viel schwieriger zu durchbrechen ist, als wir dachten. Was wir unterschätzt haben, ist eine Eigenschaft unserer modernen Weltwirtschaft, die sowohl unsere als auch Russlands Anpassungsfähigkeit erklärt: Es gibt ausreichend viel zur Verfügung stehende Ressourcen in der Weltwirtschaft, nicht unbedingt nur in den westlich dominierten Handelsbeziehungen, sondern auch im asiatischen Wirtschaftsraum, auf die Russland über Drittländer zurückgreifen konnte.

Für Sanktionierende und Sanktionierte stellt sich derzeit heraus, dass die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit viel beständiger ist, als wir dachten.

Im Frühjahr und Sommer 2022 waren die meisten davon überzeugt, dass der kommende Winter schrecklich werden würde. Es gab eine Menge Rezessionsängste. Es stellte sich heraus, dass wir nicht nur unsere Gasspeicher schneller als gedacht auffüllen konnten. Auch unsere Wirtschaftsleistung war viel besser als erwartet. Die überraschende Verfügbarkeit von Ressourcen im Welthandel war allerdings nicht nur für die EU positiv, sondern half auch Russland, sich anzupassen.

SH: Wir haben also erst gelernt, wie tief die gegenseitige Abhängigkeit tatsächlich ist, als wir sie zur Waffe gemacht haben?

JK: In der Tat. Die Arbeit mit Sanktionen ist ein ständiger Lernprozess. Das gilt insbesondere für die EU. In den USA hingegen gibt es bereits verschiedene Institutionen, die sich mit Sanktionen befassen, zum Beispiel das Office of Foreign Asset Control (OFAC). Die größte Entwicklung beobachten wir bei der Durchsetzung von Sanktionen (enforcement). Ein enger nationaler Ansatz lässt den Sanktionierten viel Spielraum für Umgehung (circumvention).

Die Alternative ist ein Ansatz, der auf sog. Sekundärsanktionen setzt. Im Kern besteht er darin, dass man Sanktionsbrechern droht. Ein Lerneffekt des Kriegs ist zu realisieren, dass man über den engen Ansatz hinausgehen muss. Denn die Geschichte von Russlands Widerstandsfähigkeit ist auch eine Geschichte der erfolgreichen Umgehung von Sanktionen.

Nicholas weist zu Recht auf den globalen Kontext hin, denn es gibt einen großen Unterschied zwischen 2022 und 2014. 2022 gab es die Erholung der Weltwirtschaft von Corona und damit eine relative Verknappung verfügbarer natürlicher Ressourcen. Energie wurde dadurch sehr teuer und der Spielraum für Sanktionen war begrenzt. 2014 hingegen fiel der Ölpreis über das Jahr um 50 Prozent. Infolgedessen wurden die Auswirkungen der westlichen Sanktionen gegen Russland noch verstärkt. Durch die verstärkenden Effekte der Weltwirtschaft kann man beim Blick auf einige russische Statistiken den Eindruck gewinnen, dass 2014 die härteren Sanktionsrunden waren.

Im Umkehrschluss bedeutet das mittelfristig aber auch nichts Gutes für Russland. Sollte die Weltwirtschaft in den kommenden Jahren eine erneute Wendung nehmen und relative Energieknappheit in -überfluss umschlagen, wartet eine weitere Krise auf das Land.

NM: Ich würde dem gern zwei Punkte hinzufügen. Zum einen hat Russland einen so großen Anteil an der Weltwirtschaft, dass es den Westen vor ein Problem stellt: Zurückliegende Sanktionspakete auf dem Ölmarkt gegen den Iran und Venezuela waren zwar für sich genommen weltwirtschaftlich nicht wichtig. Sie haben aber die Möglichkeiten im Umgang mit Russland eingeschränkt. Allein die Tatsache, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) mittlerweile Sanktionen überwacht, zeigt, dass die Russland-Sanktionen ein wichtiger Faktor für die globale Wirtschaftsentwicklung sind. Gleichzeitig waren frühere Sanktionen so effektiv darin, Ölexporte von den Weltmärkten fernzuhalten, dass wir dieselbe Option nun mit Russland nicht mehr haben. Deshalb hat man sich unter den G7 letztendlich nur auf eine Preisobergrenze geeinigt. Würden wir mit Russland wie mit Iran und Venezuela verfahren, wären 25 Prozent des globalen Ölmarkts praktisch unzugänglich. Das wollen wir aber selbst nicht.

Zum anderen konzentriert sich unsere Debatte sehr stark auf den neuesten Stand der Technik, vor allem Chips und Halbleiter. Das hat dazu geführt, dass wir die Auswirkungen einiger Sanktionen überschätzt haben. Auch im Finanzbereich waren einige in den Monaten vor dem Krieg besessen von SWIFT und einem Ausschluss Russlands. SWIFT ist aber letztendlich nur ein Kommunikationssystem, das man durch andere Systeme ersetzen kann, wenn man will.

Die Vorstellung, dass es eine „nukleare Option" in der Sanktionspolitik gäbe, spiegelt eher die Technophilie einiger westlicher Eliten wider. In Wirklichkeit sind Finanzsanktionen viel weniger wirksam als erwartet. Es gibt kein Patentrezept gegen ein Land wie Russland.

Die Vorstellung, dass es eine „nukleare Option“ in der Sanktionspolitik gäbe, spiegelt eher die Technophilie einiger westlicher Eliten wider. In Wirklichkeit sind Finanzsanktionen viel weniger wirksam als erwartet.

SH: Haben die Erfahrungen mit Sanktionen in der jüngeren Geschichte zu institutionellen Lerneffekten in westlichen Staaten geführt? Nach dem Ersten Weltkrieg wechselten viele der sanktionserfahrenen Bürokrat*innen in die Verwaltung des neu gegründeten Völkerbundes. Inwieweit lässt sich dies auf unsere heutige Zeit übertragen?

NM: Vor allem in den USA gibt es heute einen sehr starken Austausch an Wissen und Personal zwischen dem von Janis bereits genannten OFAC, dem Finanzministerium, diversen Abteilungen im Außenministerium, die für die Sanktionspolitik zuständig sind, und den Rechts- und Finanzsektoren an der Wall Street. Positiv gesehen wird dadurch Fachwissen zugänglich gemacht – negativ betrachtet ist es eine Art Drehtür. 

Der enge Austausch hat damit zu tun, dass die Sanktionspolitik in den USA viel umfassender und kleinteiliger gesetzlich geregelt ist als beispielsweise in Deutschland. In den USA sind die Compliance-Abteilungen der Unternehmen sehr wichtig. Die Folge ist, dass US-Unternehmen führend sind, was das Wissen über den Umgang mit Sanktionen angeht. Aus meiner Sicht ist das einer der Gründe, warum europäische Unternehmen oft von den technischen Aspekten der Sanktionen überrumpelt werden. Sie haben einfach kein Insiderwissen darüber, wie Sanktionspolitik in Washington zustande kommt. 

Die Kehrseite ist, dass bestimmte technische Aspekte, z.B. SWIFT, politisch verstärkt werden, weil Anwälte und Finanzleute diese Dinge fürchten. Auch gibt es in den USA viel weniger Menschen, die zum Beispiel die globale Bergbauindustrie oder die Aluminiummärkte wirklich verstehen. Als 2018 das russische Aluminiumkonglomerat Rusal mit Sanktionen belegt wurde, wusste plötzlich niemand, warum die Londoner Metallbörse verrückt spielt

SH: Die Debatte um Sanktionen wird oft von Think Tankern dominiert, die meist nah an der Tagespolitik agieren. Was können Historiker*innen zum Verständnis von Sanktionen beitragen?

NM: Es scheint Think Tankern und politischen Entscheidungsträger*innen zuweilen schwer zu fallen, den radikalen historischen oder sogar weltgeschichtlichen Charakter ihrer eigenen Zeit zu erfassen. Mit Trotzki könnte man sagen: Sie sind vielleicht nicht an der Geschichte interessiert, aber die Geschichte an ihnen. Gleichzeitig ist die Geschichtswissenschaft ein wenig aus der Mode gekommen, da die akademische Forschung im Allgemeinen in den letzten Jahrzehnten durch neue, Historiker*innen oft fremde Methoden enorme Fortschritte gemacht hat. Wir befinden uns allerdings in einer Zeit, in der sich etablierte Modelle und Grundannahmen über die Welt als problematisch erweisen und teilweise innerhalb von Wochen oder Monaten radikal verändern. Russlands Invasion der Ukraine zeigt - und vielleicht bin ich hier etwas altmodisch -, dass einige traditionellere Ansätze in der Geschichtswissenschaft immer noch ihre Berechtigung haben. Strukturforschung ist immer gut, aber manchmal bleibt es auch wichtig herauszufinden, warum große Ereignisse stattfinden und was mächtige Persönlichkeiten denken und tun. 

Wir müssen verstehen, was in Putins Kopf vorgeht, wenn er von seinen Technokraten all dieses Material über die Folgen von Sanktionen vorgelegt bekommt und sich trotzdem für einen Krieg entscheidet. Davon ist das Schicksal von Millionen von Menschen betroffen. Zudem interessieren sich derzeit viele dafür, was die Lehren der 1930er Jahre mit Blick auf die aktuelle Situation mit China sind. 

SH: Bleiben wir für einen Moment bei China und dem Globalen Süden. Einige kritisieren, dass die Ausbreitung von Sanktionen im 20. Jahrhundert auf Kosten wichtiger Normen der internationalen Politik wie der Neutralität oder dem Schutz der Zivilbevölkerung ging. Auch heute scheinen unsere Sanktionen den Globalen Süden indirekt zu treffen. Hat dieser nicht ein Recht darauf, von unserer Sanktionspolitik verschont zu bleiben?

JK: Der Globale Süden ist gegenwärtig in zweierlei Hinsicht negativ betroffen: durch steigende Getreidepreise sowie den Umstand, dass Europa viel Flüssiggas auf dem Weltmarkt aufkauft. Diese Auswirkungen sind jedoch eine Folge des russischen Kriegs und nicht der Sanktionen. Es war Russland, das einen großen Teil der ukrainischen Getreideproduktion zerstört, zwischenzeitlich den Export aus ukrainischen Häfen gestoppt und seine Gaslieferungen nach Europa eingestellt hat. Bis auf die Düngemittelproduktion gibt es keine direkten Sanktionen gegen die russische Agrar- oder Lebensmittelindustrie.

Ich bin der Meinung, dass der Globale Süden, wenn er die eigenen Interessen in den Mittelpunkt stellen würde, sich vielleicht sogar den Sanktionen anschließen sollte. Denn es ist genau die Art von Krieg, die Russland begonnen hat, die Getreide und Gas teuer macht, und außerdem noch das internationale Regelwerk torpediert, auf das gerade die militärisch weniger dominanten Staaten angewiesen sind.

Was das Recht auf eine Welt ohne Sanktionen betrifft, sehe ich die Sache etwas anders: Sanktionen sind letztlich nichts als die Weigerung, wirtschaftlich mit dem Angreifer in diesem Krieg zu kooperieren. Würden wir dieses Recht auf sogenannte Neutralität vollkommen ernst nehmen, würde das bedeuten, dass wir die Verpflichtung haben, mit Russland wirtschaftlich zusammenzuarbeiten, ihm also sogar noch unter die Arme zu greifen – trotz des Kriegs und der nuklearen Drohungen, die Russland gegen uns ausspricht.

NM: Das ist ein wichtiger Punkt. Der Krieg konfrontiert uns mit dem grundlegenden Konflikt zwischen dem internationalen Staatensystem und der Weltwirtschaft. Unsere derzeitige internationale Ordnung fußt auf dem Prinzip international anerkannter Grenzen. Die meisten Länder des Globalen Südens haben, auch wenn sie sich den Sanktionen nicht angeschlossen haben, gezeigt, dass ihnen dieses Prinzip wichtig ist, indem sie die Invasion als Verletzung des Völkerrechts verurteilt haben. Der Grund, warum nur 141 von 181 Ländern in der UNO die Aggression verurteilen und nur etwas mehr als 30 sich den Sanktionen angeschlossen haben, ist, dass die internationale Staaten- und Rechtsordnung der souveränen Gleichheit auf einer sehr hierarchischen Weltwirtschaft beruht. Die materielle Lage vieler Länder des Globalen Südens erlaubt es einfach nicht, sich an den Sanktionen zu beteiligen.

Es ist mir daher wichtig zu betonen, wie notwendig Unterstützung für Länder ist, auf die wir Einfluss nehmen wollen. Auch Russland tut dies nicht wirklich. Das einzige Land, das die Bedeutung positiver wirtschaftlicher Ressourcen als Mittel der Einflussnahme versteht, ist China. Aus dieser Perspektive ist die Belt and Road Initiative (BRI) eine große Erfolgsgeschichte. In einer Zeit enormer Veränderungen war es China, das dem Globalen Süden in den letzten Jahrzehnten Zusammenarbeit und finanzielle Ressourcen ohne Bedingungen anbot. Der Westen hingegen kam mit Strukturanpassungsprogrammen und sehr dicken Regelwerken. Tatsächlich befindet sich der Globale Süden in einer interessanten und vorteilhaften Position. China und der Westen wetteifern gewissermaßen darum, wer einem Land wie Sambia oder Indonesien das bessere Angebot machen kann. Diese Länder versuchen, Vorteile zu nutzen, indem sie den Westen und seine Gegner gegeneinander ausspielen.

Der Globale Süden befindet sich in einer interessanten und vorteilhaften Position. China und der Westen wetteifern gewissermaßen darum, wer einem Land wie Sambia oder Indonesien das bessere Angebot machen kann.

SH: Lassen Sie uns utopisch enden. Unter welchen Bedingungen kann Russland in die Weltwirtschaft zurückkehren?

JK: Russland hat die Weltwirtschaft nicht wirklich verlassen. Meiner Meinung nach wird es noch sehr, sehr lange dauern, bis die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Sanktionen gegeben sind. Bis dahin werden sich einige Sektoren in Russland stärker in andere Teile der Weltwirtschaft integrieren, insbesondere mit China. Diese neue Integration wird Russland verändern: Es wird mehr als bisher zu einem tatsächlichen Petrostaat werden und weniger selbst produzieren, denn komplexe Produktionsprozesse in einer stark sanktionierten Wirtschaft sind einfach nicht überlebensfähig.

Die Phase der wirtschaftlichen Offenheit in den letzten 30 Jahren war für Russland im Nachhinein betrachtet dann vermutlich eher eine Ausnahme. Gleichzeitig ist Russland auch unter den westlichen Sanktionen immer noch vergleichsweise offen für andere Regionen der Welt. Wir sollten auch nicht vergessen, dass es immer noch viele westliche Unternehmen in Russland gibt. Insgesamt glaube ich jedoch, dass es zukünftig eine noch stärkere Abkopplung geben wird. Nach wie vor treffen Unternehmen die Entscheidung, Russland endgültig zu verlassen.

NM: Ich hoffe wirklich, dass die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt werden kann. Das allein ist bereits sehr voraussetzungsreich. Möglicherweise lässt sich politisch ein Ergebnis skizzieren, welches innerhalb der russischen Elite auf genügend Zustimmung stößt und eine interne Umstrukturierung bewirkt. Das Ergebnis müsste sein, dass die Ukraine und der Westen darauf vertrauen können, dass Putin Krieg als Mittel der Politik ausschließt. In der Folge würden dann vielleicht auch die Sanktionen aufgehoben werden.

Realistischer ist jedoch Folgendes: Ich sehe die Gefahr, dass ein „Saddam-Effekt“ eintritt. Der Golfkrieg von 1990/91, der ebenfalls ein Angriffskrieg war, auf den eine Resolution des UN-Sicherheitsrates und die Verurteilung der Invasion von Saddam Hussein folgte, führte zu sehr umfassenden Sanktionen gegen den Irak. Im Zuge dessen gab es eine komplexe Vereinbarung zwischen Frankreich, Großbritannien und den USA, die es in der Praxis unmöglich machte, Bedingungen für die Aufhebung der Sanktionen festzulegen. Obwohl es ab einem bestimmten Zeitpunkt gar keine irakische Besetzung mehr gab und der Irak bereits Reparationszahlungen an Kuwait geleistet hatte, kam es nicht zu einer Aufhebung der Sanktionen. Der Grund dafür war, dass das irakische Regime immer noch eine Diktatur war und der Westen unter anderem eine politische Liberalisierung im Irak, die Freilassung von Gefangenen und die Verbannung bestimmter Waffensysteme forderte.

Ich kann mir jede Menge Forderungen vorstellen, die die Diskussion über die Bedingungen für die Aufhebung der Russland-Sanktionen verkomplizieren, selbst wenn es zu einem Verhandlungsergebnis zwischen der Ukraine und Russland kommen sollte. Europa steht meiner Meinung nach vor einigen schwierigen Entscheidungen. Es könnte sein, dass wir weniger als die vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine akzeptieren müssen, um die Integration der Ukraine in den Westen, vor allem in die EU, zu beschleunigen. 

Es könnte sein, dass Europa weniger als die vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine akzeptieren muss, um die Integration der Ukraine in den Westen zu beschleunigen.

JK: Es ist interessant, dass niemand von uns davon ausgeht, dass das europäische Engagement für die Ukraine und das westliche Sanktionsregime gegen Russland zusammenbrechen. Fragt man dieser Tage russische Analysten nach Prognosen, ist das am häufigsten genannte Szenario der Zusammenbruch des Westens und der EU.

NM: In der Tat. Es ist eine positive Überraschung, wie eng die EU zusammengehalten hat. Das ist auch notwendig, denn um die Ukraine in ein europäisches Südkorea zu verwandeln, bedarf es immenser Ressourcen und nachhaltiger politischer Anstrengungen. Ich bin diesbezüglich aber optimistisch: Wenn man sich anschaut, was die EU in den letzten drei Jahrzehnten in Osteuropa getan hat, dann gibt es eine Menge Entwicklungserfolge zu verzeichnen. Die Europäer sollten viel stolzer auf das sein, was sie für Osteuropa getan haben, als die Amerikaner auf den Marshallplan in den 1940er Jahren, der vor allem eine gute PR-Aktion war. Die langfristige Herausforderung besteht darin, dass die Ukraine mehr als ein Jahrhundert lang Teil einer Wirtschaftszone war, die auf Russland ausgerichtet war. Wenn wir versuchen wollen, die Integration in Richtung Westen zu verändern, wird dies große Anstrengungen erfordern.

Aus dem Englischen von Sebastian Hoppe.

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